18 Juli 2023

Neuer Schwung für die Bürgerbeteiligung in Europa

Von Dominik Hierlemann und Stefan Roch
Orchestergraben

Eine solide Infrastruktur ist der Schlüssel zu wirksamer Bürgerbeteiligung. Alle Instrumente müssen funktionieren, einzeln und im Zusammenspiel.

Die Demokratie in Europa ist unter Druck – und macht eher Rück- als Fortschritte. Unter diesem Eindruck, hat die von-der-Leyen-Kommission den Slogan „Neuer Schwung für die Demokratie in Europa“ 2019 zu einer ihrer sechs Prioritäten erklärt. Seitdem hat die EU die Konferenz über die Zukunft Europas durchgeführt und mit innovativen Beteiligungsformaten experimentiert. Ein Ergebnis: Die Kommission will künftig regelmäßig Bürger:innen an Europäischen Bürgerpanels beteiligen. Sie hat zudem einen Aktionsplan für Demokratie auf den Weg gebracht, der unter anderem zu einem Gesetzespaket zur Stärkung der Demokratie und zum Schutz von Wahlen sowie zum Europäischen Medienfreiheitsgesetz geführt hat.

Bürger:innen fühlen sich außen vor

Doch während die Kommission ihre Demokratie-Agenda vorantreibt, fühlen sich die Bürger:innen weiterhin außen vor. Laut Eurobarometer glauben nur 43 Prozent, dass ihre Stimme in der EU zählt. Das liegt nicht daran, dass es die Bürger:innen nicht interessiert was auf EU-Ebene geschieht. Im Gegenteil: Als die Bertelsmann-Stiftung im Jahr 2020 mithilfe von eupinions die europäischen Bürger:innen befragte, gaben 78 Prozent der Befragten an, sich mehr Mitspracherecht in der EU zu wünschen.

Auf die Frage, was sie davon abhält, sich stärker an der EU-Politik zu beteiligen, lautete die häufigste Antwort: „Ich glaube nicht, dass es einen ausreichenden Unterschied machen würde“ (32 Prozent), gefolgt von: „Ich weiß nicht genug über europäische Politik“ (29 Prozent). Die europäischen Bürger:innen wünschen sich eindeutig eine demokratischere EU, an der sie sich aktiv beteiligen können. Aber wenig von dem, was die EU in letzter Zeit getan hat, scheint sie davon überzeugt zu haben, dass dies möglich ist.

Mühsame Bestrebungen zur Demokratisierung der EU

Im Laufe ihrer Geschichte hat die EU mehrere Schritte unternommen, um „demokratischer“ zu werden. 1958 wurde die erste Petition an die Gemeinsame Versammlung eingereicht, 1979 fanden die ersten Europawahlen statt, 1995 wurde das Amt des Europäischen Bürgerbeauftragten geschaffen, 2009 führte der Vertrag von Lissabon die Europäische Bürgerinitiative ein, 2012 begannen die EU-Bürgerdialoge, und 2022 wurden die Europäischen Bürgerforen ins Leben gerufen. Es scheint, dass keine dieser Neuerungen (mit Ausnahme der Europawahlen) das demokratische Ansehen der EU bei ihren Bürger:innen wesentlich verbessert hat. Warum ist das so?

Die EU weist zweifellos ein Ungleichgewicht zwischen indirekter und direkter demokratischer Legitimation auf – ein Thema, das seit Jahrzehnten diskutiert wird. Vor allem in den 1990er Jahren gab es eine Debatte über das „Demokratiedefizit“ der EU, die sich, laut Jan Werner Müller, um die Idee drehte, dass die EU zwar weitreichende Entscheidungen treffen kann, die ihre Bürger:innen betreffen, diese aber nicht „zwischen verschiedenen politischen Programmen für die EU als Ganzes“ wählen können.

Diese Debatte ist wichtig, lässt aber einen wichtigen Aspekt außen vor: das Fehlen einer kohärenten partizipativen Infrastruktur in der EU. Zu wissen, was es gibt und wie man Partizipationsinstrumente nutzen kann, um die eigenen EU-Bürgerrechte auszuüben, ist der Schlüssel zu demokratischem Engagement. Was derzeit existiert, ist keine partizipative Infrastruktur, sondern eher ein Flickenteppich lose verknüpfter Beteiligungsinstrumente..

Problematischer Status quo: Ein lose verknüpfter Flickenteppich

In unserer 2022 veröffentlichten Studie „Under Construction: Citizen Participation in the European Union“ zeigen wir gemeinsam mit dem European Policy Centre, dass die EU über ein bemerkenswert vielfältiges Portfolio an Bürgerbeteiligungsinstrumenten verfügt – mehr als die meisten Mitgliedstaaten. Wir haben 59 EU-Demokratieexpert:innen befragt, um herauszufinden, wie gut diese Instrumente funktionieren. Die meisten (54 Prozent) stimmten zu, dass die geeigneten Instrumente vorhanden sind. Aber eine Mehrheit denkt auch, dass sie derzeit nicht so funktionieren, wie sie sollten (75 Prozent), dass sie nicht ausreichend bekannt sind und genutzt werden (95 Prozent) und dass es den EU-Institutionen nicht genug gelingt, Bürgerbeteiligung zu fördern (83 Prozent).

Die meisten Instrumente sind recht gut konzipiert. Die Bürger:innen haben jedoch nur eine vage Vorstellung von ihnen, und die EU hat, abgesehen von den Europawahlen, wenig unternommen um die Öffentlichkeit auf sie aufmerksam zu machen. In der Vergangenheit war die EU sehr darauf bedacht den Bürger:innen ihre Errungenschaften zu vermitteln, aber eher zögerlich darin sie in deren Umsetzung einzubeziehen.

Die meisten Beteiligungsinstrumente führen auf europäischer Ebene ein Schattendasein. Wie im Fall der Europäischen Bürgerinitiative werden sie zunächst mit einigem Rummel eingeführt, erhalten dann aber wenig Aufmerksamkeit und Unterstützung und werden für die politischen Prozesse der EU weitgehend irrelevant. Ja, es wurden erhebliche Fortschritte erzielt: das Europäische Parlament hat an Macht- und die Europawahlen an Aussagekraft gewonnen. Aber wenn es um Bürgerbeteiligung geht, werden weiterhin neue Instrumente schlichtweg an alte angereiht, mit wenig Kontext, kaum Verknüpfungen, mit anfänglichen Hype der genauso schnell abflacht wie er begonnen hat.

Reformziel: Eine vollständig integrierte EU-Beteiligungsinfrastruktur

Eine solide Infrastruktur ist der Schlüssel zu sinnvoller und wirksamer Bürgerbeteiligung. Alle Instrumente müssen funktionieren, sowohl einzeln als auch im Zusammenspiel. Alle Instrumente benötigen Ressourcen wie Finanzierung, politische Unterstützung und öffentliche Aufmerksamkeit, um wirkungsvoll zu sein. Die meisten Instrumente können diese Ressourcen nicht aus eigener Kraft aufbringen, sondern nur durch eine funktionierende Infrastruktur.

Jedes EU-Beteiligungsinstrument hat Stärken, Schwächen und ganz unterschiedliche Einsatzgebiete. Wahlen sind für die meisten Bürger:innen der Einstieg in die Beteiligung. Die Europäische Bürgerinitiative kann, wenn sie richtig eingesetzt wird, ein hervorragendes Instrument zum Bottom-up-Agendasetting sein. Petitionen sind ein potenziell starkes Instrument für die tägliche Interaktion zwischen dem Europäischen Parlament und seinen Bürger:innen. Die Europäische Bürgerbeauftragte übt eine wichtige Wächterfunktion über die europäischen Institutionen und ihre Beziehungen zu den EU-Bürger:innen aus. Bürgerdialoge können ein wirkungsvolles Dialogformat sein, bei dem EU-Politiker:innen sich direkt mit Bürger:innen austauschen. Öffentliche Konsultationen können eine Schlüsselrolle spielen, wenn es darum geht, Input der Bürger:innen für den politischen Prozess zu sammeln. Europäische Bürgerforen können genutzt werden, um Bürger:innen und politische Entscheidungsträger:innen einander näher zu bringen, wirklich transnationale politische Debatten zu fördern und die Qualität der Demokratie und Politik der EU zu verbessern“, wie wir in unserer jüngsten Veröffentlichung über die Institutionalisierung Europäischer Bürgerforen argumentieren.

Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass diese Vorteile zum Tragen kommen, wenn Instrumente wie die Bürgerforen im derzeitigen Flickenteppich von EU-Beteiligungsinstrumenten isoliert bleiben. Das volle Potenzial der Bürgerbeteiligung kann nur dann ausgeschöpft werden, wenn die Bürger:innen sich der Rolle eines Instruments im Verhältnis zu allen anderen bestehenden Instrumenten und seiner Auswirkungen auf die EU-Politikgestaltung bewusst sind.

Wandel der Kommunikation …

Die Hauptaufgabe der Infrastruktur sollte darin bestehen, Beteiligung sichtbar, einfach und zugänglich zu machen. Die EU muss eine klare und umfassende Strategie für die Bürgerbeteiligung festlegen, in der sie darlegt, was sie erreichen will, welche Rolle Bürgerbeteiligung im Verhältnis zu den zuständigen Institutionen und den politischen Prozessen der EU spielen soll, wie die Instrumente miteinander verbunden sind und, vor allem, welches Instrument für welchen Zweck eingesetzt werden soll. Die Strategie muss tief in der institutionellen und politischen Struktur der EU verankert sein. Sie muss darlegen, in welchen Phasen des politischen Entscheidungsprozesses welches Instrument eingesetzt werden soll.

In Verbindung mit dieser Strategie muss die EU einen kohärenten Kommunikationsplan entwickeln. Dies erfordert eine Verlagerung von der Kommunikation über spezifische Ziele und Instrumente hin zur Förderung der Bürgerbeteiligung als solcher. Die Strategie sollte sich darauf konzentrieren Begeisterung für Beteiligung zu wecken und die Bürger:innen zu ermutigen, die verschiedenen Möglichkeiten der EU-Beteiligung zu erkunden.

… und der politischen Kultur

Kultureller Wandel und politischer Wille sind ebenso erforderlich. Trotz verschiedener Forderungen nach mehr Demokratie ist Bürgerbeteiligung für viele politische Entscheidungsträger in Brüssel und den EU-Hauptstädten bestenfalls ein nice to have und nicht die Grundlage demokratischer Politik. Ohne die Bereitschaft aller relevanten EU-Institutionen, die Bürger:innen aktiv einzubeziehen, viel Zeit und Ressourcen in ihre Beteiligung zu investieren und ihnen die Auswirkungen der Beteiligung klar und glaubwürdig zu vermitteln, kann der derzeitige Flickenteppich an Beteiligungsinstrumenten nicht überwunden werden.

Schließlich ist es wichtig, dass sich alle zentralen EU-Institutionen zur Beteiligung verpflichten und diese koordinieren. Die Einführung der neuen Bürgerforen veranschaulicht dieses Problem. Wie die meisten anderen Instrumente sind auch die Foren derzeit in erster Linie bei der Kommission angesiedelt, obwohl die behandelten Themen für die gesamte EU von Bedeutung sind. Wie wir in unserer jüngsten Veröffentlichung dargelegt haben, wäre es im Interesse sowohl der Bürger:innen als auch einer effektiven Beteiligung, wenn die Foren mit allen wichtigen Institutionen verbunden wären. Ein stärkerer interinstitutioneller Ansatz würde der Stimme der Bürger:innen erhebliches politisches Gewicht verleihen und könnte ein großer Schritt hin zu einer partizipativeren EU-Politik sein.

Praktische Umsetzung: Ein Onlinehub für EU-Beteiligung

Obwohl in der Europäischen Kommission Pläne zur Schaffung einer neuen EU-Beteiligungsplattform kursieren und sie eine Ihre Meinung zählt“-Website betreibt, die hauptsächlich für öffentliche Konsultationen genutzt wird, ist das, was einem Beteiligungshub am nächsten kommt, ein Abschnitt der EU-Website mit dem Titel: Mitmachen, mitreden und wählen. Die Website besteht aus einer einfachen Auflistung der verschiedenen Instrumente, ohne kohärente Differenzierung und mit wenig bis gar keinen Informationen darüber, wofür die Instrumente genutzt werden können, was bereits erreicht wurde und woran sich die Bürger:innen derzeit beteiligen können.

Im Gegensatz dazu zeigen etwa die finnische Beteiligungsplattform Demokratia.fi und die taiwanesische Plattform Join.gov.tw, was möglich ist. Beide Hubs zeigen einen starken Willen, die Bürger:innen vom ersten Klick an einzubeziehen, indem sie kohärent bestehende Instrumente auflisten und laufende Aktivitäten präsentieren, und das alles in einer ansprechenden und äußerst nutzerfreundlichen Art und Weise.

Der Unterschied liegt nicht nur im Design, sondern auch in der politischen Substanz. Taiwan und Finnland sind Vorreiter in Sachen innovativer und effektiver Bürgerbeteiligung. Beispiele dafür sind die 2012 gegründete finnische Bürgerinitiative, die 2008 entwickelte finnische Plattform für virtuelle Politik und die Plattform vTaiwan. Ihr Engagement für Bürgerbeteiligung spiegelt sich direkt in der Gestaltung und Benutzerfreundlichkeit ihrer Beteiligungsplattformen wider.

Finnland und Taiwan als Vorbilder

Wie könnte ein EU-Beteiligungshub aussehen? Wie in den Beispielen aus Finnland und Taiwan muss die Absicht der EU, den Bürger:innen zuzuhören und sie einzubeziehen, klar zum Ausdruck kommen. Alle Instrumente sollten in einem kohärenten System und mit einer intuitiven Logik präsentiert werden. Darüber hinaus gilt:

  1. Klare Informationen sind entscheidend. Die Plattform muss den Zweck, die Nutzung und die Auswirkungen der einzelnen Instrumente sowie die Beteiligung der EU-Bürger:innen als solche klar beschreiben. Die Bürger:innen sollten sich nicht mit der Komplexität der interinstitutionellen Beziehungen der EU und der Zuordnung der einzelnen Instrumente zu bestimmten Organen auseinandersetzen müssen, sondern durch die präsentierten Informationen ermutigt fühlen, sich direkt zu beteiligen. Der Hub sollte auch direkt Antworten auf Bürgerfragen geben, zum Beispiel durch den Einsatz eines KI-basierten Chatbots.
  2. Beteiligung sollte unmittelbar sein. Durch die Hervorhebung laufender Beteiligungsaktivitäten sollte der Hub zeigen, dass Beteiligung nicht nur ein abstraktes Recht ist, sondern konkret und jederzeit stattfindet. Bürger:innen sollten ermutigt werden sich direkt und unmittelbar zu beteiligen, ohne zusätzliche Barrieren.
  3. Die Vernetzung mit anderen Bürger:innen und Politiker:innen sollte eine zentrale Funktion sein. Der Hub sollte es den Bürger:innen ermöglichen, direkt mit EU-Politiker:innen und anderen Bürger:innen in Kontakt zu treten. Politiker:innen sollten regelmäßig auf dem Hub präsent sein, um virtuell mit Bürger:innen zu interagieren und für aktuelle und zukünftige Beteiligungsmöglichkeiten zu werben. Bürger:innen sollten die Möglichkeit haben, an virtuellen Chatrooms teilzunehmen, um direkt über Grenzen und Sprachbarrieren hinweg zu interagieren. Die jüngsten Fortschritte im Bereich der KI-gestützten Simultanübersetzung machen dies zunehmend möglich.

Zeit zu handeln

Insgesamt muss die EU ihr institutionelles Verständnis von Bürgerbeteiligung ändern. Nur wenn sie beginnt alle Instrumente als eine klare und funktionierende Infrastruktur zu begreifen, werden die Bürger:innen davon Notiz nehmen und die politischen Entscheidungsträger:innen sich dafür interessieren. Bleibt es bei einem Flickenteppich weitgehend isolierter Beteiligungsinstrumente, werden auch die vielversprechendsten Innovationen wie Bürgerpanels zu kurz greifen.

Die Europäische Kommission kann das nicht allein, das Parlament und vor allem der Rat müssen mit an Bord. Sie haben es auf der Konferenz zur Zukunft Europas versprochen, jetzt müssen sie es einlösen. Über die Einbeziehung der Bürger:innen zu reden, ist seit einiger Zeit eine Konstante in der politischen Kommunikation der EU, aber wenn die Einbeziehung wirklich stärker und besser werden soll, ist dafür eine konzertierte und nachhaltige Anstrengung aller Institutionen nötig.

Es ist recht simpel: Um eine immer enger zusammenwachsende Union zu erreichen, dürfen die europäischen Bürger:innen nicht länger auf Abstand gehalten werden.

Dominik Hierlemann ist Senior Advisor und Leiter des Programms Demokratie und Zusammenhalt der Bertelsmann-Stiftung.
Stefan Roch ist Project Manager im Projekt New Democracy der Bertelsmann-Stiftung.

Dieser Beitrag ist Teil des Themenschwerpunkts „Überstaatliches Regieren zwischen Diplomatie und Demokratie – aktuelle Debatten um die Reform der EU“, der in Zusammenarbeit mit dem Online-Magazin Regierungsforschung.de erscheint.


Übersetzung: Yannik Uhlenkotte.
Bilder: Orchestergraben: Codersquid [CC BY-SA 2.0], via Flickr; Porträts Stefan Roch, Dominik Hierlemann: privat [alle Rechte vorbehalten]; Europaflagge: Arno Mikkor (EU2017EE) [CC BY 2.0], via Flickr.

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