- Hören wir auf, über das Spitzenkandidatenverfahren zu streiten, und sprechen wir dafür mehr über die Kandidat:innen selbst!
Die Europawahl 2024 kommt näher, und bald wird wieder Spitzenkandidatensaison sein. Zum dritten Mal werden die meisten europäischen Parteien – mit Ausnahme der rechtsextremen ID und EKR sowie der immer noch zögerlichen Liberalen – Kandidat:innen für die Kommissionspräsidentschaft nominieren. Obwohl bislang noch keine Interessent:innen ihre Bereitschaft zu einer Kandidatur öffentlich gemacht haben, verspricht das Rennen schon jetzt spannend zu werden. Wenn Ursula von der Leyen für die Europäische Volkspartei antritt, wäre es die erste Wahl, bei der eine Amtsinhaberin kandidiert. Und auch bei den Sozialdemokrat:innen gibt es einige prominente potenzielle Kandidat:innen, darunter etwa die frühere finnische Premierministerin Sanna Marin.
Dennoch scheint es, als ob sich auch diesmal die öffentliche Debatte weniger um die Kandidat:innen als um das Verfahren selbst drehen könnte. Das Recht, die Kommissionspräsident:in dem Europäischen Parlament vorzuschlagen, liegt formell bei den Staats- und Regierungschef:innen im Europäischen Rat, von denen sich viele bis heute nicht mit der verstärkten Rolle der europäischen Parteien abgefunden haben. Infolgedessen entkommt kaum eine Diskussion über die Spitzenkandidat:innen der Frage, ob das Verfahren diesmal „erfolgreich sein“ oder „scheitern“ (oder gar „sterben“) wird, wenn der Europäische Rat sich weigert mitzuspielen.
Offene Fragen
Es ist allerdings nicht nur der Europäische Rat, der Zweifel an den Spitzenkandidat:innen schürt. Selbst die Verfechter:innen des Verfahrens scheinen sich oft uneins darüber zu sein, was es eigentlich bedeutet: Ist dabei impliziert, dass der Europäische Rat automatisch die Kandidat:in der stärksten Partei als Kommissionspräsident:in vorschlägt? Oder sollten die Staats- und Regierungschef:innen überprüfen, wer von einer Mehrheit im Europäischen Parlament unterstützt wird? Oder könnte sogar jede beliebige Spitzenkandidat:in, die sich eine qualifizierte Mehrheit im Europäischen Rat sichert, die Nominierung erhalten?
Diese offenen Fragen wurden von den Gegner:innen des Verfahrens genutzt, um es als eine unausgereifte, umstrittene und untaugliche Idee darzustellen. Die weitverbreitete Verwendung der deutschen Bezeichnung Spitzenkandidaten auch in anderen Sprachen hat zusätzlich zu einer Exotisierung des Verfahrens beigetragen und den Eindruck erweckt, es handle sich um eine deutsche Erfindung, die den parlamentarischen Systemen anderer Mitgliedstaaten fremd sei. Das alles hat der öffentlichen Wahrnehmung der Spitzenkandidat:innen bei vergangenen Wahlen schwer geschadet: Warum sollten die Medien über ein ausgefallenes und bizarres Verfahren von zweifelhafter praktischer Relevanz berichten?
Gemeinsame Praktiken
Doch diese Sichtweise lässt außer Acht, dass das Spitzenkandidatenverfahren, mit all seinen offenen Fragen, in Wirklichkeit den gemeinsamen Praktiken in fast allen parlamentarischen Mehrparteiendemokratien ähnelt. Ob sie nun party leaders, lijsttrekkers oder candidati premier heißen: Es ist vollkommen normal, dass Parteien vor einer Wahl ankündigen, wen sie nach einer Wahl an der Spitze der Regierung sehen wollen. In manchen Ländern fällt diese Rolle nahezu automatisch den Parteivorsitzenden zu, in anderen wird darüber in Vorwahlen entschieden. Manchmal stehen die Spitzenkandidat:innen auf dem ersten Platz einer landesweiten Liste, manchmal treten sie nur in lokalen oder regionalen Wahlkreisen an. Aber es käme kaum einer großen Partei in den Sinn, eine nationale Wahl zu bestreiten, ohne eine Kandidat:in für das Amt der Regierungschef:in zu präsentieren.
Nach der Wahl ist es nicht unüblich, dass keine Partei eine eigene absolute Mehrheit hat und es deshalb zu Koalitionsverhandlungen kommt. In den meisten Fällen wird solch eine Koalition von der stärksten Partei angeführt und deren Kandidat:in wird die Chef:in der Exekutive. Das ist allerdings keine Selbstverständlichkeit und hängt immer von den Kompromissen ab, die zwischen den Parteien geschlossen werden. Derzeit gibt es mehrere EU-Länder, etwa die Tschechische Republik oder Schweden, in denen die Kandidat:in der zweit- oder sogar drittstärksten Partei zur Premierminister:in gewählt wurde. Und es gibt einige Länder, wie Belgien oder Bulgarien, in denen sich die Koalition darauf geeinigt hat, keine der Spitzenkandidat:innen zur Regierungschef:in zu machen, sondern eine andere Person, die für alle beteiligten Parteien akzeptabel ist.
Und schließlich ist auch in nationalen parlamentarischen Demokratien die Auswahl der Regierungschef:in nicht immer allein Sache des Parlaments. Oft spielen auch die Staatsoberhäupter eine formale Rolle – und manche von ihnen, wie die italienische Präsident:in, haben dabei sogar ein faktisches Vetorecht. In polarisierten Situationen, in denen sich die Parteien nicht auf eine Regierung einigen können, können Staatschef:innen vermittelnd auftreten und gegebenenfalls sogar eigene Vorschläge unterbreiten. Der Respekt vor dem demokratischen Prozess verlangt von ihnen jedoch, dabei zurückhaltend aufzutreten und sich dem Parlament nicht aufzudrängen.
Zeit, eine demokratische Normalität zu akzeptieren
All das lässt sich sehr einfach auf die EU übertragen. In einer europäischen parlamentarischen Demokratie ist es nur natürlich, dass europäische Parteien Spitzenkandidat:innen ernennen. Nach der Wahl wird in der Regel die Kandidat:in der stärksten Partei die beste Chance haben, Kommissionspräsident:in zu werden, doch das hängt immer von der Parlamentsmehrheit ab. Wenn Verhandlungen zwischen den Parteien ins Stocken geraten, kann und sollte der Europäische Rat als das „kollektive Staatsoberhaupt der EU“ eingreifen – aber unter Achtung und zur Unterstützung des parlamentarischen Prozesses, nicht in Konfrontation zu ihm.
Und wenn die Gespräche zuletzt in einen Kompromiss münden, bei dem eine Person gewählt wird, die nicht zuvor als Spitzenkandidat:in angetreten ist, dann sollte dies nicht als der „Tod“ des Verfahrens angesehen werden. Wie in jeder Demokratie kann es vorkommen, dass eine Außenseiter:in an die Spitze der Exekutive gelangt, doch der Parlamentarismus lebt weiter und die Parteien werden auch in Zukunft Spitzenkandidat:innen nominieren.
Der Erfolg oder das Scheitern des europäischen Spitzenkandidatensystems hängt nicht davon ab, wer genau bei einer bestimmten Wahl Kommissionspräsident:in wird. Er hängt davon ab, ob die Spitzenkandidat:innen in der Lage sind, Wahlkampagnen zu gestalten, den europäischen Parteien Sichtbarkeit zu verleihen und zu bedeutungsvolleren Wahlen beizutragen. Dafür ist es nötig, sie endlich als die demokratische Normalität zu akzeptieren, die sie sind. Es ist an der Zeit, nicht mehr über das Verfahren zu streiten, sondern mehr über die Kandidat:innen selbst zu sprechen.
Dieser Beitrag ist zuerst auf Englisch als FIIA Comment auf der Webseite des Finnish Institute of International Affairs erschienen.
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