- Der Weg zur europäischen Demokratie führt nicht über einzelne Europaabgeordnete, sondern über starke europäische Parteien.
Am
vergangenen Mittwoch stimmte
das Europäische Parlament mehrheitlich gegen gesamteuropäische
Europawahllisten
– also gegen einen
Vorschlag, den ich auf diesem Blog vor einem Dreivierteljahr als
einen
der „besten
Hebel, um langfristig die demokratische Legitimität und
gesellschaftliche Akzeptanz der EU zu stärken“, bezeichnet
habe. Mit
dieser Abstimmung dürfte der Vorschlag wenigstens für die
Europawahl 2019 gestorben sein. Zwar will die Europäische Kommission
in den nächsten Tagen ein Papier mit Vorschlägen für
institutionelle Reformen vorlegen, in denen sie möglicherweise erneut ihre Unterstützung für transnationale Listen erklären wird.
Und auch bei dem informellen Treffen des Europäischen Rats am 23.
Februar könnte diese Idee, die unter anderem von den Regierungen
Frankreichs, Italiens und Spaniens befürwortet wird, noch einmal
Thema sein.
Doch ohne die
Zustimmung des Parlaments kann das Europawahlrecht nicht reformiert
werden – und auch auf
symbolischer Ebene ist die Ablehnung ausgerechnet jener Institution,
der doch am meisten an einer Demokratisierung der EU gelegen sein
sollte, natürlich fatal.
Dagegen: Christdemokraten, Nationalkonservative, Rechte
Dass
damit die Debatte über gesamteuropäische Listen für alle Zeiten
erledigt wäre, ist allerdings auch nicht zu erwarten.
Ausschlaggebend für die Ablehnung im Parlament war eine Allianz aus
Christdemokraten, nationalkonservativen
und rechten Parteien, während die
Linksfraktion gespalten war und Sozialdemokraten,
Liberale und Grüne mehrheitlich für den Vorschlag stimmten. (Eine
detaillierte Analyse des Abstimmungsverhaltens ist
hier zu finden.)
Wenn
bei der nächsten Europawahl – wie
die aktuellen Umfragen erwarten lassen – die christdemokratische EVP-Fraktion
deutlich an Sitzen verliert, während europafreundliche Liberale wie
Emmanuel Macrons LREM oder die spanischen Ciudadanos dazugewinnen,
könnten sich die Mehrheitsverhältnisse deshalb wieder zugunsten der
gesamteuropäischen Listen verschieben.
Zehn
Argumente der EVP
Und
in einer Hinsicht hatte die Abstimmung womöglich auch ihr Gutes: Zum
ersten Mal in der langen Debatte über gesamteuropäische Listen
machten sich deren Gegner die Mühe, ihre Argumente ausdrücklich zu
formulieren. Als 2012 schon einmal ein ähnlicher Vorschlag am
Widerstand der Christdemokraten gescheitert war,
hatten diese noch jede
öffentliche Stellungnahme vermieden. Diesmal hingegen
veröffentlichte die EVP vor der Abstimmung ein Facebook-Video
mit zehn Argumenten gegen die Reform.
Dadurch
besteht nun immerhin eine Möglichkeit, sich inhaltlich mit der
Haltung der EVP auseinanderzusetzen. Sowohl die Union
Europäischer Föderalisten als auch eine fraktionenübergreifende
Gruppe von
Europaabgeordneten um Jo
Leinen (SPD/SPE) und Guy Verhofstadt (Open-VLD/ALDE)
haben das in den Tagen vor dem Votum getan und auf jedes einzelne der
zehn EVP-Argumente geantwortet.
Mir
selbst scheinen solche
Eins-zu-eins-Repliken
allerdings eine etwas fruchtlose Mühe zu sein:
Einige der Argumente, die die EVP anführt, sind kaum verständlich –
etwa die Behauptung, dass gesamteuropäische Listen „ein elitärer
Top-Down-Ansatz“ wären oder dass es „unklar wäre, welchen
Bürgern die auf diesen Listen gewählten Abgeordneten eigentlich
verantwortlich sind“. Andere
entbehren jeder Evidenz – etwa dass populistische Bewegungen durch
gesamteuropäische Listen
größere Sichtbarkeit gewinnen
und sogar die größte Fraktion im Europäischen Parlament werden
könnten. Solange
die Gegner gesamteuropäischer Listen hierzu keine besseren
Begründungen liefern, lohnt es sich kaum, sich mit solchen
Scheinargumenten auseinanderzusetzen.
Es
geht darum, wie europäische Demokratie überhaupt funktioniert
Ich
will mich hier deshalb auf zwei spezifische Argumente konzentrieren,
die beide in der Debatte zuletzt sehr häufig zu hören waren. Das
erste dieser Argumente (Nr. 1 auf der EVP-Liste) betrifft die Behauptung, gesamteuropäische
Listen seien „bürgerferner“ als die bestehenden nationalen
Sitzkontingente und würden die Verbindung zwischen Wählern und
Abgeordneten schwächen. Das zweite (Nr. 10 der EVP) verweist darauf,
dass es auch in nationalen Bundesstaaten
wie Deutschland meist
keine gesamtstaatlichen
Wahllisten gibt; es gebe deshalb keinen Grund, entsprechende
Verfahren nun auf europäischer Ebene einzuführen.
Diese
beiden Argumente scheinen
mir vor allem deshalb interessant, weil sie – auch über den
spezifischen Konflikt um die gesamteuropäischen Listen hinaus – die
Frage berühren, wie eine europäische Demokratie überhaupt
funktionieren und politische Legitimität gewinnen kann.
Tatsächlich scheint mir, dass die EVP hier einem gravierenden
Irrtum über die Bedingungen moderner politischer Öffentlichkeit
unterliegt. Sie verkennt deshalb die
eigentlichen Herausforderungen, vor denen die EU als überstaatliche
Demokratie heute steht.
Sind
gesamteuropäische Listen „bürgerferner“ als nationale?
Aber
der Reihe nach: Die Grundannahme hinter dem ersten
Argument ist offenbar der Gedanke, dass kleinere geografische Einheiten stets näher am Einzelnen sind als größere. Die Region ist nach dieser Vorstellung „bürgernäher“ als der Nationalstaat, der Nationalstaat „bürgernäher“ als die EU –
woraus nach dem Subsidiaritätsprinzip
folgt, dass politische Entscheidungen stets auf einer möglichst niedrigen Ebene getroffen
werden sollten.
Die
EVP überträgt diesen Gedanken nun auch auf das Wahlsystem: Ein Kandidat auf einer nationalen Liste repräsentiert eine kleinere geografische Einheit als ein Kandidat auf einer gesamteuropäischen Liste. Ist es deshalb
nicht naheliegend, dass die gesamteuropäischen Kandidaten
„bürgerferner“ wären? Was fängt ein schwedischer Wähler mit einem französischen Kandidaten
an, mit dem er womöglich nicht einmal eine gemeinsame Sprache teilt?
Und beschädigt es nicht die Legitimität des Europäischen Parlaments,
wenn auf diese Weise die direkte Verbindung zwischen Wählern und
Abgeordneten geschwächt wird?
Moderne
Demokratie beruht nicht auf direkten Kontakten
Was
dieses Argument allerdings übersieht, ist, dass diese direkte
persönliche Verbindung
zwischen Wählern und Abgeordneten zur Legitimierung des politischen
Systems in heutigen
Demokratien nur noch eine sehr untergeordnete Rolle spielt. In
den frühen Demokratien des 18. und 19. Jahrhunderts war das
noch anders: Abgeordnete
wurden damals meist auf lokaler Ebene gewählt (oft von einer kleinen
Gruppe wohlhabender Männer, die untereinander auch persönlich
bekannt waren) und repräsentierten ihren Wahlkreis dann in der fernen
Hauptstadt, wo sie für ihre Wähler zugleich als Sprachrohr und als
Informationsquelle dienten.
Mit
der Ausweitung des
Wahlrechts auf größere Bevölkerungsschichten und
dem Aufkommen der modernen
Parteien sowie der
Massenmedien änderte sich
dieser Mechanismus jedoch. Die
Wahrscheinlichkeit, dass Abgeordnete ihre Wähler persönlich kennen,
nahm drastisch ab (ausgenommen auf kommunaler Ebene, wo persönliche
Kontakte bis heute oft
eine entscheidende Rolle
spielen). Stattdessen
bilden Wähler sich ihre
politische Meinung über die Medien, in
denen allerdings nicht einzelne Abgeordnete, sondern die
unterschiedlichen Parteien und deren Spitzenpersonal die wichtigsten
Protagonisten sind.
Nationale
Parteichefs sind meist „näher“ als lokale
Abgeordnete
Gegensätze
zwischen Parteien sind deshalb der wichtigste Deutungsrahmen in
nahezu allen politischen Auseinandersetzungen in modernen
Demokratien, und zwar sowohl in der konkreten parlamentarischen
Arbeitsweise als auch in der öffentlichen Wahrnehmung. Tatsächlich
gibt es in den meisten Nationalstaaten viele Abgeordnete, die
gute Arbeit als Fachleute für ein bestimmtes Politikfeld leisten, im Wahlkampf aber weitgehend anonym bleiben.
Der
Legitimität des politischen Systems schadet das nicht, da
die meisten Bürger bei ihrer Wahlentscheidung ohnehin nicht an Einzelabgeordneten interessiert sind – sondern an dem Eindruck, den sie sich von der Gesamtpartei machen, und das heißt vor allem: von deren Spitzenpersonal. Den meisten Menschen sind deshalb die nationalen Parteichefs, die allabendlich über die Fernsehnachrichten ins Wohnzimmer kommen, „näher“ als ihr lokaler Abgeordneter, den sie oft nur
vom Namen her kennen.
Europäische
Parteien und europäische Öffentlichkeit stärken
Diese
gesellschaftliche Integrationsleistung der Parteien und der
Massenmedien ist für
Demokratien ab einer bestimmten Größe schon
deshalb unverzichtbar, weil mit wachsender
Bevölkerung die Möglichkeit zum direkten persönlichen Austausch zwischen Wählern
und Gewählten abnimmt. Um das an einem Zahlenbeispiel zu verdeutlichen: Das
Europäische Parlament umfasst heute 751 Mitglieder,
was bei rund 500 Millionen EU-Bürgern einer Quote von etwa
650.000 Bürgern pro Abgeordnetem entspricht. Selbst wenn jeder
Europaparlamentarier Tag und Nacht nichts anderes täte als Bürger zu treffen, könnte jeder Bürger in der fünfjährigen Wahlperiode
des Parlaments nicht einmal fünf Minuten allein mit einem Abgeordneten
verbringen.
Die
Vorstellung, man könnte die demokratische Legitimation der Europaabgeordneten über direkte persönliche Kontakte entscheidend
verbessern, führt also auf einen verfassungspolitischen
Irrweg. Worauf es ankommt, ist vielmehr die Stärkung jener intermediären
Strukturen, ohne die moderne Demokratien auch auf nationaler Ebene nicht
funktionieren würden: die politischen Parteien und die Medien, die die politische
Öffentlichkeit herstellen. Sie sind es, die der Parlamentswahl – für den größten Teil der Bevölkerung das mit Abstand wichtigste
Instrument politischer Teilhabe – ihre Bedeutung geben. Und damit sind sie auch die
eigentlichen Garanten für die „Bürgernähe“
des politischen Systems.
Nationalstaaten haben integrierte Parteien und Medien – die EU nicht
An dieser Stelle kommt nun das zweite Argument der EVP ins Spiel: Warum sollte man auf EU-Ebene
gesamteuropäische Listen brauchen, wenn doch auch die meisten
Nationalstaaten ohne sie auskommen? Die
Antwort auf diese Frage lautet einfach: Weil es in den meisten Nationalstaaten bereits ein
etabliertes gesamtstaatliches Parteiensystem und eine nationale
Medienöffentlichkeit gibt, während beides in der EU noch in den Kinderschuhen steckt.
Wenn also die deutsche Bundestagswahl über regionale Landeslisten erfolgt, so ändert das nichts daran, dass die
meisten Menschen sich darüber in nationalen Medien informieren und
den Wahlkampf als eine Auseinandersetzung zwischen nationalen
Parteien erleben. Wer genau diese oder jene Landesliste anführt, interessiert kaum einen Wähler.
Im Vordergrund stehen vielmehr nationale
Spitzenpolitiker (die Kanzlerkandidaten der Parteien, gegebenenfalls noch einige Minister
oder Fraktionschefs) und Themen, die Deutschland als Ganzes betreffen.
Europäische
Listen wären ein
geeignetes Instrument
Wenn hingegen die Europawahl über nationale Listen ausgetragen wird, so
liegt es für die nationalen Medien nahe, im Wahlkampf auch nur über
die nationalen Parteien zu berichten – wodurch die europäischen Spitzenpolitiker
außerhalb ihres jeweiligen Herkunftslandes kaum Sichtbarkeit
gewinnen können und auch gesamteuropäische Themen oft auf der Strecke bleiben. Will
man das ändern, so hat es keinen
Sinn, auf die Medien zu schimpfen, die nur der Logik des Nachrichtenwerts folgen.
Wer
eine gesamteuropäische politische Öffentlichkeit erzeugen will, der muss vielmehr die europäischen Parteien stärken: Nur sie könnten einen genuin gesamteuropäischen Europawahlkampf führen, der auch für die Medien interessant ist. Gesamteuropäische Listen, durch die sich die Macht über die Kandidatenauswahl teilweise von den nationalen auf die
europäischen Parteien verschoben hätte, wären ein geeignetes Instrument dafür – ein Instrument, das in integrierten Nationalstaaten nicht notwendig ist, in der EU mit ihrem national fragmentierten Mediensystem hingegen
schon.
(Und
nebenbei gesagt: In Wirklichkeit haben durchaus mehrere EU-Mitgliedstaaten auf
nationaler Ebene gesamtstaatliche Wahllisten, zum Beispiel
Polen,
Österreich oder
Griechenland.
Allerdings haben Wähler hier meist nur eine Stimme, mit der sie
gleichzeitig eine regionale und eine nationale Liste derselben
Partei wählen. Die nationale Liste dient dabei zum gesamtstaatlichen
Verhältnisausgleich, ähnlich wie ich das hier auch für die EU vorgeschlagen habe.)
Die
Debatte ist zu wichtig für simplistische Schlagwörter
Mit dem Votum am vergangenen Mittwoch hat die
christdemokratisch-nationalkonservativ-rechtspopulistische Mehrheit im Europäischen
Parlament der Idee gesamteuropäischer Listen einen schweren Schlag versetzt. Doch
die Auseinandersetzung wird weitergehen, künftig hoffentlich auf
einem höheren argumentativen Niveau.
Denn die Debatte über die europäische Demokratie ist zu wichtig, um sie mit
simplistischen Schlagwörtern wie „Bürgernähe“ zu führen. Wir müssen uns vielmehr Gedanken darüber machen, auf
welche Weise wir die existierenden nationalstaatlichen Mechanismen
sinnvoll auf die europäische Ebene übertragen können, wo die besonderen europäischen Herausforderungen liegen und wie sie
sich meistern lassen. Ein bloßes Verteidigen des Status quo ist dabei keine Lösung. Nur durch kluge Innovationen wie die gesamteuropäischen Listen wird die Europäische Union die demokratische Legitimität gewinnen können, die sie für ihren Fortbestand braucht.
Bild: Eigenes Foto.
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