25 Februar 2016

Kerneuropa?

Steckt in der harten Schale der EU ein guter Kern?
Im Westen lassen sich die Briten eine Extrawurst nach der nächsten servieren. Im Norden sind die Skandinavier ebenfalls nur widerwillig dabei. Im Osten verweigern sich die Visegrád-Staaten einer solidarischen Lösung der Flüchtlingskrise – ganz abgesehen davon, dass in einigen von ihnen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit immer mehr unter Druck geraten. Und im Süden grassiert die Massenarbeitslosigkeit und die nationalen Regierungen, die in der Eurokrise den Kurs der europäischen Institutionen mitgetragen haben, verlieren eine Wahl nach der nächsten. Kein Wunder also, dass sich im Zentrum der EU, speziell in den beiden größten Mitgliedstaaten Deutschland und Frankreich, in letzter Zeit Frustration ausbreitet.

Gerade von Menschen, die es mit der europäischen Einigung gut meinen, hört man immer öfter, dass die Integration zu 28 offenbar so nicht funktionieren kann. Die EU scheint zu heterogen geworden zu sein, die Probleme und Zielvorstellungen der einzelnen Länder zu unterschiedlich, die Blockademöglichkeiten zu groß. Die Hoffnung auf eine baldige Wiederbelebung der Integrationsdynamik klingt zunehmend utopisch. Und zuletzt stellen viele Europafreunde – oft mit ehrlichem Bedauern – fest, dass die einzige Lösung offenbar in mehr „differenzierter Integration“ besteht: in der Herausbildung eines „Kerneuropas“, das auf dem Weg der Einigung voranschreitet, wenn nötig eben ohne die Länder der Peripherie.

Doch so populär die Rede von einem Kerneuropa gerade ist, so unklar sind im Einzelnen die Pläne dazu. Und blickt man genauer hin, so tun sich schnell eine ganze Reihe von Problemen auf, für die die Befürworter dieses Vorschlags meist keine allzu überzeugenden Antworten haben. Vor allem drei zentrale Fragen bleiben oft offen: Mit welchen Staaten, mit welchen Institutionen und mit welchem Zweck soll Kerneuropa vorangetrieben werden?

Mit welchen Staaten?

In Bezug auf die Wirtschaftspolitik ist die Grenzziehung einigermaßen klar: Kerneuropa, das ist die Eurozone. Damit die Währungsunion funktionieren kann, müssen ihre Mitgliedstaaten ihre Haushalts-, Sozial- und Konjunkturpolitik noch viel besser als bisher miteinander verknüpfen. Für die Nicht-Euro-Staaten ist das nicht in demselben Maße notwendig, und viele von ihnen sind dazu auch nicht bereit. Also muss sich die Eurozone weiter integrieren, während der Rest womöglich erst einmal zurückbleibt.

Allerdings: Wirtschaft ist nicht alles in der EU, und wenn es um innen- oder grenzpolitische Fragen geht, sind die Mitgliedstaaten der Währungsunion keineswegs alle naheliegende Kandidaten für ein harmonisch kooperierendes Kerneuropa. So gehören zur Eurozone beispielsweise Griechenland, das seine Außengrenze nicht effektiv unter Kontrolle hat und dessen Asylsystem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schon seit mehreren Jahren für erniedrigend und unmenschlich hält, die Slowakei, deren Regierung wie keine zweite eine europaweite Umverteilung von Flüchtlingen blockiert, oder Irland, das nicht einmal Mitglied im Schengen-Raum ist.

Mini-Schengen“ zu fünft?

Verschiedentlich kursieren deshalb in jüngster Zeit auch Ideen, das politische Kerneuropa noch enger zu fassen. So ist beispielsweise von einem „Mini-Schengen“ aus Deutschland, Österreich und den Benelux-Ländern die Rede; die italienische Regierung organisierte vor einigen Wochen ein Außenminister-Treffen der sechs EG-Gründungsstaaten; und der Spiegel-Online-Kolumnist Henrik Müller sprach jüngst von einem harten Kern um Frankreich, Deutschland und die Benelux-Länder“.

Diese kleineuropäischen Pläne irritieren jedoch aus mehreren Gründen. Zum einen ist für das europäische Einigungsprojekt die territoriale Reichweite eben doch nicht ganz gleichgültig: Ob ein überstaatlicher Raum ohne Binnengrenzen 26 Länder umfasst (wie Schengen heute) oder nur fünf, ist ein bedeutender Unterschied an persönlicher Freiheit für die reisenden Bürger.

Die Integrationsbremser sitzen nicht nur an der Peripherie

Zum anderen ließe der Rückzug auf einen solchen Miniatur-Kern Millionen Europäer außen vor, die große politische Hoffnungen auf das Integrationsprojekt gesetzt haben – etwa die Spanier, die in Umfragen regelmäßig zu den europafreundlichsten Unionsbürgern zählen, oder auch jene Polen, die in Demonstrationen gegen die derzeitige nationalkonservative Regierung immer wieder auch Europafahnen schwenken.

Und schließlich ist auch die Vorstellung naiv, dass die Integrationsbremser immer nur an der europäischen Peripherie säßen. Wenn es etwa darum geht, der Europäischen Union mehr finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, gehören die „Kernstaaten“ Deutschland und die Niederlande regelmäßig zu den wichtigsten Blockierern. Rechtlich hat kein Land einer weiteren Vergemeinschaftung zentraler Politikfelder so hohe Hürden entgegengestellt wie das deutsche Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil. Es waren Frankreich und die Niederlande, die 2005 den EU-Verfassungsvertrag in Referenden ablehnten. Und nirgendwo in Europa ist die Wahrscheinlichkeit, dass in drei Jahren nationalistische Rechtsaußen-Parteien an der Regierung beteiligt sind, so hoch wie in den Niederlanden und in Österreich.

Mit welchen Institutionen?

Auch mit welchen Institutionen Kerneuropa eigentlich ausgestattet sein soll und wie diese sich zu den existierenden Organen der EU verhalten würden, bleibt in der derzeitigen Diskussion meist unterbelichtet. Tatsächlich beinhaltet der EU-Vertrag mit der Verstärkten Zusammenarbeit schon heute ein Verfahren, mit dem eine Staatengruppe bei der Integration allein voranschreiten kann. Die EU-Organe (in der Regel Kommission, Europäisches Parlament und Ministerrat, wobei im Rat nur die Regierungen der beteiligten Staaten ein Stimmrecht haben) können dadurch Rechtsakte erlassen, die nur für diese Staatengruppe gelten, während die übrigen Länder für das entsprechende Politikfeld weiterhin nationale Gesetze anwenden.

Allerdings haben die Kerneuropa-Befürworter bei ihren Vorschlägen meist eher keine solche Verstärkte Zusammenarbeit im Sinn, sondern wollen stattdessen eigene kerneuropäische Institutionen schaffen. Dahinter steht eine grundsätzlich nachvollziehbare Überlegung: In einer Verstärkten Zusammenarbeit geben nur die beteiligten Staaten Macht an die EU-Organe ab; das Parlament und die Kommission werden jedoch von allen Europäern gewählt. Im Ergebnis können die Bürger der nicht beteiligten Staaten also über Angelegenheiten mitbestimmen, die sie selbst gar nicht direkt betreffen – was nicht nur demokratisch unschön ist, sondern auch ein machtpolitischer Nachteil für gerade jene Staaten wäre, die sich doch als Kerneuropa vom Rest emanzipieren wollen.

Parlamentarische Versammlung oder Euro-Kammer?

Wie aber könnten eigene kerneuropäische Institutionen aussehen? In Bezug auf die Eurozone läuft die politische Debatte dazu bereits seit einer ganzen Weile. Zur parlamentarischen Legitimation tauchen dabei vor allem zwei Vorschläge immer wieder auf: Man könnte eine neue parlamentarische Versammlung schaffen, in der Delegierte der nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten vertreten sind. Oder man könnte innerhalb des Europäischen Parlaments eine spezielle „Eurokammer“ schaffen, die sich nur aus Abgeordneten zusammensetzt, die in den Euro-Ländern gewählt wurden.

Wie ich an anderer Stelle schon ausführlicher geschrieben habe, finde ich keinen dieser beiden Vorschläge allzu überzeugend. Parlamentarische Versammlungen haben noch niemals eine allzu große Legitimationswirkung entfaltet: Auch das Europäische Parlament, das in den 1950er Jahren zunächst als Parlamentarische Versammlung eingerichtet wurde, begann erst eine relevante Rolle zu spielen, seitdem es 1979 zum ersten Mal direkt gewählt wurde. Zudem gibt es schon heute eine interparlamentarische Konferenz der Mitgliedstaaten des Euro-Fiskalpakts. Dass diese den meisten Menschen völlig unbekannt ist, dürfte kein Zufall sein.

Der Vorschlag einer Eurokammer innerhalb des Europäischen Parlaments wiederum widerspricht der Idee, dass die Europaabgeordneten Vertreter aller Unionsbürger sind – und eben nicht nur die Interessen ihrer jeweiligen Herkunftsstaaten repräsentieren. Vor allem aber verträgt sich der Vorschlag nicht mit zwei anderen zentralen Vorhaben für die Demokratisierung der EU, nämlich mit der Einführung transnationaler Wahllisten und der Wahl der Europäischen Kommission direkt durch das Europäische Parlament.

Mehr Kerneuropa, weniger Demokratie?

Faktisch dürfte eine Institutionalisierung von Kerneuropa deshalb auf etwas ganz anderes hinauslaufen: nämlich schlicht auf eine Umgehung und Schwächung parlamentarischer Verfahren. Auch hierfür gibt es schon heute einige Beispiele. Der Europäische Stabilitätsmechanismus etwa sieht auf europäischer Ebene keinerlei parlamentarische Mitspracherechte vor, sondern setzt allein auf die Zusammenarbeit der nationalen Regierungen. Und in den Vorschlägen, die verschiedene nationale Regierungen vergangenen Sommer für die Weiterentwicklung der Währungsunion präsentierten, spielte die parlamentarische Demokratie bestenfalls eine Nebenrolle.

Wie es derzeit aussieht, wird mehr Kerneuropa mehr Intergouvernementalismus und damit weniger Demokratie bedeuten. Die einzige plausible Alternative dazu bestünde darin, die kerneuropäischen Institutionen von Grund auf bundesstaatlich-demokratisch zu gestalten. In der schon zitierten Kolumne von Henrik Müller heißt es etwa, die Kerneuropa-Länder sollten „sich zu einer echten Föderalgemeinschaft zusammenschweißen – mit allem, was dazu gehört: Parlament, Regierung, Währung, Armee“. Aber ist das auf absehbare Zeit ein realistisches Szenario? Ist es tatsächlich das, was die große Mehrheit der Kerneuropa-Fürsprecher im Sinn hat? Und würde Kerneuropa wirklich für so viele Dinge zuständig sein, dass sich ein solcher Aufwand lohnt?

Mit welchem Zweck?

Und hier ist das dritte Problem der derzeitigen Diskussion: Allzu häufig ist das Schlagwort „Kerneuropa“ nur als Reaktion zu hören, wenn wieder einmal die Briten oder die Osteuropäer nerven und man sich wünschte, dass diese ganze europäische Politik doch irgendwie ein kleines bisschen einfacher würde. Welche Maßnahmen man im Kerneuropa-Rahmen im Einzelnen durchführen möchte, welche Zuständigkeiten diese Zwischenebene konkret haben sollte oder in welcher Weise sie genau dazu beitragen könnte, die Europapolitik effizienter und demokratischer zu gestalten, wird dagegen nur selten erklärt.

Tatsächlich ist diese Unklarheit über den Zweck von Kerneuropa auch eine wesentliche Ursache für die Verwirrungen über seine territoriale und institutionelle Gestalt. Es macht eben einen Unterschied, ob man nur eine harmonischere Konjunkturpolitik für die Währungsunion will oder einen vollwertigen supranationalen Bundesstaat anstrebt. Beides wird auf Ebene der Gesamt-EU (wenigstens in absehbarer Zeit) kaum zu verwirklichen sein und erfordert deshalb irgendeine Form von differenzierter Integration. Doch die Frage, welche Staaten sich daran beteiligen könnten und welchen institutionellen Rahmen man ins Auge fasst, lässt sich erst dann beantworten, wenn man sich darüber im Klaren ist, worin das Vorhaben eigentlich genau besteht.

Also, liebe Kerneuropa-Vordenker: Arbeitet euch nicht an Großbritannien ab, sondern formuliert lieber eure eigene Vision für Europa – und erklärt uns, mit welchen Staaten, welchen Institutionen und welchem Zweck ihr sie verwirklichen wollt. Wenn diese Vision dann wirklich zu mehr Freiheit und Demokratie beitragen kann, so sei sie willkommen. Aber die konstitutionelle Zukunft des Kontinents ist zu wichtig für ein Kerneuropa, das nur aus Frustration geboren ist.

Bild: By abu a.k.a Andrzej Burak [Public domain], via Wikimedia Commons.

4 Kommentare:

  1. Ein anderer Ansatz, den man in der Literatur auch öfter wieder findet, ist die Idee von einem mehrspurigen Europa, das teilweise ja schon existiert (Schengen, Eurozone, UK), aber noch ausgebaut werden könnte. So könnten die verschiedenen Staaten in der Geschwindigkeit, in den Politikfeldern wie auch in den "Endzielen" selbst wählen, wie weit sie wo gehen wollen. Die Frage, wie dies in der Praxis aussieht, besteht natürlich weiterhin, allerdings könnte es so flexibler gestaltet werden, anstatt es nur auf Kerneuropa, Mini-Schengen o.ä. zu fokussieren. Besonders europäisch ist der Gedanke zwar nicht, aber vielleicht ein Lösungsansatz, über den es sich nachzudenken lohnt.

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  2. Nur damit ich es richtig einordnen kann. Sie befürworten eine europäische Arbeitslosenversicherung und stehen gleichzeitig einem Kerneuropa skeptisch gegenüber?

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    1. Vor allem stehe ich Kerneuropa-Vorschlägen skeptisch gegenüber, die nicht deutlich machen, mit welchem Zweck, welchen Staaten und welchen Institutionen Sie verwirklicht werden sollen. Sinnvolle Ideen, die nicht zu 28 realisiert werden können und die auch in einem kleineren Rahmen noch sinnvoll sind, können natürlich ein guter Grund für differenzierte Integration sein - insbesondere wenn dabei die Institutionen der Gesamt-EU nicht geschwächt werden.

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    2. So kann ich das zumindest einordnen, auch wenn ich denke, dass z.B. der Bericht der fünf Präsidenten genau diese Fragen beantwortet.

      http://europa.eu/rapid/press-release_IP-15-5240_de.htm

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