05 August 2015

Auf dem Weg zu einer neuen EU-Vertragsreform?

Wolfgang Schäuble (CDU/EVP) belebt die Debatte über eine EU-Vertragsreform. Und er ist nicht allein.
Die Diskussion über eine baldige EU-Vertragsreform folgt ihrer eigenen Konjunktur. Nach dem mühsamen Ratifikationsprozess des Vertrags von Lissabon 2008/09 erwarteten viele Kommentatoren, dass auf absehbare Zeit nicht mit neuen Änderungsvorschlägen zu rechnen sei. Dann jedoch brach die Eurokrise aus, die innerhalb kurzer Zeit offenlegte, wie viele Defizite das derzeitige Vertragswerk aufweist. Nach einigen Jahren des Durchwurstelns mehrten sich deshalb 2012/13 die Rufe nach neuen, umfassenden Reformschritten – etwa durch die „EU-Zukunftsgruppe“ des damaligen deutschen Außenministers Guido Westerwelle (FDP/ALDE), durch den Kommissionspräsidenten José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP) und besonders durch den italienischen Regierungschef Enrico Letta (PD/SPE).

Forderungen nach einer Vertragsreform nehmen zu

Als geeigneten Zeitpunkt für einen neuen Reform-Anlauf sahen viele Beobachter (auch ich selbst) die italienische EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2014, auf die dann im Jahr 2015 ein neuer Europäischer Konvent hätte folgen können. Mit #convent15 gab es dafür sogar bereits einen eigenen Twitter-Hashtag. Doch je unwahrscheinlicher dank des Eingreifens der Europäischen Zentralbank ein sofortiger Kollaps der Eurozone wurde, desto geringer war auch die politische Bereitschaft zu großen Veränderungen. In ihren Programmen zur Europawahl 2014 äußerten zwar alle europäischen Parteien den ein oder anderen Reformwunsch, für einen Europäischen Konvent sprachen sich jedoch nur Grüne und Liberale aus. Nach dem Rücktritt Enrico Lettas im Februar 2014 verlief auch die italienische Ratspräsidentschaft eher unauffällig. Die neue europäische Devise schien zu sein, erst einmal keine großen Projekte anzustoßen, sondern lieber den wirtschaftlichen Wiederaufschwung abzuwarten und dann weiterzusehen.

In den letzten Monaten jedoch scheint sich die Konjunktur erneut zu drehen. Zuletzt jedenfalls ist in der europäischen Öffentlichkeit wieder öfter von einer Vertragsreform die Rede. Dieser Diskurs speist sich aus verschiedenen Quellen, die sich noch nicht zu einer Gesamtvision zusammenfügen. Doch es ist jedenfalls sehr wahrscheinlich, dass die Debatte darüber nach der Sommerpause an Schwung gewinnen und uns auch im nächsten Jahr begleiten wird.

Das britische Austrittsreferendum als Reformanstoß

Ein wesentlicher Anstoß kam dabei paradoxerweise von dem überraschenden Sieg der integrationsskeptischen Regierung unter David Cameron (Cons./AEKR) bei der britischen Unterhauswahl am vergangenen 7. Mai. Schon vor der Wahl hatten alle großen britischen Parteien in sehr ähnlichen Worten eine „EU-Reform“ gefordert, um Macht auf die nationalen Parlamente rückzuübertragen und/oder in bestimmten Politikfeldern Ausnahmeklauseln für Großbritannien zu erreichen. Nur Camerons Tories waren jedoch bereit, diesen Forderungen auch mit der Ankündigung eines EU-Austrittsreferendums Nachdruck zu verleihen.

Nun scheint es nach Stand der aktuellen Umfragen zwar recht unwahrscheinlich, dass sich bei diesem Referendum, das 2016 oder 2017 stattfinden wird, eine Mehrheit für den Austritt findet. Dennoch steht die EU vor der Frage, wie weit sie sich auf die britische Regierung zubewegen sollte, um einen möglichst großen Teil der britischen Bevölkerung zu überzeugen – und wie sich gleichzeitig sicherstellen lässt, dass die Union trotzdem ihre Handlungsfähigkeit und ihren supranationalen Charakter behält. Der Vorsitzende der christdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament, Manfred Weber (CSU/EVP), erklärte in Reaktion auf das britische Wahlergebnis jedenfalls, die Europäer müssten „jetzt auch darüber nachdenken, ob es Zeit für eine umfassende Vertragsreform ist“.

Vollendung der Währungsunion

Neben den aktuellen britischen Forderungen gewann zuletzt aber auch noch ein zweiter, längerfristiger Reformdiskurs wieder an Fahrt: die Diskussion über eine Vollendung der europäischen Währungsunion. Schon im Dezember 2012 hatte der damalige EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy (CD&V/EVP) zusammen mit den Präsidenten der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und der Eurogruppe das sogenannte Vier-Präsidenten-Papier vorgelegt, das umfangreiche Änderungen an der Funktionsweise der Eurozone anregte.

Doch obwohl die nationalen Regierungschefs diese Ideen grundsätzlich begrüßten, passierte in den nächsten Jahren nur wenig. Nach der Europawahl 2014 gaben die Regierungschefs vielmehr die Ausarbeitung eines neuen Vorschlags in Auftrag – diesmal auch unter Beteiligung des Parlamentspräsidenten Martin Schulz (SPD/SPE) und unter Federführung von Kommissionschef Jean-Claude Juncker (CSV/EVP). Nach einem Zwischenbericht im letzten Februar präsentierte Juncker nun im Juni den neuen „Fünf-Präsidenten-Bericht“ (Wortlaut). Darin wird erneut ein schrittweiser Ausbau der Währungsunion vorgeschlagen, für den in einer zweiten Phase ab 2017 auch eine Vertragsreform notwendig wäre.

Pläne der nationalen Regierungen der Euro-Länder

Für sich allein hätten wohl weder die britischen Forderungen noch der Fünf-Präsidenten-Bericht genügt, um eine breitere Reformdebatte anzufachen. Denn so wichtig Großbritannien als drittgrößter Mitgliedstaat auch ist, hält sich die Bereitschaft für weitreichende Zugeständnisse bei den übrigen Regierungen doch in Grenzen – umso mehr, als gar nicht klar ist, welche Auswirkungen diese Zugeständnisse wirklich auf den Ausgang des Referendums haben könnten. Umgekehrt sind die notwendigen Schritte für eine Vollendung der Währungsunion bereits seit Jahren ein Dauerbrenner in der Debatte über die Eurokrise, ohne dass die Regierungschefs sich tatsächlich an den politischen Aufwand einer Vertragsänderung gemacht hätten.

In der Kombination jedoch führten beide Impulse zusammen zu einer neuen Diskussion, in der sich auch die nationalen Regierungen mit einer lange nicht gesehenen Ernsthaftigkeit beteiligen. Schon vor der Präsentation des Fünf-Präsidenten-Berichts entwarfen im Juni alle großen Euro-Länder ihre eigenen Pläne für eine Reform der Währungsunion. Danach nahm zwar die Griechenland-Krise die öffentliche Wahrnehmung für einige Wochen vollständig in Beschlag, doch Ende Juli legten die beiden wichtigsten Mitgliedstaaten noch einmal nach: So forderte der der französische Präsident François Hollande (PS/SPE) jüngst ein Parlament für die Eurozone, während der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU/EVP) eine Eurozone-eigene Steuer ins Gespräch brachte.

Neuordnung der Kommissionskompetenzen

Und dann eröffnete Schäuble letzte Woche schließlich noch ein ganz neues Diskussionsfeld, das weit über die britischen Forderungen und über die Reform der Eurozone hinausgeht: die Frage nach der Neuordnung der Kompetenzen der Europäischen Kommission. Im Kern geht es dabei darum, was die Kommission künftig sein soll: eine bloß technokratische Behörde, die nach klar definierten Vorgaben ein fest umrissenes Aufgabenfeld abarbeitet? Oder ein politisches Organ, das bei der Entwicklung der EU eigene Prioritäten setzt und dafür auch die Verantwortung gegenüber den europäischen Bürgern übernimmt?

Der derzeitige Kommissionspräsident Juncker bekennt sich jedenfalls explizit zu letzterem Modell, das auch Schäuble nach eigenem Bekunden für das bessere hält. In der Konsequenz möchte Schäuble jedoch die rein technischen Tätigkeitsfelder der Kommission an eigenständige, unabhängige Behörden übertragen, um deren Politisierung zu verhindern. Dabei hat er auch die Unterstützung des niederländischen Finanzministers Jeroen Dijsselbloem (PvdA/SPE), der bereits angekündigt hat, aus dieser Debatte einen Schwerpunkt der niederländischen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2016 zu machen.

Die problematische Unabhängigkeit der EU-Agenturen

Problematisch wird diese Forderung freilich dadurch, dass es oft gar nicht so einfach ist, technische und politische Aktivitäten der Kommission klar voneinander zu trennen. Zudem gibt es schon jetzt eine Vielzahl von EU-Agenturen, die von der Kommission unabhängig sind und der Idee nach rein technische Verwaltungsaufgaben erfüllen sollen. In den letzten Jahren haben einige dieser Agenturen jedoch so großen Einfluss gewonnen, dass ihre Unabhängigkeit zum Legitimationsproblem wird.

Die Frage nach einer Neuordnung der Kommissionskompetenzen stellt sich deshalb in beide Richtungen: Es gibt technische Aufgabenfelder der Kommission, die man einer unabhängigen Agentur übertragen könnte; es gibt aber auch politische Tätigkeiten der Agenturen, die man besser der demokratisch stärker legitimierten Kommission überließe. Wo wir zwischen Technokratie und Demokratie die Grenze ziehen, ist letztlich selbst eine politische Frage. Dass Wolfgang Schäuble nun die Auseinandersetzung darüber eröffnet hat (und andere, wie der grüne Europaabgeordnete Sven Giegold, den Ball aufgriffen), gibt der Reformdebatte noch eine weitere Dimension, in der es auch um die Legitimationsgrundlage der EU insgesamt geht.

Druck durch den britischen Referendumszeitplan

Wie aber wird es nun weitergehen? Konkrete Vorschläge, wann und wie es zu einer Vertragsänderung kommen könnte, gibt es noch nicht, doch es ist ziemlich klar, dass die Diskussion darüber nach der Sommerpause nicht lange auf sich warten lassen wird. Druck macht dabei vor allem der Zeitplan der britischen Regierung: Offenbar möchte sie das Austrittsreferendum bereits im Juni 2016 durchführen, sodass die von ihr geforderte Neuverhandlung der Verträge spätestens im nächsten Frühjahr zumindest in Grundzügen abgeschlossen sein müsste.

Hinzu kommt, dass im Jahr 2017 sowohl in Frankreich als auch in Deutschland Parlamentswahlen stattfinden – und wohl weder François Hollande noch Angela Merkel Lust haben, die Zukunft der EU zu einem zentralen nationalen Wahlkampfthema zu machen.

Zeit für einen Europäischen Konvent

Andererseits betreffen die Reformvorschläge, die derzeit zur Debatte stehen, weitreichende verfassungspolitische Fragen, die man nicht mal eben rasch in einer zweitägigen Regierungskonferenz beantworten kann. Zum einen schon rechtlich nicht: Wenn man es mit der Vollendung der Währungsunion ernst meint, wird etwa in Deutschland auch an weitreichenden nationalen Verfassungsänderungen kein Weg vorbeiführen.

Zum anderen aber auch politisch: Art. 48 EU-Vertrag sieht heute als „ordentliches Änderungsverfahren“ die Einberufung eines Europäischen Konvents vor, der sich aus „Vertretern der nationalen Parlamente, der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments und der Kommission“ zusammensetzt. Dadurch soll nicht nur gewährleistet werden, dass alle wichtigen Institutionen an der Reform beteiligt sind. Darüber hinaus ist der Konvent auch als ein Kristallisationspunkt gedacht, um eine intensive Auseinandersetzung in der europäischen Öffentlichkeit zu ermöglichen.

Seit einigen Monaten ist die Diskussion über die Zukunft der EU wieder zurück auf der politischen Agenda – und mit gutem Grund, denn der Reformbedarf ist unübersehbar. Einen echten Nutzen wird die Debatte aber nur dann bringen, wenn wir sie ernster nehmen als kurzfristige nationale Opportunitätserwägungen. In diesem Sinne: Zeit für #convent16!

Bild: By blu-news.org [CC BY-SA 2.0], via Flickr.

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