- Wolfgang Schäuble (CDU/EVP) belebt die Debatte über eine EU-Vertragsreform. Und er ist nicht allein.
Die Diskussion über eine baldige EU-Vertragsreform folgt ihrer eigenen
Konjunktur. Nach dem mühsamen Ratifikationsprozess des Vertrags von
Lissabon 2008/09 erwarteten viele Kommentatoren, dass auf absehbare
Zeit nicht
mit neuen Änderungsvorschlägen zu rechnen sei. Dann jedoch
brach die Eurokrise aus, die innerhalb kurzer Zeit offenlegte, wie
viele Defizite das derzeitige Vertragswerk aufweist. Nach einigen Jahren des Durchwurstelns mehrten sich deshalb
2012/13 die Rufe nach neuen, umfassenden Reformschritten – etwa
durch die „EU-Zukunftsgruppe“
des damaligen deutschen Außenministers Guido Westerwelle (FDP/ALDE),
durch den Kommissionspräsidenten
José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP) und besonders durch den
italienischen
Regierungschef Enrico Letta (PD/SPE).
Forderungen nach einer Vertragsreform nehmen zu
Als
geeigneten Zeitpunkt für einen neuen Reform-Anlauf sahen viele
Beobachter (auch
ich selbst) die italienische EU-Ratspräsidentschaft im zweiten
Halbjahr 2014, auf die dann im Jahr 2015 ein neuer Europäischer
Konvent hätte folgen können. Mit #convent15 gab es dafür sogar bereits
einen eigenen Twitter-Hashtag. Doch
je unwahrscheinlicher dank des Eingreifens der Europäischen
Zentralbank ein sofortiger
Kollaps der Eurozone wurde, desto
geringer war auch die politische Bereitschaft zu großen
Veränderungen. In ihren
Programmen zur Europawahl 2014 äußerten zwar alle
europäischen Parteien den ein oder anderen Reformwunsch, für
einen Europäischen Konvent
sprachen sich
jedoch nur Grüne und Liberale aus.
Nach dem Rücktritt Enrico
Lettas im Februar 2014
verlief auch
die italienische Ratspräsidentschaft eher
unauffällig. Die
neue europäische Devise
schien
zu sein, erst einmal keine
großen Projekte anzustoßen,
sondern lieber den
wirtschaftlichen Wiederaufschwung
abzuwarten und dann
weiterzusehen.
In
den letzten Monaten jedoch scheint sich die Konjunktur erneut zu
drehen. Zuletzt jedenfalls ist
in der europäischen
Öffentlichkeit wieder öfter von einer
Vertragsreform die Rede.
Dieser Diskurs speist sich
aus verschiedenen Quellen, die
sich noch nicht zu einer Gesamtvision zusammenfügen.
Doch es ist jedenfalls sehr
wahrscheinlich, dass die Debatte darüber nach der Sommerpause an
Schwung gewinnen und uns auch
im nächsten Jahr begleiten wird.
Das
britische Austrittsreferendum als Reformanstoß
Ein
wesentlicher Anstoß kam dabei paradoxerweise
von dem überraschenden
Sieg der
integrationsskeptischen Regierung unter David Cameron (Cons./AEKR)
bei der britischen
Unterhauswahl am vergangenen
7. Mai. Schon vor der Wahl hatten alle großen britischen Parteien in
sehr ähnlichen Worten eine „EU-Reform“ gefordert, um Macht
auf die nationalen Parlamente rückzuübertragen und/oder
in bestimmten Politikfeldern Ausnahmeklauseln für Großbritannien zu
erreichen. Nur Camerons
Tories waren jedoch bereit, diesen Forderungen auch mit der
Ankündigung eines EU-Austrittsreferendums Nachdruck zu verleihen.
Nun
scheint es nach
Stand der aktuellen Umfragen zwar recht unwahrscheinlich, dass
sich bei diesem Referendum,
das 2016 oder 2017
stattfinden wird, eine
Mehrheit für den Austritt findet.
Dennoch steht die EU vor der
Frage, wie weit sie sich auf die britische Regierung zubewegen
sollte, um einen möglichst
großen Teil der britischen Bevölkerung zu überzeugen
– und
wie sich gleichzeitig sicherstellen lässt, dass die Union
trotzdem ihre Handlungsfähigkeit und
ihren supranationalen Charakter behält.
Der Vorsitzende der
christdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament, Manfred
Weber (CSU/EVP), erklärte in
Reaktion auf das britische Wahlergebnis jedenfalls, die Europäer
müssten
„jetzt auch darüber nachdenken, ob es Zeit für eine umfassende
Vertragsreform ist“.
Vollendung der Währungsunion
Neben
den aktuellen britischen
Forderungen gewann zuletzt
aber auch noch
ein zweiter,
längerfristiger
Reformdiskurs wieder an
Fahrt: die Diskussion über
eine Vollendung der europäischen Währungsunion.
Schon im Dezember 2012 hatte der damalige EU-Ratspräsident Herman
Van Rompuy (CD&V/EVP) zusammen mit den Präsidenten der
Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und der
Eurogruppe das sogenannte
Vier-Präsidenten-Papier vorgelegt, das umfangreiche Änderungen
an der Funktionsweise der Eurozone anregte.
Doch
obwohl die
nationalen Regierungschefs diese
Ideen grundsätzlich
begrüßten,
passierte in den nächsten
Jahren nur
wenig. Nach
der Europawahl 2014 gaben die
Regierungschefs vielmehr die
Ausarbeitung eines neuen Vorschlags
in Auftrag – diesmal
auch unter
Beteiligung des
Parlamentspräsidenten Martin Schulz (SPD/SPE) und unter Federführung
von Kommissionschef
Jean-Claude Juncker
(CSV/EVP). Nach
einem Zwischenbericht
im letzten Februar präsentierte
Juncker nun im Juni den neuen
„Fünf-Präsidenten-Bericht“ (Wortlaut).
Darin wird erneut ein
schrittweiser Ausbau der Währungsunion vorgeschlagen,
für den in einer zweiten Phase ab
2017 auch eine Vertragsreform
notwendig wäre.
Pläne der nationalen Regierungen der Euro-Länder
Für
sich allein hätten wohl weder die
britischen
Forderungen noch
der Fünf-Präsidenten-Bericht
genügt, um eine breitere Reformdebatte anzufachen. Denn
so wichtig Großbritannien
als drittgrößter Mitgliedstaat auch ist, hält sich die
Bereitschaft für weitreichende Zugeständnisse bei den übrigen
Regierungen doch in Grenzen – umso mehr, als gar nicht klar ist,
welche Auswirkungen diese Zugeständnisse wirklich auf den Ausgang
des Referendums haben könnten. Umgekehrt
sind die
notwendigen Schritte für
eine Vollendung der
Währungsunion bereits seit
Jahren ein Dauerbrenner in
der Debatte über die Eurokrise,
ohne dass die Regierungschefs
sich tatsächlich an den politischen Aufwand einer Vertragsänderung
gemacht hätten.
In
der Kombination jedoch führten beide Impulse zusammen zu einer neuen
Diskussion, in der sich auch
die nationalen Regierungen mit einer lange nicht gesehenen
Ernsthaftigkeit beteiligen. Schon
vor der Präsentation des
Fünf-Präsidenten-Berichts entwarfen
im Juni alle
großen Euro-Länder
ihre
eigenen Pläne für eine Reform der Währungsunion. Danach
nahm zwar die
Griechenland-Krise die öffentliche Wahrnehmung für einige Wochen
vollständig in Beschlag, doch
Ende Juli legten die beiden
wichtigsten Mitgliedstaaten
noch einmal nach: So forderte
der der französische Präsident François Hollande (PS/SPE) jüngst
ein
Parlament für die Eurozone, während
der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU/EVP) eine
Eurozone-eigene Steuer ins
Gespräch brachte.
Neuordnung der Kommissionskompetenzen
Und
dann eröffnete Schäuble letzte Woche schließlich
noch ein ganz neues
Diskussionsfeld, das weit
über die britischen
Forderungen und über die Reform
der Eurozone hinausgeht: die
Frage nach der Neuordnung
der
Kompetenzen der Europäischen Kommission.
Im Kern
geht es dabei darum,
was die
Kommission künftig sein
soll: eine bloß technokratische
Behörde, die nach
klar definierten Vorgaben ein
fest umrissenes Aufgabenfeld
abarbeitet? Oder
ein politisches Organ, das
bei der Entwicklung der EU eigene Prioritäten setzt und
dafür auch die Verantwortung gegenüber den europäischen
Bürgern übernimmt?
Der
derzeitige Kommissionspräsident Juncker bekennt
sich jedenfalls explizit
zu letzterem Modell, das
auch Schäuble nach eigenem
Bekunden für das bessere hält. In
der Konsequenz möchte Schäuble jedoch die
rein technischen
Tätigkeitsfelder der Kommission an
eigenständige, unabhängige
Behörden übertragen, um
deren
Politisierung zu verhindern.
Dabei hat er auch die
Unterstützung des niederländischen Finanzministers Jeroen
Dijsselbloem (PvdA/SPE), der bereits angekündigt hat, aus
dieser Debatte einen Schwerpunkt der niederländischen
Ratspräsidentschaft im
ersten Halbjahr 2016 zu
machen.
Die
problematische Unabhängigkeit der EU-Agenturen
Problematisch
wird diese Forderung freilich
dadurch, dass es oft gar
nicht so einfach ist,
technische und politische
Aktivitäten der Kommission
klar voneinander
zu trennen. Zudem
gibt es schon jetzt eine
Vielzahl von
EU-Agenturen,
die von
der Kommission unabhängig sind und der
Idee nach rein technische Verwaltungsaufgaben erfüllen sollen. In
den letzten Jahren haben
einige dieser Agenturen jedoch
so großen Einfluss
gewonnen, dass
ihre
Unabhängigkeit zum Legitimationsproblem wird.
Die
Frage nach einer Neuordnung
der Kommissionskompetenzen stellt sich deshalb in beide Richtungen:
Es gibt technische Aufgabenfelder der
Kommission, die man einer
unabhängigen Agentur übertragen könnte;
es
gibt aber auch politische Tätigkeiten
der Agenturen, die
man besser
der demokratisch stärker
legitimierten Kommission
überließe.
Wo wir
zwischen Technokratie und Demokratie die Grenze ziehen, ist letztlich selbst eine politische Frage.
Dass Wolfgang Schäuble nun
die Auseinandersetzung
darüber eröffnet hat (und
andere, wie der grüne Europaabgeordnete Sven Giegold, den
Ball aufgriffen), gibt
der Reformdebatte noch eine
weitere Dimension,
in der es auch um die Legitimationsgrundlage
der EU insgesamt geht.
Druck durch den britischen Referendumszeitplan
Wie
aber wird es nun weitergehen?
Konkrete Vorschläge, wann
und wie es zu einer Vertragsänderung
kommen könnte, gibt es noch nicht, doch es ist ziemlich klar, dass
die Diskussion darüber nach
der Sommerpause nicht lange
auf sich warten lassen wird. Druck
macht dabei vor allem der Zeitplan der britischen Regierung:
Offenbar
möchte sie das
Austrittsreferendum bereits
im Juni 2016 durchführen, sodass die
von ihr geforderte Neuverhandlung
der Verträge spätestens im
nächsten Frühjahr zumindest in Grundzügen abgeschlossen
sein müsste.
Hinzu kommt, dass im Jahr 2017 sowohl in Frankreich als auch in Deutschland Parlamentswahlen stattfinden – und wohl weder François Hollande noch Angela Merkel Lust haben, die Zukunft der EU zu einem zentralen nationalen Wahlkampfthema zu machen.
Hinzu kommt, dass im Jahr 2017 sowohl in Frankreich als auch in Deutschland Parlamentswahlen stattfinden – und wohl weder François Hollande noch Angela Merkel Lust haben, die Zukunft der EU zu einem zentralen nationalen Wahlkampfthema zu machen.
Zeit für einen Europäischen Konvent
Andererseits
betreffen die
Reformvorschläge, die
derzeit zur Debatte stehen,
weitreichende
verfassungspolitische Fragen, die man nicht mal eben rasch in einer zweitägigen
Regierungskonferenz beantworten kann. Zum
einen schon rechtlich nicht: Wenn man es mit der Vollendung
der Währungsunion ernst meint, wird etwa
in Deutschland auch an weitreichenden
nationalen Verfassungsänderungen kein Weg vorbeiführen.
Zum anderen aber auch politisch: Art. 48 EU-Vertrag sieht heute als „ordentliches Änderungsverfahren“ die Einberufung eines Europäischen Konvents vor, der sich aus „Vertretern der nationalen Parlamente, der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments und der Kommission“ zusammensetzt. Dadurch soll nicht nur gewährleistet werden, dass alle wichtigen Institutionen an der Reform beteiligt sind. Darüber hinaus ist der Konvent auch als ein Kristallisationspunkt gedacht, um eine intensive Auseinandersetzung in der europäischen Öffentlichkeit zu ermöglichen.
Zum anderen aber auch politisch: Art. 48 EU-Vertrag sieht heute als „ordentliches Änderungsverfahren“ die Einberufung eines Europäischen Konvents vor, der sich aus „Vertretern der nationalen Parlamente, der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments und der Kommission“ zusammensetzt. Dadurch soll nicht nur gewährleistet werden, dass alle wichtigen Institutionen an der Reform beteiligt sind. Darüber hinaus ist der Konvent auch als ein Kristallisationspunkt gedacht, um eine intensive Auseinandersetzung in der europäischen Öffentlichkeit zu ermöglichen.
Seit
einigen Monaten ist
die Diskussion über die Zukunft der EU
wieder zurück auf der politischen Agenda
– und mit gutem Grund, denn
der Reformbedarf ist
unübersehbar. Einen echten
Nutzen wird die Debatte aber
nur dann bringen, wenn wir sie
ernster nehmen als kurzfristige
nationale Opportunitätserwägungen.
In diesem Sinne: Zeit für #convent16!
Bild: By blu-news.org [CC BY-SA 2.0], via Flickr.
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