09 Mai 2012

Wachstumspaket oder Wachstumspakt? Was von François Hollande zu erwarten ist

François Hollande ist noch nicht einmal im Amt, und schon reden alle nur noch vom Wachstum.
Und auf einmal geht alles ganz schnell: François Hollande (PS/SPE) hatte gerade mal die erste Runde der französischen Präsidentschaftswahlen gewonnen, als der Präsident des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy (CD&V/EVP), eine Kapitalerhöhung der Europäischen Investitionsbank um zehn Milliarden Euro vorschlug, aus der ein europäisches Konjunkturprogramm finanziert werden soll. Kurz darauf machte der Währungskommissar Olli Rehn (Kesk./ELDR) deutlich, dass die Europäische Kommission ein Auge zudrücken und Spanien, das derzeit am meisten unter der Austeritätspolitik der EU leidet, bei der Haushaltskonsolidierung ein Jahr länger Zeit geben werde. Gestern lud Van Rompuy die Staats- und Regierungschefs zu einem „informellen Abendessen“ am 23. Mai, um über weitere Wachstumsmaßnahmen zu diskutieren. Und das Erstaunlichste dabei ist, dass nicht einmal die deutsche Bundesregierung unter Angela Merkel (CDU/EVP) gegen diese Abkehr von dem bisherigen Sparkurs protestiert.

Erstarken der Sozialdemokraten

Hintergrund dieses plötzlichen Sinneswandels ist das Wiedererstarken der Sozialdemokratischen Partei Europas, die schon in der Vergangenheit wiederholt Wachstum statt Austerität gefordert hatte (etwa auf ihrem Kongress Ende November). Lange Zeit war sie damit im konservativ dominierten Europäischen Rat auf taube Ohren gestoßen. Doch nach einer Serie verlorener Wahlen – zum Jahreswechsel war Belgien der größte SPE-regierte Mitgliedstaat – deutet sich nun ein Wechsel an: Bei den britischen Kommunalwahlen setzte sich zuletzt die Labour Party durch, in Spanien konnte die PSOE bei Regionalwahlen in Andalusien und Asturien punkten, in Italien liegt die SPE-nahe PD in Umfragen inzwischen deutlich vorne. Und da die deutsche Bundesregierung für die Ratifizierung des Fiskalpakts eine Zweidrittelmehrheit benötigt, kann die SPD plötzlich in der deutschen Europapolitik mitreden und eigene Bedingungen für ihre Zustimmung stellen.

Der symbolisch wichtigste Wendepunkt aber war ohne Zweifel der Wahlerfolg Hollandes in Frankreich, der mit dem Versprechen angetreten war, den Fiskalpakt nachzuverhandeln. Dieses Abkommen ist gewissermaßen der Kern der europäischen Austeritätspolitik: Er soll alle Teilnehmerstaaten dazu verpflichten, in ihren Verfassungen die jährliche Neuverschuldung auf 0,5 Prozent des BIP zu begrenzen – was faktisch über Jahre hinweg auf eine massive Einschränkung aller öffentlichen Investitionen hinauslaufen wird. Hollande kündigte an, den Fiskalpakt nur dann zu ratifizieren, wenn er von Maßnahmen zur Förderung des Wirtschaftswachstums begleitet würde. Nicht zuletzt deshalb boykottierten die konservativen Regierungschefs Hollande während des Wahlkampfs.

Dass Van Rompuy, Rehn und indirekt auch Merkel nun noch vor Hollandes endgültigem Sieg einlenkten, ist deshalb wohl auch Teil einer diplomatischen Schadensbegrenzung: Die Fassade des Konsens, die man im Europäischen Rat und teils auch in der Kommission pflegt, soll nicht durch allzu offensichtliche Gegensätze zwischen dem neu gewählten französischen Präsidenten und seinen Amtskollegen von der Europäischen Volkspartei beschädigt werden. Das neue Interesse am Wachstum soll deshalb so wenig wie möglich als eine Folge des französischen Wählervotums erscheinen – paradoxerweise sind die europäischen Institutionen zwar durchaus dazu bereit, Konsequenzen aus demokratischen Abstimmungen zu ziehen, sie geben das aber nicht gerne zu. Olli Rehn jedenfalls wiegelte jede Vorstellung einer Kehrtwende rasch ab: Die Debatte über Haushaltskonsolidierung und Wirtschaftswachstum, so stellte er jüngst fest, sei „eine falsche Diskussion“, denn natürlich sei beides nötig und irgendwie werde es sich schon auch miteinander vereinbaren lassen.

Wie geht es weiter?

Doch die Auseinandersetzung über den richtigen Weg aus der Schuldenkrise ist real und alles andere als zu Ende. Betrachtet man die Äußerungen in den letzten Tagen etwas genauer, so sind die Unterschiede durchaus zu erkennen: So unterstützt die deutsche Bundesregierung zwar die Kapitalaufstockung der Europäischen Investitionsbank, aber ob es sich dabei um neues Geld aus den nationalen Haushalten der Mitgliedstaaten oder nur um eine Umschichtung aus dem alten Euro-Rettungsschirm EFSM handeln wird, ist noch unklar. Ohnehin betonen Angela Merkel und ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble bei jeder Gelegenheit, dass man mehr Wachstum auch ohne staatliche Investitionen haben könne, etwa durch Arbeitsmarktreformen wie die Lockerung des Kündigungsschutzes. Olli Rehn und Kommissionspräsident José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP) wiederum kamen in den letzten Tagen wieder einmal auf die Einführung von Eurobonds zurück, also gemeinsamen Anleihen der EU-Mitgliedstaaten, was der Bundesregierung kaum gefallen dürfte. Und während Hollande noch einmal betonte, den Fiskalpakt in der jetzigen Form nicht akzeptieren zu wollen, machten die Bundesregierung, aber auch der luxemburgische Ministerpräsident und Eurogruppen-Vorsitzende Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) deutlich, dass sie sich auf keinen Fall auf eine vollständige Neuverhandlung einlassen würden.

Immerhin aber erklärte sich Hollandes Wahlkampfleiter Pierre Moscovici (PS/SPE) zuletzt zuversichtlich, „dass man einen Kompromiss finden wird“. Wie dieser aussehen könnte, wurde bislang noch nicht offiziell angekündigt. Doch einiges spricht dafür, dass der Fiskalpakt am Ende intakt bleiben wird. Denn erstens werden die wichtigsten EU-Organe trotz Hollandes Wahlsieg nach wie vor von der Europäischen Volkspartei dominiert, die hinter dem Pakt steht. Zweitens haben einige Staaten den Vertrag bereits ratifiziert und in Irland wird schon am 31. Mai ein Referendum darüber stattfinden – bei einem Ja würde die irische Regierung dieses wohl kaum für einen leicht veränderten Pakt wiederholen wollen. Und drittens deutet die jüngste Ankündigung Olli Rehns zur spanischen Haushaltskonsolidierung bereits an, wie dem Fiskalpakt die austeritätspolitische Spitze genommen werden kann: Dieser überlässt nämlich der Kommission einen gewissen Handlungsspielraum bei der Frage, wie streng mit Staaten umgegangen wird, die unter Berufung auf „außergewöhnliche Umstände“ von ihren Defizitzielen abweichen. Die Kommission kann sich also zu einer laxen Interpretation des Pakts entscheiden – und damit dessen schlimmste Konsequenzen verhindern.

Konjunkturprogramm für Südeuropa

Wahrscheinlich ist also, dass der Fiskalpakt zuletzt nicht verändert, sondern lediglich um flankierende Maßnahmen zum Wachstum ergänzt werden wird. Die entscheidende Frage wird letztlich sein, wie diese Maßnahmen aussehen werden. Hierzu zeichnen sich nun drei Möglichkeiten ab: Der Europäische Rat kann sich erstens auf eine reine Absichtserklärung beschränken, in der er die Bedeutung des Wirtschaftswachstums betont und alle Mitgliedstaaten auffordert, ein bisschen Konjunkturförderung zu betreiben, sofern ihre Haushaltslage das zulässt. Dies würde weitgehend folgenlos bleiben und wäre wohl die von der Bundesregierung bevorzugte Lösung; für Hollande hingegen wäre es eine deutliche Niederlage, die er sich so kurz nach seiner Amtseinführung kaum leisten wird.

Die zweite, wahrscheinlichere Option ist deshalb ein – wie auch immer geartetes – Wachstumspaket in Form eines Konjunkturprogramms, etwa entsprechend dem Vorschlag von Herman Van Rompuy durch die Europäische Investitionsbank. Zweck eines solchen Programms wäre die Überwindung der aktuellen Wirtschaftskrise, bei der die Rezession auch die Staatsverschuldung in den südeuropäischen Ländern immer weiter wachsen lässt. Auch wenn die Finanzierung formell gemeinschaftlich erfolgen würde, liefe es auf einen einmaligen Milliardentransfer von den reicheren an die ärmeren Mitgliedstaaten hinaus: Nur so ließe sich der Teufelskreis durchbrechen, dass Länder wie Spanien und Griechenland Investitionen benötigen, um ihr Schuldenproblem zu lösen, aufgrund ihres Schuldenproblems diese Investitionen jedoch selbst nicht tätigen können.

Eine solche Einigung würde womöglich genügen, um alle Mitglieder des Europäischen Rates zufriedenzustellen: François Hollande könnte seinen Wählern das angekündigte Wachstumspaket präsentieren, während Angela Merkel im Bundestag darauf verweisen könnte, den Fiskalpakt vor dem Zugriff des französischen Sozialisten gerettet zu haben. Strittig wäre allenfalls die Höhe des Konjunkturprogramms.

Ein Wachstumspakt gegen das wirtschaftspolitische Ungleichgewicht

Doch bei näherem Hinsehen würde auch diese zweite Lösung auf die Dauer kein Gegengewicht zum Fiskalpakt schaffen – denn Letzterer ist auf unbegrenzte Zeit angelegt, während ein Konjunkturprogramm, das nur auf die aktuelle Krise zugeschnitten ist, spätestens in einigen Jahren auslaufen würde. Damit aber würde es keine Abhilfe gegenüber der seltsamen wirtschaftspolitischen Schieflage schaffen, die zuletzt in das europäische Verfassungsrecht Einzug gehalten hat.

Die Euro-Krise hat vor allem verdeutlicht, wie notwendig es ist, die makroökonomische Steuerung der Währungsunion besser zu koordinieren. Die Haushalts- und Wirtschaftspolitik jedes einzelnen Mitgliedstaats beeinflusst die Lage in allen anderen: Wenn Staaten sich zu sehr verschulden und ihre Kredite zuletzt nicht zurückzahlen können, so wird das Bankensystem und die Preisstabilität auch in den anderen Ländern gefährdet. Wenn Staaten dagegen zu stark sparen, etwa weil sie sich gerade in einem Aufschwung befinden, so können sie die anderen, denen es konjunkturell schlechter geht, in eine Rezession stürzen. Die Mitgliedstaaten müssten deshalb, wie es in Art. 121 AEU-Vertrag heißt, ihre Wirtschaftspolitik als „eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse“ behandeln. Wie sich gezeigt hat, funktioniert dies aber nicht, solange es dafür keine wirksamen supranationalen Kontrollmechanismen gibt.

Die Beschlüsse der letzten Monate – der Fiskalpakt, aber auch die Sixpack-Rechtsakte – adressierten den ersten Teil dieses Problems, indem sie vor allem die Kontrollmöglichkeiten der Europäischen Kommission steigerten. Wenn Mitgliedstaaten eine zu lockere Haushaltspolitik betreiben und zu hohe Defizite schreiben, so kann die Kommission sie nun durch vereinfachte Sanktionsmechanismen auf einen Austeritätskurs zwingen. Wozu es bisher jedoch noch keine Beschlüsse gibt, ist die andere Seite einer antizyklischen Wirtschaftspolitik: Wenn Staaten sich weigern, ihren Beitrag zu einer Wiederbelebung der europäischen Konjunktur zu leisten, hat die Kommission nach wie vor keine Handhabe gegen sie. Deutschland ist in diesen Monaten das beste Beispiel dafür.

Und das wäre also das dritte und beste mögliche Ergebnis für das Treffen des Europäischen Rates in zwei Wochen: nicht nur ein Wachstumspaket, bei dem sich die Staats- und Regierungschefs einmalig auf ein Investitionsprogramm für Südeuropa einigen, sondern ein Wachstumspakt, der Mechanismen festlegt, wie man solche Programme künftig gemeinsam erarbeitet, ohne dass sie von einzelnen Staaten blockiert werden können. Man könnte das, entsprechend dem Vorbild des Fiskalpakts, durch gemeinsame europäische Regeln bei der Ausgestaltung der nationalen Haushalte bewerkstelligen – oder, einfacher, indem man das Budget der EU selbst so aufstockt, dass es konjunkturpolitisch relevant wird. So oder so: Eine wirksame makroökonomische Steuerung auf europäischer Ebene wird es erst dann geben, wenn die europäischen Institutionen je nach Bedarf nicht nur eine Senkung, sondern auch eine Steigerung der öffentlichen Ausgaben anordnen können.

Nur mit einer solchen Reform würde sich die Europäische Union doch noch in die „Fiskalunion“ verwandeln, die zur Vermeidung künftiger Krisen notwendig ist. Doch bei aller Wachstumsrhetorik scheint es selbst bei François Hollande mehr als fraglich, ob er sich auf einen solchen Verzicht auf nationale Souveränität einlassen würde. Und so werden es die Staats- und Regierungschefs wohl wieder einmal bei einer halben Lösung belassen: mit einem Konjunkturpaket, das uns zwar mit ein wenig Glück aus der heutigen Rezession herausführen kann – aber auch mit einer nach wie vor unvollständigen europäischen Wirtschaftsregierung, mit der uns spätestens in der nächsten Krise noch einmal derselbe Ärger droht.

Bild: By Jean-Marc Ayrault, derivative work: César [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.

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