Und auf einmal geht alles
ganz schnell: François Hollande (PS/SPE)
hatte gerade mal die erste Runde der französischen
Präsidentschaftswahlen gewonnen, als der Präsident des Europäischen
Rates, Herman Van Rompuy (CD&V/EVP), eine Kapitalerhöhung der Europäischen Investitionsbank um
zehn Milliarden Euro vorschlug, aus der ein europäisches Konjunkturprogramm finanziert werden soll. Kurz darauf machte der
Währungskommissar Olli Rehn (Kesk./ELDR) deutlich, dass die
Europäische Kommission ein Auge zudrücken und Spanien, das derzeit
am meisten unter der Austeritätspolitik der EU leidet, bei der Haushaltskonsolidierung ein Jahr länger Zeit geben werde.
Gestern lud Van Rompuy die Staats- und Regierungschefs zu einem
„informellen Abendessen“ am 23. Mai, um über weitere Wachstumsmaßnahmen zu diskutieren.
Und das Erstaunlichste dabei ist, dass nicht einmal die deutsche
Bundesregierung unter
Angela Merkel (CDU/EVP) gegen diese Abkehr von dem bisherigen Sparkurs
protestiert.
Erstarken
der Sozialdemokraten
Hintergrund
dieses plötzlichen Sinneswandels ist das Wiedererstarken der
Sozialdemokratischen Partei Europas, die schon in der Vergangenheit
wiederholt Wachstum statt Austerität gefordert hatte (etwa auf ihrem
Kongress Ende November).
Lange Zeit war sie damit im konservativ dominierten Europäischen Rat
auf taube Ohren gestoßen. Doch nach einer Serie verlorener Wahlen –
zum Jahreswechsel war Belgien der größte SPE-regierte Mitgliedstaat
– deutet sich nun ein Wechsel an: Bei den britischen Kommunalwahlen
setzte sich zuletzt die Labour Party durch, in Spanien konnte die
PSOE bei Regionalwahlen in Andalusien und Asturien punkten, in
Italien liegt die SPE-nahe PD in Umfragen inzwischen deutlich vorne.
Und da die deutsche Bundesregierung für die Ratifizierung des
Fiskalpakts eine Zweidrittelmehrheit benötigt,
kann die SPD plötzlich in der deutschen Europapolitik mitreden und
eigene Bedingungen für ihre Zustimmung stellen.
Der
symbolisch wichtigste Wendepunkt aber war ohne Zweifel der Wahlerfolg
Hollandes in Frankreich, der mit dem Versprechen angetreten war, den Fiskalpakt nachzuverhandeln.
Dieses Abkommen ist gewissermaßen der Kern der europäischen
Austeritätspolitik: Er soll alle Teilnehmerstaaten dazu
verpflichten, in ihren Verfassungen die jährliche Neuverschuldung
auf 0,5 Prozent des BIP zu begrenzen – was faktisch über Jahre
hinweg auf eine massive Einschränkung aller öffentlichen
Investitionen hinauslaufen wird. Hollande kündigte an,
den Fiskalpakt nur dann zu ratifizieren, wenn er von Maßnahmen zur
Förderung des Wirtschaftswachstums begleitet würde. Nicht zuletzt
deshalb boykottierten die konservativen Regierungschefs Hollande während des
Wahlkampfs.
Dass
Van Rompuy, Rehn und indirekt auch Merkel nun noch vor Hollandes
endgültigem Sieg einlenkten, ist deshalb wohl auch Teil einer
diplomatischen Schadensbegrenzung: Die Fassade des Konsens, die man
im Europäischen Rat und teils auch in der Kommission pflegt, soll nicht durch
allzu offensichtliche Gegensätze zwischen dem neu gewählten
französischen Präsidenten und seinen Amtskollegen von der
Europäischen Volkspartei beschädigt werden. Das neue Interesse am
Wachstum soll deshalb so wenig wie möglich als eine Folge des
französischen Wählervotums erscheinen – paradoxerweise sind die
europäischen Institutionen zwar durchaus dazu bereit, Konsequenzen
aus demokratischen Abstimmungen zu ziehen, sie geben das aber nicht
gerne zu. Olli Rehn jedenfalls wiegelte jede Vorstellung einer
Kehrtwende rasch ab: Die Debatte über Haushaltskonsolidierung
und Wirtschaftswachstum, so stellte er jüngst fest, sei „eine falsche Diskussion“, denn natürlich sei beides nötig und irgendwie werde es sich schon auch miteinander vereinbaren lassen.
Wie
geht es weiter?
Doch
die Auseinandersetzung über den richtigen Weg aus der Schuldenkrise
ist real und alles andere als zu Ende. Betrachtet man die Äußerungen in
den letzten Tagen etwas genauer, so sind die Unterschiede durchaus
zu erkennen: So unterstützt die deutsche Bundesregierung zwar
die Kapitalaufstockung der Europäischen Investitionsbank, aber ob es
sich dabei um neues Geld aus den nationalen Haushalten der
Mitgliedstaaten oder nur um eine Umschichtung aus dem alten Euro-Rettungsschirm EFSM
handeln wird, ist noch unklar. Ohnehin betonen Angela Merkel und ihr
Finanzminister Wolfgang Schäuble bei jeder Gelegenheit, dass man
mehr Wachstum auch ohne staatliche Investitionen haben könne, etwa
durch Arbeitsmarktreformen wie die Lockerung des Kündigungsschutzes.
Olli Rehn und Kommissionspräsident José Manuel Durão Barroso
(PSD/EVP) wiederum kamen in den letzten Tagen wieder einmal auf die
Einführung von Eurobonds zurück, also gemeinsamen Anleihen der
EU-Mitgliedstaaten, was der Bundesregierung kaum gefallen
dürfte. Und während Hollande noch einmal betonte, den Fiskalpakt in
der jetzigen Form nicht akzeptieren zu wollen, machten die
Bundesregierung, aber auch der luxemburgische Ministerpräsident und
Eurogruppen-Vorsitzende Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) deutlich, dass
sie sich auf keinen Fall auf eine vollständige Neuverhandlung einlassen
würden.
Immerhin
aber erklärte sich Hollandes Wahlkampfleiter Pierre Moscovici
(PS/SPE) zuletzt zuversichtlich, „dass man einen Kompromiss finden wird“. Wie
dieser aussehen könnte, wurde bislang noch nicht offiziell
angekündigt. Doch einiges spricht dafür, dass der Fiskalpakt am
Ende intakt bleiben wird. Denn erstens werden die wichtigsten
EU-Organe trotz Hollandes Wahlsieg nach wie vor von der Europäischen
Volkspartei dominiert, die hinter dem Pakt steht. Zweitens haben
einige Staaten den Vertrag bereits ratifiziert und in Irland wird
schon am 31. Mai ein Referendum darüber stattfinden – bei einem Ja würde die irische Regierung dieses
wohl kaum für einen leicht veränderten Pakt wiederholen wollen. Und
drittens deutet die jüngste Ankündigung Olli Rehns zur spanischen
Haushaltskonsolidierung bereits an, wie dem Fiskalpakt die
austeritätspolitische Spitze genommen werden kann: Dieser überlässt
nämlich der Kommission einen gewissen Handlungsspielraum bei der
Frage, wie streng mit Staaten umgegangen wird, die unter Berufung auf
„außergewöhnliche Umstände“ von ihren Defizitzielen abweichen.
Die Kommission kann sich also zu einer laxen Interpretation des Pakts
entscheiden – und damit dessen schlimmste Konsequenzen verhindern.
Konjunkturprogramm
für Südeuropa
Wahrscheinlich
ist also, dass der Fiskalpakt zuletzt nicht verändert, sondern
lediglich um flankierende Maßnahmen zum Wachstum ergänzt werden
wird. Die entscheidende Frage wird letztlich sein, wie diese
Maßnahmen aussehen werden. Hierzu zeichnen sich nun drei
Möglichkeiten ab: Der Europäische Rat kann sich erstens auf eine
reine Absichtserklärung beschränken, in der er die Bedeutung des
Wirtschaftswachstums betont und alle Mitgliedstaaten auffordert, ein
bisschen Konjunkturförderung zu betreiben, sofern ihre Haushaltslage
das zulässt. Dies würde weitgehend folgenlos bleiben und wäre wohl
die von der Bundesregierung bevorzugte Lösung; für Hollande
hingegen wäre es eine deutliche Niederlage, die er sich so kurz nach
seiner Amtseinführung kaum leisten wird.
Die
zweite, wahrscheinlichere Option ist deshalb ein – wie auch immer
geartetes – Wachstumspaket in Form eines Konjunkturprogramms, etwa
entsprechend dem Vorschlag von Herman Van Rompuy durch die
Europäische Investitionsbank. Zweck eines solchen Programms wäre
die Überwindung der aktuellen Wirtschaftskrise, bei der die
Rezession auch die Staatsverschuldung in den südeuropäischen
Ländern immer weiter wachsen lässt. Auch wenn die Finanzierung
formell gemeinschaftlich erfolgen würde, liefe es auf einen
einmaligen Milliardentransfer von den reicheren an die ärmeren
Mitgliedstaaten hinaus: Nur so ließe sich der Teufelskreis
durchbrechen, dass Länder wie Spanien und Griechenland Investitionen
benötigen, um ihr Schuldenproblem zu lösen, aufgrund ihres
Schuldenproblems diese Investitionen jedoch selbst nicht tätigen
können.
Eine
solche Einigung würde womöglich genügen, um alle Mitglieder des
Europäischen Rates zufriedenzustellen: François Hollande könnte
seinen Wählern das angekündigte Wachstumspaket präsentieren,
während Angela Merkel im Bundestag darauf verweisen könnte, den
Fiskalpakt vor dem Zugriff des französischen Sozialisten gerettet zu
haben. Strittig wäre allenfalls die Höhe des Konjunkturprogramms.
Ein
Wachstumspakt gegen das wirtschaftspolitische Ungleichgewicht
Doch
bei näherem Hinsehen würde auch diese zweite Lösung auf die Dauer
kein Gegengewicht zum Fiskalpakt schaffen – denn Letzterer ist auf
unbegrenzte Zeit angelegt, während ein Konjunkturprogramm, das nur
auf die aktuelle Krise zugeschnitten ist, spätestens in einigen
Jahren auslaufen würde. Damit aber würde es keine Abhilfe gegenüber
der seltsamen wirtschaftspolitischen Schieflage schaffen, die zuletzt
in das europäische Verfassungsrecht Einzug gehalten hat.
Die
Euro-Krise hat vor allem verdeutlicht, wie notwendig es ist, die
makroökonomische Steuerung der Währungsunion besser zu
koordinieren. Die Haushalts- und Wirtschaftspolitik jedes einzelnen
Mitgliedstaats beeinflusst die Lage in allen anderen: Wenn Staaten
sich zu sehr verschulden und ihre Kredite zuletzt nicht zurückzahlen
können, so wird das Bankensystem und die Preisstabilität auch in den anderen Ländern gefährdet. Wenn
Staaten dagegen zu stark sparen, etwa weil sie sich gerade in einem
Aufschwung befinden, so können sie die anderen, denen es
konjunkturell schlechter geht, in eine Rezession stürzen. Die
Mitgliedstaaten müssten deshalb, wie es in Art. 121 AEU-Vertrag heißt,
ihre
Wirtschaftspolitik als „eine Angelegenheit von gemeinsamem
Interesse“ behandeln. Wie sich gezeigt hat, funktioniert dies aber
nicht, solange es dafür keine wirksamen supranationalen
Kontrollmechanismen gibt.
Die
Beschlüsse der letzten Monate – der Fiskalpakt, aber auch die
Sixpack-Rechtsakte –
adressierten den ersten Teil dieses Problems, indem sie vor allem die
Kontrollmöglichkeiten der Europäischen Kommission steigerten. Wenn
Mitgliedstaaten eine zu lockere Haushaltspolitik betreiben und zu
hohe Defizite schreiben, so kann die Kommission sie nun durch
vereinfachte Sanktionsmechanismen auf einen Austeritätskurs zwingen.
Wozu es bisher jedoch noch keine Beschlüsse gibt, ist die andere
Seite einer antizyklischen Wirtschaftspolitik: Wenn Staaten sich
weigern, ihren Beitrag zu einer Wiederbelebung der europäischen
Konjunktur zu leisten, hat die Kommission nach wie vor keine Handhabe
gegen sie. Deutschland ist in diesen Monaten das beste Beispiel
dafür.
Und
das wäre also das dritte und beste mögliche Ergebnis für das
Treffen des Europäischen Rates in zwei Wochen: nicht nur ein
Wachstumspaket, bei dem sich die Staats- und Regierungschefs einmalig
auf ein Investitionsprogramm für Südeuropa einigen, sondern ein
Wachstumspakt, der Mechanismen festlegt, wie man solche Programme
künftig gemeinsam erarbeitet, ohne dass sie von einzelnen Staaten
blockiert werden können. Man könnte das, entsprechend dem Vorbild
des Fiskalpakts, durch gemeinsame europäische Regeln bei der
Ausgestaltung der nationalen Haushalte bewerkstelligen – oder,
einfacher, indem man das Budget der EU selbst so aufstockt, dass es
konjunkturpolitisch relevant wird. So oder so: Eine wirksame
makroökonomische Steuerung auf europäischer Ebene wird es erst dann
geben, wenn die europäischen Institutionen je nach Bedarf nicht nur eine Senkung, sondern auch eine Steigerung
der öffentlichen Ausgaben anordnen können.
Nur mit
einer solchen Reform würde sich die Europäische Union doch
noch in die „Fiskalunion“ verwandeln, die zur Vermeidung
künftiger Krisen notwendig ist. Doch bei aller Wachstumsrhetorik
scheint es selbst bei François Hollande mehr als fraglich, ob er
sich auf einen solchen Verzicht auf nationale Souveränität
einlassen würde. Und so werden es die Staats- und Regierungschefs
wohl wieder einmal bei einer halben Lösung belassen: mit einem
Konjunkturpaket, das uns zwar mit ein wenig Glück aus der heutigen
Rezession herausführen kann – aber auch mit einer nach wie vor
unvollständigen europäischen Wirtschaftsregierung, mit der uns
spätestens in der nächsten Krise noch einmal derselbe Ärger droht.
Bild: By Jean-Marc Ayrault, derivative work: César [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.
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