- Das Verhältnis zwischen Friedrich Merz und Ursula von der Leyen wird einer der Schlüsselfaktoren dafür sein, wie konstruktiv Deutschland in Europa auftritt.
Bei der deutschen Bundestagswahl am 23. Februar 2025 hat die konservative CDU (EVP) den ersten Platz belegt, gefolgt von der rechtsextremen AfD (ESN). Jetzt stehen Koalitionsverhandlungen an, deren Ergebnis letztlich über die Zusammensetzung der nächsten Regierung entscheiden wird. Aller Wahrscheinlichkeit nach aber wird CDU-Chef Friedrich Merz der nächste Bundeskanzler werden, vermutlich mit der SPD (SPE) als Juniorpartner in der Koalition.
Die letzten 3,5 Jahre waren ernüchternd. Die „Ampel“-Koalition aus SPD, Grünen (EGP) und FDP (ALDE) hat es trotz der ehrgeizigen Vorhaben ihres Koalitionsvertrags nicht geschafft, in der Europapolitik eine konstruktive Rolle zu spielen. Die Kompromissfindung in einer Dreierkoalition erwies sich als schwierig, und die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland, ohnehin nicht in bester Verfassung, verschlechterten sich weiter.
Angesichts der aktuellen geopolitischen Lage wird die neue Regierung viel mehr Führungsstärke in der EU zeigen müssen als die bisherige. Doch ob sie das wirklich wird leisten können, ist eine andere Frage.
Eine handlungsfähigere neue Regierung?
Wenn sich die Koalitionsparteien nicht einig sind, muss sich Deutschland im Rat der EU der Stimme enthalten, das sogenannte „German Vote“. Dies war bereits unter Angela Merkel der Fall, kam unter der Ampelkoalition aber noch deutlich häufiger vor. In der Praxis bedeutet es, dass Deutschland manchmal EU-Gesetze blockiert, da bei der Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit Enthaltungen wie Gegenstimmen gewertet werden. In Fällen wie der Lieferketten-Richtlinie (CSDDD), der Verpackungsverordnung (PPWR) oder dem Europäischen AI-Gesetz hat sich Deutschland nicht nur der Stimme enthalten, sondern manchmal sogar zuvor getroffene Entscheidungen rückgängig gemacht.
Dies hat zwei Auswirkungen: Zum einen wird es dadurch für andere Mitgliedstaaten schwieriger, stabile Mehrheiten zu finden. Zum anderen untergräbt es die Entscheidungskultur der EU, indem es andere Mitgliedstaaten dazu ermutigt, sich genauso zu verhalten.
Viele in den EU-Institutionen und den Mitgliedstaaten hoffen, dass die neue Regierung ein verlässlicherer Partner sein wird. Merz hat versprochen, Deutschland wieder mit einer Stimme sprechen zu lassen. Seine Regierung wird wahrscheinlich nur aus zwei Parteien bestehen, was es leichter machen könnte, eine gemeinsame Basis zu finden. Zudem scheint es, als wolle er die Europapolitik zur „Chefsache“ machen, indem er dem Kanzleramt mehr Entscheidungsmacht einräumt. Dies könnte eine positive Entwicklung sein: Damit Europa mit einer einheitlichen Stimme sprechen kann, ist eine einheitliche deutsche Stimme unverzichtbar.
Das Verhältnis zwischen Merz und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wird ein anderer Schlüsselfaktor dafür sein, wie konstruktiv Deutschland in Europa auftritt. Wenn die beiden Politiker:innen eine gute Gesprächsbasis entwickeln, könnte der nächste Bundeskanzler Deutschland wieder eine starke Führungsrolle in Europa verschaffen. Für die Auseinandersetzung mit einer zunehmend unfreundlichen US-Regierung und für die Unterstützung der Ukraine werden solch enge, vertrauensvolle Beziehungen von zentraler Bedeutung sein.
Welche Europapolitik ist zu erwarten?
Wenig überraschend dominierten die Themen Sicherheit und Verteidigung die Wahlprogramme der deutschen Parteien. Das CDU-Programm unterstützt eine stärkere Basis für die europäische Verteidigungsindustrie, eine gemeinsame Koordinierung von Verteidigung und Sicherheit, eine Aufstockung der Mittel für die Bundeswehr und die weitere Unterstützung der Ukraine. Hier werden CDU und SPD wahrscheinlich eine Einigung finden, auch wenn (der scheidende) Scholz eine gewisse Abneigung gegen die Entsendung deutscher Panzer in die Ukraine gezeigt hat.
Die entscheidende Frage wird sein, inwieweit die deutschen Entscheidungsträger:innen nach den drastischen Ankündigungen von Präsident Trump und Vizepräsident J.D. Vance zur Ukraine ihre transatlantische Haltung ablegen können – und ob sie bereit und in der Lage sind, Sicherheitsgarantien und Finanzmittel für mehr europäische Zusammenarbeit bereitzustellen. Unmittelbar nach seinem Wahlsieg erklärte Merz, dass Europa von den USA unabhängiger werden müsse, und gab damit einen klaren Hinweis auf die von ihm angestrebte Marschrichtung.
Einigung zur Reform der Schuldenbremse
Anfang März kündigten Scholz und Merz im Rahmen der Koalitionsverhandlungen Reformen der deutschen Finanzpolitik an, die eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben ermöglichen sollen. Dazu gehört eine Reform der „Schuldenbremse“, die die deutsche Verschuldung auf 0,35 % des BIP begrenzt. Künftig würde diese Bremse nicht mehr auf Verteidigungsausgaben oberhalb von 1 % des BIP angewandt werden, was nahezu unbegrenzte Verteidigungsausgaben ermöglichen würde. Dieser Kompromiss wurde überraschend schnell ausgehandelt und versöhnte die ursprünglich recht gegensätzlichen Positionen der beiden voraussichtlichen künftigen Regierungsparteien zu diesem Thema.
Dass Deutschland bereit ist, bedeutende Investitionen zu tätigen, ist eine gute Nachricht für die Verteidigung und ein starkes Signal an die europäischen Partner, auch im Hinblick auf das von von der Leyen angekündigte gesamteuropäische Verteidigungspaket mit dem Titel „ReArm Europe“. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie sich Deutschland bei den Verhandlungen über schwierige Haushaltsfragen, wie den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen und die Erhebung der EU-Eigenmittel, positionieren wird.
Wettbewerbsfähigkeit und Infrastruktur-Investitionen
Wirtschaftspolitisch stimmt das CDU-Programm weitgehend mit der Agenda der Kommission überein. Es konzentriert sich stark auf die Wettbewerbsfähigkeit und vertritt die Auffassung, dass Bürokratieabbau und Deregulierung zu einer stärkeren EU-Wirtschaft führen werden. Sie befürwortet das „Omnibus-Paket“ und ist für die Rücknahme einiger Klimagesetze.
Die SPD will die marode deutsche Wirtschaft ebenfalls stärken. Allerdings unterscheiden sich die Auffassungen über den richtigen Weg dorthin, insbesondere was die Investitionsfähigkeit Deutschlands und die grüne Wende betrifft. Immerhin haben die Konservativen und die Sozialdemokrat:innen für die kommende Koalition aber ein Sondervermögen von 500 Milliarden Euro für die Infrastruktur vorgeschlagen. Darin enthalten wären zusätzliche Mittel für die Verkehrs- und Energieinfrastruktur, Krankenhäuser und Schulen sowie für die digitale Transformation, bei der Deutschland immer noch hinter seinen europäischen Nachbarn herhinkt.
Das Thema Migration schließlich spielte im Wahlkampf zwar eine wichtige Rolle, aber hauptsächlich aus nationaler Sicht. Die wiederholten Verstöße Deutschlands gegen die Schengen-Bestimmungen könnten auf EU-Ebene allerdings problematisch werden, und auch die zunehmend harte Linie in der Migrationsfrage könnte zu Reibungen mit anderen europäischen Partnern führen.
Regierung der letzten Chance?
Wer auch immer die neue Koalition bildet, wird wahrscheinlich von der AfD, der größten Oppositionspartei, stark unter Druck gesetzt werden. Sie hat mehr als 20 % der Stimmen gewonnen und den Wahlkampf stark beeinflusst.
Sollte die Regierung Merz nicht erfolgreich sein, könnte die AfD bei den Wahlen 2029 den ersten Platz belegen. Die (bereits brüchige) „Brandmauer“ könnte dann endgültig fallen. Wie gut die AfD abschneidet, hängt von den Parteien der Mitte und vor allem von der CDU ab. Merz’ Versuch, AfD-Wähler:innen zu gewinnen, indem er wenige Wochen vor der Wahl härtere neue Migrationsregeln vorschlug, hat sich für ihn nicht ausgezahlt – wie man in anderen Ländern gesehen hat, bevorzugen die Wähler:innen in solchen Fällen das Original. Doch auch wenn im AfD-getriebenen Wahlkampf die Migration im Mittelpunkt stand, wird der entscheidende Faktor in den nächsten Jahren die Entwicklung der deutschen Wirtschaft sein.
Auf jeden Fall ist der Druck enorm. Während es wie andere EU-Länder mit hoher Inflation und steigenden Lebenshaltungskosten zu kämpfen hat, ist Deutschland zudem mit dem Zusammenbruch seines langjährigen „Geschäftsmodells“ konfrontiert, das sich auf den umfangreichen Handel mit China, billige Energie aus Russland und Sicherheitsgarantien der USA stützte. Angesichts der wirtschaftlichen und geopolitischen Lage muss Deutschland seine europapolitischen Ziele klar definieren, gemeinsame Grundlagen mit seinen Verbündeten suchen, seine Kompromissbereitschaft unter Beweis stellen und konstruktiv mit seinen europäischen Partnern zusammenarbeiten.
Vor allem aber sollte die nächste deutsche Regierung anerkennen, dass ihr nationales Interesse klar in einer starken EU liegt. Angesichts des Umstands, dass die USA eher Russland als die Ukraine unterstützen, muss die nächste deutsche Regierung alles dafür tun, die Sicherheit und Verteidigung Europas zu verbessern und seine Wirtschaft zu stärken. Merz’ Besuch in Paris unmittelbar nach den Wahlen und die Ankündigung, dass seine ersten Staatsbesuche Polen und Frankreich gelten werden, senden die richtigen Signale: Deutschland wird hoffentlich ein verlässlicher Partner für seine Nachbarn sein, der in diesen schwierigen Zeiten ehrgeizige Ziele verfolgt.
Sophie Pornschlegel ist stellvertretende Direktorin bei Europe Jacques Delors in Brüssel. |
Sophia Russack ist Forscherin am Centre for European Policy Studies (CEPS) in Brüssel. |
Eine frühere Fassung dieses Artikels ist zuerst auf Englisch auf den Webseiten des Centre for European Policy Studies und von Europe Jacques Delors erschienen.
Bilder: Merz und von der Leyen: European People’s Party, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons [cropped]; Porträts Sophie Pornschlegel, Sophia Russack: privat [alle Rechte vorbehalten].
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