22 April 2017

EU-Reform: Wo sollten unsere Prioritäten liegen?

Welches ist das schönste Ei im Osternest?
Na klar: Die EU hat einigen Reformbedarf, und es gibt eine ganze Reihe von guten und sehr konkreten Vorschlägen, was man tun könnte, damit sie wieder auf die Beine kommt. Wer an einer Übersicht über solche Änderungsideen interessiert ist, wird auf diesem Blog zum Beispiel hier, hier oder hier fündig.

Aber welche dieser Vorschläge sind eigentlich die wichtigsten? Wenn wir nicht alle Ideen zur Verbesserung der Europäischen Union umsetzen können, worauf sollten wir unsere Priorität legen? Welche umsetzbare Einzelmaßnahme hätte die größte Hebelwirkung, um die europäische Integration wieder in Gang zu bringen und die demokratische Legitimität und gesellschaftliche Akzeptanz der EU zu erhöhen? Kurz gesagt: Wenn du nur eine Sache an der Europäischen Union verändern könntest, was wäre es?

Eine neue Debatte über Reformprioritäten

Diese Frage wurde auf diesem Blog verschiedentlich in Gastbeiträgen und Interviews behandelt, erfreut sich derzeit aber auch anderswo einiger Beliebtheit: Die Online-Zeitung Politico Europe stellte sie vor einigen Wochen sieben europäischen Politikern, junge Aktivisten wenden sich damit an ihre Follower auf Twitter. Und auch die Europa-Union Deutschland fragte jüngst ihre Mitglieder, welche ihrer europapolitischen Forderungen sie während des Bundestagswahlkampfs in den Vordergrund stellen soll.

Hintergrund für dieses verstärkte Interesse an Reformplänen und -prioritäten dürfte zum einen sein, dass auch in den EU-Institutionen in letzter Zeit viel von der „Zukunft Europas“ die Rede war, ohne dass aber die Kommission in ihrem Weißbuch dazu klare Zielvorstellungen entwickelt hätte. Zum anderen hat in Deutschland zuletzt die Pulse-of-Europe-Bewegung ein großes Mobilisierungspotenzial entwickelt, blieb aber bei ihren Überlegungen, wie es mit der EU weitergehen soll, ebenfalls allzu vage. Zeit also für Nägel mit Köpfen: Für welche EU-Reform würde es sich wirklich zu demonstrieren lohnen? Was sind die Vorschläge, die wir in den Wahlprogrammen der europäischen Parteien und im nächsten Weißbuch der Kommission auf keinen Fall vermissen wollen?

EU-Armee oder europäische Arbeitslosenversicherung?

Stellt man aktiven Politikern diese Frage, so hört man als Antwort oft Lösungsvorschläge zu konkreten Sachfragen. Vor allem in konservativen Kreisen erfreut sich etwa die Idee einer europäischen Armee großer Beliebtheit, von der sie sich nicht nur eine bessere Verteidigung gegen externe Bedrohungen, sondern auch eine Katalysatorwirkung beim Aufbau starker europäischer Institutionen versprechen. Linke Politiker wiederum erhoffen sich einen neuen Integrationsschub eher von sozialpolitischen Projekten, etwa einer europäischen Arbeitslosenversicherung – die nebenbei auch noch den Vorteil hätte, ein zentrales Problem bei der Stabilisierung der Eurozone zu lösen.

Hinter diesen beiden Vorschlägen steht letztlich eine ähnliche Logik. Zum einen sollen sie konkrete Sachprobleme lösen und dadurch gegenüber den Bürgern deutlich machen, dass die Existenz der EU durchaus ihren Nutzen hat. Zum anderen haben sie aber auch eine symbolpolitische Ebene: Sowohl die EU-Armee als auch die gemeinsame Arbeitslosenversicherung wären die institutionelle Verankerung einer staatenübergreifenden Solidarität, die bei den Bürgern zur Entstehung einer gemeinsamen europäischen Identität führen soll. Ob als Kampf- oder als Sozialgemeinschaft – je mehr Europäer füreinander einstehen und voneinander Hilfe erfahren, desto eher würden sie sich künftig als Teil eines gemeinsamen Ganzen verstehen.

Andere wiederum erhoffen sich eine solche Stärkung der europäischen Identität eher durch mehr Auslandserfahrungen und persönliche Kontakte zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft. Für die Wiederbelebung der europäischen Integration setzen sie deshalb auf Maßnahmen wie Free Interrail oder eine Ausweitung des Austauschprogramms Erasmus Plus.

Das Kernproblem der EU ist institutionell

Nun haben all diese Vorschläge ihre Verdienste, auch wenn man im Einzelnen sicher gut darüber streiten kann, wie stark ihre Auswirkungen auf die europäische Identität tatsächlich wären. Aber wären solche sachpolitischen Maßnahmen wirklich das beste Mittel, um die Zustimmung zur europäischen Integration zu sichern? Ich denke, nein. Denn das Kernproblem liegt nicht in der Sachpolitik, sondern in der Funktionsweise ihrer Institutionen.

Solange wesentliche Entscheidungen unter den Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat getroffen werden, ist das Bild der EU stets von zwischenstaatlichen Verhandlungen, nationalen Interessenkonflikten und diplomatischen Machtkämpfen geprägt. Unter diesem Umständen werden aber auch alle Versuche, auf gesellschaftlicher Ebene ein europäisches Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen, politisch fruchtlos bleiben.

Damit die europäischen Bürger die EU als ihre eigene politische Organisation wahrnehmen, müssen sie europäische Beschlüsse als das Ergebnis einer gemeinsamen demokratischen Entscheidungsfindung wahrnehmen – und das geht nur, indem man den Einfluss der nationalen Regierungen auf die europäische Politik verringert und dafür überstaatlich-demokratische Verfahren stärkt. Aber welche institutionellen Reformen versprechen die beste Hebelwirkung für die weitere Entwicklung der europäischen Demokratie?

Direktwahl des Kommissionspräsidenten?

Ein Vorschlag, der schon seit langem immer wieder genannt wird, ist die Direktwahl des Kommissionspräsidenten. Als Chef der europäischen Exekutive ist der Kommissionspräsident einer der prominentesten Entscheidungsträger in der Europäischen Union. Ihn unmittelbar vom Volk wählen zu lassen, sollte ihm eine starke demokratische Legitimation verschaffen – vergleichbar zum Beispiel mit dem Präsidenten der USA.

Warum ich selbst von diesem Vorschlag jedoch wenig überzeugt bin, habe ich auf diesem Blog bereits vor einigen Jahren erklärt. Die Direktwahl eines einzelnen Amtsträgers hat nur dann wirklich Sinn, wenn sich auch sehr viel Macht in diesem Amt konzentriert. Im politischen System der EU heute ist das nicht der Fall. Während zum Beispiel der US-amerikanische Präsident im Alleingang executive orders erlassen kann, kommen in Europa dank des Komitologie-Verfahrens selbst Durchführungsrechtsakte der Kommission nicht ohne Kontrolle der nationalen Regierungen zustande. Und auch innerhalb der Kommission hat der Präsident zwar eine Art Richtlinienkompetenz, doch Entscheidungen kann er nur im Kollegium mit den übrigen Kommissaren treffen, die wiederum von den nationalen Regierungen nominiert sind.

Die EU ist eine parlamentarische Demokratie

Eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten würde also entweder zu einem „weißen Elefanten“ führen – einem Amt, mit dem enorme Legitimationserwartungen verbunden wären, die es aber niemals einlösen könnte. Oder wir müssten zugleich auch das politische System der EU so umbauen, dass es hierarchisch auf den Präsidenten zugeschnitten ist.

Eine starke, hierarchische, unabhängige Exekutive aber stünde nicht nur im Gegensatz zu den nationalen politischen Systemen fast aller EU-Mitgliedstaaten, von denen nur das kleine Zypern den Regierungschef direkt wählen lässt. (In einigen anderen Staaten wie Frankreich, Rumänien oder Österreich wird der Staatspräsident direkt gewählt; der größere Teil der exekutiven Macht liegt jedoch auch hier jeweils bei einem Regierungschef, der dem nationalen Parlament gegenüber verantwortlich ist.)

Sie widerspräche auch der bisherigen Entwicklung der EU-Demokratie, die eher auf eine Parlamentarisierung und eine Stärkung der europäischen Parteien ausgerichtet war. Tatsächlich haben diese bei der Europawahl 2014 ja bereits Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten nominiert und damit die Grundlagen für ein parlamentarisches Regierungssystem gelegt. Diese Parlamentarisierung weiter voranzutreiben ist für dem Ausbau der europäischen Demokratie insgesamt erfolgversprechender als der Strukturbruch, den eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten mit sich brächte.

Initiativrecht für das Europäische Parlament?

Wie aber lässt sich das Europäische Parlament am besten stärken? Fast keine Diskussion über diese Frage kommt ohne den Vorschlag aus, ein Initiativrecht des Europäischen Parlaments im Gesetzgebungsverfahren einzuführen. Bislang liegt das Recht zur Gesetzesinitiative in der EU mit ganz wenigen Ausnahmen allein bei der Europäischen Kommission (Art. 17 Abs. 2 EUV). Diese Regel stammt aus einer Zeit, in der das Europäische Parlament noch überhaupt keine gesetzgeberischen Mitentscheidungsrechte besaß, und sollte ursprünglich die Kommission gegenüber den nationalen Regierungen stärken. Heute aber erscheint sie als bizarre demokratische Anomalie: Tatsächlich dürfte es weltweit kaum ein zweites Parlament geben, das nicht die Möglichkeit hat, aus eigener Kraft Gesetzgebungsprozesse einzuleiten.

Bei genauerem Hinsehen verliert die Frage des Initiativrechts allerdings drastisch an Bedeutung. Denn zum einen hat das Europäische Parlament nach Art. 225 AEUV schon heute die Möglichkeit, die Europäische Kommission zur Vorlage eines Rechtsakts aufzufordern. Das Parlament ist also durchaus in der Lage, aus eigenem Antrieb Themen auf die politische Tagesordnung zu setzen.

Entscheidend ist die Verbindung von Parlament und Kommission

Und zum anderen ist es auch auf nationaler Ebene weit verbreitet, dass das Parlament zwar formal ein Initiativrecht besitzt, in der Praxis aber die meisten Gesetzesvorschläge von der Regierung ausgehen. Das hat den einfachen Grund, dass die Regierung über einen größeren Beamtenapparat verfügt, der bei der Formulierung der Gesetzestexte hilfreich ist. Vor allem aber wird in einer parlamentarischen Demokratie die Regierung von der Parlamentsmehrheit gewählt und abgewählt, sodass es zwischen ihnen ohnehin keinen programmatischen Gegensatz gibt.

Das eigentliche politische Entscheidungszentrum sind vielmehr die Spitzengremien der Parteien, aus denen sich sowohl die Parlamentsmehrheit als auch die Regierung zusammensetzen. Nicht zufällig prägen in einer parlamentarischen Demokratie deshalb Parteigegensätze meist den politischen Diskurs, und letztlich sind sie es ja auch die Parteien, die bei der Wahl von den Bürgern demokratisch legitimiert werden.

Die entscheidende Frage für den Ausbau der EU zu einer parlamentarischen Demokratie ist also nicht, wie genau spezifische Kompetenzen wie das Initiativrecht zwischen Parlament und Kommission verteilt sind. Entscheidend ist vielmehr, wie das europäische politische System so gestaltet werden kann, dass die Kommission und die Parlamentsmehrheit derselben politischen Linie folgen – nämlich der Linie jener europäischen Parteien, die bei der Europawahl eine Mehrheit gewonnen haben.

Wahl der Kommission durch das Europäische Parlament

Dafür aber gibt es vor allem ein Mittel, über das ich auf diesem Blog bereits verschiedentlich geschrieben habe (siehe hier und hier): nämlich die Wahl der Europäischen Kommission allein durch das Europäische Parlament. Tatsächlich braucht die Kommission vor ihrem Amtsantritt schon heute ein Zustimmungsvotum des Parlaments. Nominiert werden die Kommissare jedoch von ihren jeweiligen nationalen Regierungen. In der parteipolitischen Zusammensetzung entspricht die Kommission deshalb eher dem Europäischen Rat als dem Parlament – und auch wenn die Kommissare nach Amtsantritt keine Weisungen von ihrer nationalen Regierung annehmen dürfen, wissen sie natürlich, dass sie für ihre Wiederwahl in erster Linie auf die Unterstützung eben jener Regierung angewiesen sind.

Würde man die Wahl der Kommission (und ihre Abwahl durch ein konstruktives Misstrauensvotum) hingegen allein dem Parlament überlassen, käme es zwischen beiden zu der gemeinsamen Linie, wie sie für ein parlamentarisches Regierungssystem üblich ist. Zugleich würde sich auch die strukturelle Loyalität der europäischen Spitzenpolitiker verschieben: Um ein Kommissarsamt zu erhalten, bräuchten sie nun nicht mehr die Unterstützung ihrer nationalen Regierung, sondern ihrer europäischen Partei.

Und schließlich würde durch die Kommissionswahl auch innerhalb des Parlaments ein klarer Gegensatz zwischen Mehrheits- und Minderheitsparteien entstehen – und damit eine parlamentarische Opposition, die bei der Europawahl eine glaubwürdige Alternative zum bisherigen Kurs repräsentieren könnte. Sie ist deshalb auch ein Schritt in Richtung jener demokratischen Alternanz, die das sicherste Mittel gegen den Aufstieg nationalpopulistischer Europagegner ist.

Ein Hebel für andere Reformen


Auf jeden Fall aber wäre sie geeignet, um die Art der demokratischen Willensbildung auf EU-Ebene insgesamt zu verändern. Indem sie Kommission und Parlament enger aneinander bindet, würde sie zu einer neuen Dynamik in der europapolitischen Auseinandersetzung führen und könnte deshalb ein Hebel sein, um später auch in anderen Bereichen voranzukommen. Wenn ich also eines an der Funktionsweise der Europäischen Union verändern könnte: Hier wäre ein heißer Kandidat.

Transnationale Listen zur Europawahl

Allerdings gibt es auch noch eine weitere Reform, die es verdient hat, in der Prioritätenliste ganz vorne zu stehen: die Einführung transnationaler Listen bei der Europawahl, für die sich mit dem Austritt Großbritanniens gerade auch noch ein besonderes Gelegenheitsfenster geöffnet hat.

Aber dazu demnächst mehr in einem eigenen Artikel.

Bild: Tim Reckmann [CC BY-NC 2.0], via Flickr.

3 Kommentare:

  1. Für mich hat eine europäische Verfassung oberste Priorität. Ich schlage das ja auch im Rahmen meines Konzeptes der Europäischen Föderation vor - das Volker Herres im Presseclub schön bezeichnete, als eine Verfassung der zwei Geschwindigkeiten.

    Dadurch könnten dann viele Konstruktionsfehler der EU beseitigt werden.

    Wenn Sie Interesse haben, Herr Müller, können Sie sich über das Konzept hier informieren: http://www.mister-ede.de/politik/die-europaeische-foederation/5216

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    1. Hm. Der Ansatz dieses Artikels war es, eine einzelne Reform zu identifizieren, die einen Hebel für die demokratische Weiterentwicklung der EU bietet. Da man in der politischen Auseinandersetzung nicht immer alles erreicht, was man gerne hätte, ist es hilfreich, sich über die Prioritäten Gedanken zu machen, auf die man die größte Aufmerksamkeit richten und die man mit dem größten Einsatz verfolgen sollte. Es geht in dem Artikel darum, eine Art Minimalprogramm zu formulieren: "Wenn wir nur eines ändern könnten, was sollte das sein?"

      Eine ganz neue Verfassung zu entwickeln ist hingegen ein Maximalprogramm: "Wie stellen wir uns einen funktionierenden Endzustand vor?" Auch das hat natürlich durchaus seinen Sinn, und im ersten Absatz des Artikels habe ich ja einige Beispiele für solche Maximalprogramme verlinkt. Aber es ist ein gänzlich anderer Ansatz, der deshalb nicht an dieser Stelle diskutiert werden sollte.

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    2. Wenn Sie z.B. eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten als mögliche Reform nennen, dann sagt das ja auch noch nichts über das Wahlverfahren aus (z.B. über Wahlmänner wie in den USA).

      Bei der europäischen Verfassung der zwei Geschwindigkeiten ist das ähnlich. Für mich hat das oberste Priorität, aber wie diese dann im Einzelnen ausgestaltet wird, ist für mich nachrangig - auch wenn ich dazu im Rahmen der Europäischen Föderation natürlich einen Vorschlag mache.

      Insofern sehe ich da jetzt nicht so den Unterschied. Wichtig ist mir halt, wir hatten das hier auch schon mal diskutiert, dass z.B. in Deutschland nicht mehr das GG und in Frankreich die franz. Verfassung über den EU-Verträgen stehen, sondern eine gemeinsame Verfassung existiert - zumindest für die Länder, die sich tiefer integrieren wollen.

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