So viele Menschen, die für die europäische Integration auf die Straße gehen, hat man in Deutschland seit mindestens zwei Generationen nicht erlebt: Seit mehreren Wochen organisiert die Bürgerbewegung Pulse of Europe jeden Sonntag um 14 Uhr Kundgebungen, mit immer mehr Teilnehmern (zuletzt über 20.000) in immer mehr Städten (zuletzt 61, zwölf davon außerhalb von Deutschland). Während des gesamten Konstitutionalisierungsprozesses der EU in den 1990er und 2000er Jahren, der vom Vertrag von Maastricht über den gescheiterten Verfassungsvertrag bis zum Vertrag von Lissabon führte, gab es keine damit vergleichbare öffentliche Mobilisierung. Tatsächlich war es in Strategiedebatten unter deutschen Europa-Aktivisten bis vor kurzem noch weitgehend Konsens, dass Großdemonstrationen nicht besonders vielversprechend wären, da Europa doch ohnehin kein Thema sei, mit dem sich die Massen begeistern ließen. So ändern sich die Zeiten.
Wofür steht Pulse of Europe?
Doch wofür steht Pulse of Europe eigentlich genau? Von Teilnehmern der weitgehend dezentral organisierten Demonstrationen ist immer wieder zu hören, dass man „für etwas, nicht gegen etwas“ sein wolle. Das klingt sehr konstruktiv und optimistisch, ist aber erst einmal eine logische Leerformel – schließlich dreht sich politisches Handeln immer darum, einen bestimmten Zustand anzustreben und andere abzulehnen.
Auch
die „zehn Grundthesen“, die den programmatischen Rahmen von Pulse of Europe bilden, helfen nur wenig
weiter: In ihnen wird die
Europäische Union als „Bündnis zur Sicherung des Friedens“
gelobt, das es gegen die „antieuropäischen Kräfte“ zu
verteidigen gelte.
Der „europäische Gedanke“
soll „wieder sichtbar und hörbar“ werden. „Grundrechte und
Rechtsstaatlichkeit“ sind in ganz Europa zu respektieren.
Die vier Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarkts sind
„historische Errungenschaften“, deren Beschneidung „dramatische
wirtschaftliche und persönliche Folgen auslösen“ würde.
Gleichzeitig soll die EU aber
auch nicht zu viel machen,
sondern sich auf „die wesentlichen Herausforderungen unserer Zeit“
konzentrieren. Und natürlich
muss die „Vielfalt innerhalb Europas“ erhalten werden, was
„regionale und nationale Identitäten“ einschließt.
Auch
für alle, die mit dem Status quo der Europäischen Union unzufrieden
sind, haben die zehn Grundthesen etwas zu bieten: „Reformen sind
notwendig“, damit Europa „wieder
verständlicher und bürgernäher“ wird.
Wie das genau gehen könnte,
bleibt allerdings offen. Klar ist nur, dass
die europäische Idee „von unten nach oben getragen“ werden soll.
Und: „Wer
austritt, kann nicht mitgestalten.“
Bewahrung des Erreichten
Insgesamt
klingt
der Sound von
Pulse of Europe also
weniger nach Fortschritt und Veränderung als nach
Bewahrung des Erreichten. Unterstrichen
wird das noch von
einem Twitter-Hashtag,
mit dem Europäer in
der Zeit vor dem
Brexit-Referendum 2016 an die
Bürger Großbritanniens appellierten,
und der
sich jetzt
auf den Demonstrationen in
Zusammenhang mit den Wahlen in den Niederlanden und in Frankreich
großer Beliebtheit
erfreut: #staywithus.
Dass
dieser Slogan sich anhört
wie die Worte, mit denen man
einen Schwerverletzten bei Bewusstsein zu halten versucht, ist
womöglich kein Zufall. In
der Darstellung
von Pulse of Europe
ist die Europäische Union
von unmittelbarem Zerfall
bedroht, dem sich die
Zivilgesellschaft nun mit
aller Kraft entgegenstemmen muss. Die
Wahlen in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland
sind den zehn Grundthesen zufolge „von existenzieller Bedeutung“.
Wer
„untätig“ ist, stärkt
„die antieuropäischen Kräfte“. „Jede und jeder ist für das
Scheitern oder das Gelingen unserer Zukunft verantwortlich.“
Integrationsgewinner gegen Nationalpopulisten
Wofür
steht Pulse of Europe also?
Am besten versteht man die
Bewegung wohl, wenn man sie
als Gegenkraft zur
Mobilisierung der
Nationalpopulisten begreift,
die in den letzten Jahren fast
in allen
EU-Mitgliedstaaten zu
beobachten war: von Pegida in
Deutschland über das
Brexit-Referendum
im Vereinigten Königreich bis
zum Aufschwung rechter
Parteien in Frankreich
und anderswo. Dabei
besteht
ein wesentliches
Erfolgsrezept der
Nationalpopulisten darin, die
Europäische Union als
eine Form von Fremdherrschaft durch eine kleine ungewählte Elite zu
diskreditieren. Gerade
der Pegida-Slogan
„Wir sind das Volk“ unterstellte,
dass die rechtspopulistische
Bewegung für die
gesamte Bevölkerung stünde,
und blendete damit all jene aus, die
die europäische Integration
mit ihren offenen Grenzen nicht
als Bedrohung, sondern als kulturelle Bereicherung und
persönliche Chance erleben.
Diese
Gewinner der europäischen Integration sind
es nun, die mit Pulse
of Europe auf sich aufmerksam
machen.
Mit den Demonstrationen
wollen sie
nicht so
sehr Entscheidungsträger in
der Politik beeinflussen, sondern in
erster Linie die öffentliche
Wahrnehmung verändern: Sie
wollen zeigen,
dass auch sie
zum „Volk“ dazugehören
und entschlossen sind, ihre
Überzeugungen zu
verteidigen.
Dass die
Bewegung dabei eher
nicht an den Intellekt
appelliert, sondern (wie es der Initiator Daniel Röder vor
einigen Tagen in
einem Interview formulierte)
„auf der Herzblut-Seite der Debatte unterwegs“ ist, überrascht
angesichts dieser Konstellation nicht.
Konservativ-affirmative
Grundhaltung
Das
erklärte Hauptziel, bei den
Wahlen in den Niederlanden,
Frankreich und Deutschland den Sieg „antieuropäischer Kräfte“
zu verhindern, kann zugleich
auch erklären, warum
die Forderung nach Reformen in
der Agenda von Pulse
of Europe nur so eine kleine
Rolle spielt. Die Logik,
der die Bewegung folgt, ist das Bewahren europäischer
Errungenschaften gegen die
Gefahr, die
von rechten und nationalpopulistischen Parteien ausgeht.
Dieser Wunsch nach Bewahren
aber ist
(für die Bewegung als
Ganzes, nicht unbedingt für die einzelnen Demonstranten) implizit
mit einer konservativ-affirmativen
Grundhaltung verbunden, die
wenig Kritik an
der
EU und ihrem institutionellen
Status quo erlaubt.
Man
kann das sympathisch finden
–
bessere Laune als
Pegida und die
anderen nationalpopulistischen Bewegungen verbreitet
Pulse of Europe allemal!
–
und im Wahljahr 2017
vielleicht auch
nützlich und notwendig. Auf
Dauer aber ist es nicht
genug.
Die
EU braucht dringend Reformen
Denn zweifellos stellt die EU schon in ihrer heutigen Form eine
immense Verbesserung gegenüber einem System unabhängiger
Nationalstaaten dar, wobei die traditionellen, auch von Pulse of
Europe immer wieder genannten Argumente von Frieden und Wohlstand
nicht
einmal die wichtigsten sind. Aber gleichzeitig lässt sich
auch nicht abstreiten, dass sie uns neue Probleme geschaffen hat, die
es ohne sie nicht gäbe. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Die
Konstruktionsfehler
in der europäischen Währungsunion haben dazu geführt, dass die
südeuropäische Wirtschaftskrise der letzten Jahre schlimmer
ausgefallen ist als nötig. Und dass durch die zunehmende
Europäisierung der Politik nationale Parteien immer weniger allein
entscheiden können, während zugleich die europäische
Parteiendemokratie noch in den Kinderschuhen steckt, dürfte ein
wesentlicher Grund für die wachsende Parlamentarismusverdrossenheit
der europäischen Gesellschaften sein.
Für sich allein genommen ist die Europäische Union in ihrer
heutigen Form deshalb nur schwer zu rechtfertigen. Sinn macht sie nur
als Zwischenschritt auf dem Weg zu einem voll integrierten
demokratischen Mehrebenensystem – und dass wir
auf diesem Weg in den letzten Jahren kaum noch Fortschritte gemacht
haben (vom
Spitzenkandidaten-Verfahren bei der Europawahl einmal abgesehen), ist unser eigentliches Problem.
Mehr europäische Demokratie
Um das Legitimitätsdefizit der EU zu überwinden und den Aufstieg
der Nationalpopulisten zu stoppen, genügt es deshalb nicht, allein
diejenigen zu mobilisieren, die ohnehin schon von Europa begeistert
sind. Vielmehr muss die EU auch jene Bürger einbinden, die sich
nicht sehr für Politik interessieren und auch persönlich nicht
besonders von den offenen Binnengrenzen profitieren. Dafür aber
brauchen wir vor allem einfachere
und demokratischere Verfahren auf europäischer Ebene, die es
Menschen erlauben, das politische Geschehen ohne großen Aufwand zu
verstehen und zu beeinflussen.
In den letzten Jahren wurden auch immer wieder konkrete Vorschläge
gemacht, wie die nächsten Schritte bei einer solchen
Demokratisierung der EU aussehen könnten (mehr dazu zum Beispiel
hier
oder hier).
Nur die tatsächliche Umsetzung dieser institutionellen Reformen
steht derzeit leider nicht auf der Agenda, wie erst vor wenigen
Wochen das
enttäuschende Weißbuch der Europäischen Kommission zur Zukunft
Europas zeigte.
Wird
es Pulse of Europe bei der nächsten Vertragsreform noch geben?
Aber das muss nicht so bleiben: Früher oder später wird wieder ein
Europäischer Konvent tagen, der an einer neuen Vertragsreform
arbeitet. Und erst dann wird die eigentliche Auseinandersetzung über
„das Scheitern oder das Gelingen unserer Zukunft“ beginnen, von
dem in den Grundthesen von Pulse of Europe die Rede ist.
Wird es die Bewegung dann noch geben? Wird sie den Übergang von
einem Verteidigen der vergangenen Errungenschaften zu einem Angehen
der heutigen Probleme schaffen? Wird sie bereit sein, nicht nur
Rechtspopulisten zurückzuweisen, sondern auch öffentlichen Druck
auf die Entscheidungsträger aus den Parteien der Mitte auszuüben,
um eine bessere, demokratischere EU zu erreichen? Wenn ja, dann
könnte Pulse of Europe genau die Bürgerinitiative sein, die
die Europäische Union benötigt hat.
Und wenn nicht, hatten wir wenigstens in diesem Frühling ein
bisschen Spaß damit, Europafahnen zu schwenken und die „Ode an die
Freude“ zu singen.
Die Demonstrationen von Pulse of Europe finden jeweils sonntags um 14 Uhr in zahlreichen deutschen und europäischen Städten statt. Ein Überblick über alle Orte findet sich hier.
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Unabhängig davon gibt es zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge am kommenden Samstag, 25. März, noch eine weitere Demonstration unter dem Motto March for Europe 2017, die explizit zu weiteren Integrationsschritten aufruft. Die Hauptdemonstration von March for Europe findet in Rom statt. Daneben gibt es aber auch kleinere Veranstaltungen in weiteren Städten, unter anderem in Berlin.
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Bilder: Jon Worth [CC BY 2.0], via Flickr; Pulse of Europe; March for Europe 2017.
Als jemand der jetzt drei mal bei einer Veranstaltung war, kann ich die Einschätzung nicht ganz teilen. Da wurde eine europäische Atomaufsicht gefordert (hier vor Ort besonders aktuell), mehr Rechte für das Parlament, Kampf der Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa sowie die besondere Verantwortung Deutschlands betont.
AntwortenLöschenUnd wenn ich nicht noch Lampenfieber kriege, lass ich mich Sonntag 3 Minuten über die EU-Finanzierung aus.
Umso besser! Ich will gar nicht bezweifeln, dass unter den Pulse-of-Europe-Demonstranten auch sehr viele sind, denen die Reform der EU am Herzen liegt. Worum es mir hier geht, ist eher die Klammer, die die – große, dezentrale und damit notwendigerweise pluralistische – Bewegung als Ganzes zusammenhält. Deshalb stütze ich mich in dem Artikel auch so stark auf die "zehn Grundthesen" (und natürlich auch ein wenig auf meine eigene, zugegeben subjektive Erfahrung mit den Demonstrationen und dem Twitter-Hashtag #pulseofeurope).
LöschenDie EU-Finanzierung ist es übrigens allemal wert, Lampenfieber zu überwinden. :-)