28 Oktober 2012

Ein größeres Budget für die Europäische Union? Zu den Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen

Haushaltskommissar Janusz Lewandowski will, dass der EU 2014-2020 deutlich mehr Geld zur Verfügung steht. Vorläufig wäre es schon erfreulich, wenn sie wenigstens 2012 all ihre Programme finanzieren könnte.
Die Haushaltspolitik zählt in allen demokratischen Staaten zu den am meisten diskutierten politischen Themen überhaupt. In den halb-parlamentarischen Systemen des 19. Jahrhunderts war das Budgetrecht häufig der wichtigste Hebelpunkt der gewählten Abgeordneten gegen die monarchische Exekutive; und bis heute ist eine Regierung, die im Parlament keine Mehrheit für ihren Haushaltsplan findet, so gut wie handlungsunfähig. Auf europäischer Ebene funktioniert einiges anders als im nationalen Rahmen: Erstens entscheidet hier nicht das Parlament allein, sondern Parlament und Rat zusammen über den Haushalt. Zweitens kann die EU keine eigenen Steuern erheben, sondern finanziert sich in erster Linie über Beiträge der Mitgliedstaaten, die sich an deren jeweiligen Bruttoinlandsprodukt orientieren. Drittens darf die EU, anders als ihre Mitgliedstaaten, keine Schulden aufnehmen. Und viertens ist der europäische Haushalt im Vergleich zu den nationalen Etats außerordentlich klein: Derzeit macht er nur wenig mehr als ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Europäischen Union aus – insgesamt knapp 150 Milliarden Euro, was pro Kopf weniger als ein Zehntel des Etats der Bundesrepublik Deutschland ist.

Dennoch ist auch in Brüssel die Verhandlung eines neuen Haushaltsplans jedes Mal Anlass scharfer Debatten, die in der Vergangenheit wiederholt zu Blockaden zwischen Parlament und Rat führten. Seit den 1980er Jahren gibt es deshalb die sogenannten „mehrjährigen Finanzrahmen“ (MFR), mit denen die Grundlinien des europäischen Haushalts jeweils für sieben Jahre im Voraus abgesteckt werden (wer sich für Details interessiert: Wikipedia hat einen guten Artikel über die Funktionsweise des EU-Haushalts). Allerdings führt dies nur dazu, dass alle sieben Jahre umso heftiger diskutiert wird – und da in Kürze der neue Finanzrahmen für den Zeitraum 2014-2020 verabschiedet werden soll, steht der Union ein spannender Herbst bevor.

Die beiden meistdiskutierten Punkte sind dabei die Einnahmequellen und die Höhe des Haushalts. In ihrem im Juni vorgelegten MFR-Entwurf sprach sich die Europäische Kommission sowohl für die Einführung spezieller EU-Steuern als auch für eine Erhöhung des Etats um fünf Prozent aus. Beides ist heftig umstritten, sollte aber nicht miteinander in einen Topf geworfen werden. Eine Umstellung von nationalen Beiträgen zu einer europäischen Steuer bedeutet nicht notwendigerweise einen Anstieg des Gesamtbudgets und umgekehrt. Im Folgenden soll es deshalb nur um die zweite Frage gehen (zur EU-Steuer bei Gelegenheit mehr): Ist ein höherer Etat für die EU sinnvoll und wünschenswert?

Institutionelle Interessen

Mehr Geld ist in der Politik oft gleichbedeutend mit mehr Macht: Wer ein größeres Budget zu verteilen hat, kann mehr gestalten und gewinnt auch an öffentlicher Aufmerksamkeit. Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass die Diskussionen über den EU-Etat im politischen System oft entlang einer sehr klaren Grenze verlaufen: Die supranationalen Institutionen, also Europäische Kommission und Europäisches Parlament, setzen sich für eine Ausweitung des europäischen Budgets ein, um ihre eigenen Handlungsspielräume zu vergrößern – die nationalen Regierungen hingegen wollen die EU eher an der kurzen Leine halten, um selbst die finanziell mächtigsten staatlichen Organe auf dem Kontinent zu bleiben. Allerdings ist die Haltung des Rates auch nicht ganz eindeutig: Der EU-Haushalt, speziell die Struktur- und Regionalfonds, bildet nämlich auch den wichtigsten Mechanismus für finanzielle Transfers zwischen den reicheren und den ärmeren Mitgliedstaaten. Infolgedessen sind die wirtschaftlich schwächeren Länder in Süd- und Osteuropa zuletzt größtenteils doch für einen Anstieg des Etats – während es die wohlhabenden Nettozahlerstaaten Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Finnland und Niederlande waren, die sich Ende 2010 in einem gemeinsamen Brief für ein Einfrieren des Haushalts aussprachen. (Seit Margaret Thatcher 1984 den sogenannten Britenrabatt aushandelte, sind zudem nationale Sonderermäßigungen zu einer populären Forderung geworden. Obwohl das Europäische Parlament regelmäßig deren vollständige Abschaffung verlangt, erhalten derzeit außer Großbritannien auch Deutschland, die Niederlande, Schweden und Österreich nationale Beitragsrabatte in unterschiedlicher Höhe. Und die dänische Regierung gab jüngst unter Veto-Drohungen bekannt, dass sie ab 2014 auch einen haben will.)

All diese Positionen sind aus der Logik der jeweiligen Institutionen vollauf verständlich. Institutionelle Machtinteressen sind jedoch noch keine politischen Argumente: Für die europäischen Bürger ist es zunächst einmal belanglos, wer ihre Steuergelder ausgibt – wichtig ist vielmehr, wofür sie ausgegeben werden. Wenn man sich eine Meinung über den EU-Etat bilden will, sollte man sich deshalb zunächst bewusst machen, welche Funktionen ein solcher öffentlicher Haushalt überhaupt erfüllt. Im Wesentlichen sind dies zwei: zum einen die Finanzierung der Staatsaufgaben, zum anderen die makroökonomische Stabilisierung. Und beide Punkte sprechen für einen Anstieg des europäischen Budgets.

Erstens: Finanzierung der Staatsaufgaben

Dass der öffentliche Haushalt zur Finanzierung der Staatsaufgaben dient, ist nahezu eine Trivialität. Als Bürger haben wir bestimmte Erwartungen an staatliche Organe: Sie sollen die Müllabfuhr organisieren, Eisenbahnen bauen, Naturkatastrophen bekämpfen, Schulen betreiben, Banken beaufsichtigen, Kulturgüter subventionieren, Stromleitungen legen, sozialen Ausgleich schaffen, Spitzenforschung ermöglichen, den Frieden sichern und über die schädlichen Folgen von Alkoholkonsum und ungeschütztem Sex aufklären. All diese Tätigkeiten kosten Geld, für das die Bürger als Steuerzahler aufkommen müssen. Die Frage, welche Aufgaben der Staat genau hat, ist natürlich immer umstritten. Aber wenn wir uns demokratisch darauf geeinigt haben, dass er dies oder jenes tun soll, dann müssen wir ihm wohl oder übel auch die finanziellen Mittel dafür geben.

Im Laufe der letzten Jahrzehnte nun wurden die Zuständigkeiten der europäischen Ebene nach und nach immer mehr erweitert. Der Grund dafür ist schlicht, dass unsere Gesellschaft enger vernetzt ist als früher. Je mehr sich dank neuer Verkehrs- und Kommunikationsmittel der Aktionsradius der Menschen vergrößert, desto mehr Aufgaben können nur staatenübergreifend erfüllt werden. Vor einigen Jahrzehnten etwa spielten transeuropäische Eisenbahn- und Energienetze noch kaum eine Rolle – heutzutage ist das ein bedeutender Tätigkeitsbereich der EU, ohne den die Mitgliedstaaten ihre klimapolitischen Ziele kaum erfüllen könnten. In einem fremden Land zu studieren, war lange Zeit ein extravagantes Vergnügen – heute ist Auslandserfahrung für viele Berufe zu einer zentralen Schlüsselqualifikation geworden. Dass wir ohne eine gemeinsame Finanzmarktaufsicht nicht mehr auskommen, hat die Eurokrise eindrucksvoll bewiesen. Und je häufiger wir uns beruflich oder privat in anderen europäischen Ländern aufhalten, desto mehr springen uns auch die ungleichen Lebensverhältnisse zwischen ihnen als unerträgliche Ungerechtigkeit ins Auge.

Hinzu kommt, dass es oft schlicht effizienter ist, Ausgaben nur einmal auf europäischer Ebene zu treffen als 27 Mal in jedem Mitgliedstaat. Die Länder der EU werden niemals wieder Krieg gegeneinander führen – warum sollten sie also 27 getrennte Rüstungsprogramme betreiben statt einem gemeinsamen? In den meisten Staaten der Welt verfolgen die Europäer gemeinsame Interessen – warum sollte es dann 27 nationale Botschaften geben statt einer gemeinsamen EU-Vertretung? Und manches nützliche Projekt in der Grundlagenforschung ist so teuer, dass kein einzelner Mitgliedstaat es sich allein würde leisten wollen – während sich über das gemeinsame Forschungsrahmenprogramm genügend Mittel dafür auftreiben lassen.

An der finanziellen Schmerzgrenze

Während aber die Aufgaben der Europäischen Union immer weiter gewachsen sind, stieg das Budget nicht in gleichem Tempo. Insbesondere die neuen Zuständigkeiten, die sich aus dem Vertrag von Lissabon ergaben, führten die EU deshalb immer wieder an die finanzielle Schmerzgrenze: 2010 etwa waren die Einführung des Europäischen Auswärtigen Dienstes und der EU-Finanzaufsicht aus Haushaltsgründen gefährdet, dieses Jahr werden unter anderem für das Stipendienprogramm Erasmus, für den Europäischen Sozialfonds, für den europäischen Forschungsrat und für die humanitäre Hilfe die Mittel knapp. In dieser Situation ein Einfrieren des europäischen Budgets zu verlangen, läuft effektiv darauf hinaus, dass die EU den ihr übertragenen Aufgaben nicht wird gerecht werden kann – was die europäischen Bürger am Ende womöglich sogar teurer zu stehen kommen wird, wenn nämlich deshalb die weniger effizienten nationalen Programme fortgesetzt werden müssen.

Natürlich heißt das nicht, dass im Umkehrschluss alle derzeitigen Ausgaben der EU sinnvoll und wünschenswert wären. Im Gegenteil, einer der wichtigsten Posten, die Gemeinsame Agrarpolitik, ist überaus ineffizient und kontraproduktiv. Aber die richtige Methode, um das zu ändern, wäre, die notwendige politische Mehrheit für eine Agrarreform zu organisieren. Bei den Forderungen, den europäischen Etat einzufrieren, geht es hingegen nicht darum, einzelne Politikfelder besser auszugestalten, sondern um eine grundsätzliche Beschränkung der Ausgaben, die völlig unabhängig von den Erfordernissen der konkreten Tätigkeitsbereiche gelten soll.

Zweitens: Makroökonomische Stabilisierung

Außer der Finanzierung der Staatsaufgaben hat der öffentliche Haushalt jedoch noch eine zweite Funktion, die auf nationaler Ebene oft als selbstverständlich vorausgesetzt wird, in der EU aber eine besondere Relevanz besitzt: Er dient innerhalb einer Volkswirtschaft als „automatischer Stabilisator“ gegen ökonomische Schocks. Dabei sind auf nationaler Ebene vor allem zwei Effekte relevant: Zum einen federt er konjunkturelle Schwankungen über die Zeit ab. In einem Abschwung sinken die Steuereinnahmen, während die (Sozial-)Ausgaben steigen, was die Nachfrage belebt und damit dem Land aus der Krise hilft (umgekehrt wird im Boom durch steigende Steuereinnahmen und sinkende Ausgaben das Wachstum gebremst und eine Überhitzung verhindert). Zum anderen balanciert er Ungleichgewichte zwischen Regionen aus. Wenn ein Schock eine Region härter trifft als die anderen, so sinken dort die Steuereinnahmen, während die staatlichen Ausgaben steigen, was der Krisenregion hilft, wieder zum Rest der Volkswirtschaft aufzuschließen. Der öffentliche Haushalt trägt also dazu bei, das Wirtschaftssystem stabil zu halten – bis zu einem gewissen Grad sogar unabhängig davon, wofür genau das Geld eigentlich ausgegeben wird.

Der erste dieser beiden Effekte basiert darauf, dass sich der Staat in der Krise verschulden kann. Der Haushalt der EU, der nach Art. 310 AEU-Vertrag immer auszugleichen ist, wird diese Funktion deshalb nicht übernehmen können. Für die interregionale Stabilisierung hingegen kommt es vor allem auf das Volumen des Budgets an. Regelmäßige Leser dieses Blogs wissen, dass ich die Einführung eines hinreichend großen gemeinsamen Haushalts deshalb auch für die geeignetste Lösung der Euro-Krise halte, die in erster Linie auf einen asymmetrischen Schock zurückgeht, von dem die südeuropäischen Staaten und Irland stärker betroffen waren als die nord- und mitteleuropäischen. Natürlich bleiben die derzeit für den mehrjährigen Finanzrahmen diskutierten Erhöhungen weit hinter dem zurück, was hierfür notwendig wäre (die Kommission schlägt eine Steigerung von fünf Prozent vor – eine Verfünffachung des heutigen Budgets käme den Bedürfnissen der Eurozone wohl näher). So oder so wird jeder zusätzliche Euro im Etat der EU helfen, Wirtschaftskrisen wie die jetzige in Zukunft zu vermeiden.

Gerade angesichts der Euro-Krise

Unter diesem Aspekt ist auch ein Argument hinfällig, das in der Debatte immer wieder zu hören war – zuletzt etwa von dem britischen Premierminister David Cameron (Cons./AECR), als er damit drohte, gegen jede Erhöhung des EU-Haushalts ein Veto einlegen zu wollen. Dieses Argument besagt, dass es nicht richtig sein könne, das Budget auf europäischer Ebene ausgerechnet in einer Zeit auszuweiten, in der auf nationaler Ebene immer neue Sparpakete geschnürt werden. Tatsächlich stimmt das Gegenteil: Es ist ein elementarer Grundsatz antizyklischer Wirtschaftspolitik, dass Staaten in einer Krise ihre Etats gerade nicht reduzieren sollten. Dass die südeuropäischen Länder dennoch einen strikten Austeritätskurs fuhren, lag (außer an eklatanten ökonomischen Fehleinschätzungen) vor allem daran, dass sie auf nationaler Ebene finanziell überfordert waren. Die Europäische Union insgesamt könnte hingegen sehr wohl die nötigen konjunkturpolitischen Maßnahmen treffen. Nur fehlt den reichen nördlichen Mitgliedstaaten dafür der politische Wille – und den supranationalen Organen das Budget.

Gerade angesichts der derzeitigen Krise liegt es also im Interesse der europäischen Bürger, die Europäische Union langfristig mit höheren finanziellen Mitteln auszustatten: Am Ende wird es uns schlichtweg billiger kommen. Es bleibt nur zu hoffen, dass das auch die nationalen Regierungen so sehen, wenn es im November zum Showdown zwischen dem Europäischen Parlament und dem Ministerrat kommt.

Bild: By Piotr Drabik (Flickr: Janusz Lewandowski) [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.

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