- „Diktatur ist eine Krankheit“: Der tunesische Staatspräsident will ein globales Gericht für Demokratie und Menschenrechte.
Alle Jahre wieder tagt
Ende September in New York die Generalversammlung der Vereinten
Nationen, ein Schaulaufen der Staats- und Regierungschefs der Welt,
die sich in knapp bemessener Zeit zu den großen globalen Themen
äußern. Die Medien nehmen diese Reden in der Regel recht selektiv
wahr: Man erfährt, was der US-Präsident gesagt hat und was es für neue Entwicklungen zu den aktuellen
Pulverfässern (Syrien,
Palästina,
Iran)
gibt, man bekommt mit, wenn jemand mit dem Schuh aufs Pult klopft
oder mit einem Filzstift rote Linien zieht, man liest ein bisschen was vom
eigenen Außenminister (Deutsche hier,
Österreicher hier),
und zuletzt gibt es eine Zusammenfassung, dass wieder einmal nicht so besonders viel dabei herausgekommen ist.
Manchmal aber sind in New
York auch wirklich originelle Ideen zu hören – zum Beispiel dann,
wenn ein ehemaliger Dissident und Exilant zu Wort kommt, der dank
einer kürzlich erfolgten Revolution plötzlich zum ersten
demokratisch gewählten Präsidenten seines Landes geworden ist, aber
noch immer den Habitus eines intellektuellen Menschenrechtsaktivisten
pflegt. Der tunesische Staatspräsident Moncef Marzouki jedenfalls
ging nur am Rande auf die globalen Standardthemen ein und widmete den
größten Teil seiner Rede (hier als Video mit englischem Simultandolmetscher) der Forderung nach
einem weltweiten Mechanismus zur Sicherung von Demokratie: einem
Internationalen Verfassungsgericht, an das sich Bürger wenden könnten, deren Regierung sich nicht an rechtsstaatliche Standards hält. Im
Einzelnen soll dieses Gericht nationale Wahlen auf Fälschungen
überprüfen und nationale Gesetze annullieren können, die gegen
zentrale internationale Abkommen (die Marzouki als die
„Menschheitsverfassung“ betrachtet) verstoßen.
Nun sind fünfzehn
Minuten – länger konnte Marzouki nicht sprechen – etwas wenig
Zeit, um einen solchen Plan im Detail auszuführen. Und es ist
einfach, viel zu einfach, Marzoukis Vorschläge als naive Träumerei
abzutun: Dass ein Diktator auf seine Macht verzichtet, nur weil er
von einem internationalen Gericht dazu verurteilt wird, erscheint auf
Anhieb nicht als ein besonders realistisches Szenario. Andererseits
haben wir in der internationalen Politik der letzten Jahrzehnte von
der Gründung der Vereinten Nationen bis zum Internationalen
Strafgerichtshof schon genügend überraschende Entwicklungen
gesehen; und vielleicht sollte man als reicher europäischer
Alt-Demokrat auch nicht allzu schnell zu einem zynischen Achselzucken
übergehen, wenn jemand innovative Ideen für ein Ziel präsentiert,
von dem wir doch regelmäßig behaupten, dass es Teil unserer „westlichen
Werte“ ist.
Gegen eine gefälschte
demokratische Legitimität
Was also ist von dem Plan
zu halten? Zunächst einmal denkt auch Marzouki wohl nicht, dass man
damit etablierten Diktaturen wie jenen in China oder Nordkorea
beikommen könnte. Vielmehr geht es ihm um autoritäre Systeme, die
„sich selbst eine falsche Legitimität geben, indem sie gefälschte
Wahlen organisieren, und die die Demokratie nutzen, um die Demokratie
selbst auszuhöhlen“. Das Beispiel, das er nennt, ist Tunesien
selbst, nämlich das alte Regime unter Zine el-Abidine Ben Ali; aber
es fällt nicht schwer, sich noch andere Staaten einfallen zu lassen,
in denen autoritäre Herrscher ihre Macht hinter einer demokratischen
Fassade durch ein schrittweises Umbiegen der Verfassung ausbauen.
Durch das „Weltverfassungsgericht“ sollen solche Versuche
vereitelt werden: Künftig könnte ein Regime sich nur noch dann
glaubwürdig auf demokratische Werte berufen, wenn es bereit wäre,
sich auch der Kontrolle durch die unabhängigen internationalen
Richter zu unterwerfen.
So betrachtet, wirkt
Marzoukis Vorschlag gleich deutlich weniger illusorisch. Insbesondere
erledigt sich damit der erste Einwand dagegen von selbst: Warum
sollten die Diktaturen dieser Welt in die Schaffung eines
internationalen Gerichts einwilligen, das gerade zur Förderung der
Demokratie gedacht ist? Realistischerweise würde das
„Weltverfassungsgericht“ zunächst (ähnlich wie der
Internationale Strafgerichtshof) keine globale Reichweite haben –
Mitglied würden vielmehr nur diejenigen Staaten, die sich selbst als
hinreichend demokratisch betrachten und deshalb eine internationale
Kontrolle ohnehin nicht fürchten. Dies hätte jedoch zum einen den
Effekt, deutlicher hervorzuheben, welche Regierungen einen solchen
Schritt eben nicht wagen, was für sich allein zu deren
Delegitimierung führen kann. Und zum anderen könnte gerade für
Länder, die sich in einem Demokratisierungsprozess befinden, der
Beitritt zum Weltverfassungsgericht ein symbolisch wichtiger
Schlüsselmoment werden, da er ein eindeutiges und schwer rückgängig
zu machendes Bekenntnis zu dessen Werten beinhalten würde.
Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte als Vorbild
Tatsächlich gibt es in
Europa bereits ein Vorbild für genau so einen Mechanismus: nämlich
den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Ihm liegt
die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) zugrunde, die nach
dem zweiten Weltkrieg vom Europarat ausgearbeitet wurde und seit
ihrem Inkrafttreten 1953 gewissermaßen zum Demokratiemaßstab der
westeuropäischen Staaten wurde. Als sich in den 1970er Jahren
Griechenland, Portugal und Spanien demokratisierten, war einer ihrer
ersten Schritte deshalb der Beitritt zu Europarat und EMRK; in den
1990er Jahren taten die postkommunistischen Staaten in Mittel- und
Osteuropa es ihnen nach. In all diesen Fällen wirkte sich die Mitgliedschaft stabilisierend auf den Demokratisierungsprozess aus: Sie war sowohl
ein Zeichen der internationalen Anerkennung als auch eine
glaubwürdige Garantie für die künftige Einhaltung der Grundrechte.
Nichtmitglieder sind derzeit übrigens nur noch Weißrussland und der
Vatikan – nicht zufällig die letzte Diktatur und die letzte
absolute Monarchie Europas.
Auch wenn Marzouki den Europarat nicht ausdrücklich erwähnt hat, scheint ihm ein ähnliches Modell im
globalen Maßstab vorzuschweben. Zu den konkreten Zuständigkeiten,
die er dem Weltverfassungsgericht zuschreiben möchte, zählt
freilich auch die Kontrolle von nationalen Wahlen, was über die
Kompetenzen des EGMR hinausginge. Immerhin aber können der Europarat und
die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa schon jetzt Beobachter zu Wahlen in ihren Mitgliedstaaten
entsenden und deren demokratische Qualität
bewerten (siehe etwa den OSZE-Bericht über die letzten deutschen Bundestagswahlen). Ausgehend von
diesen gemeinsamen Standards wäre es nicht abwegig, letztlich auch
die Wahlprüfungskompetenz von den nationalen Verfassungsgerichten
auf ein supranationales Gericht zu übertragen.
Offene Fragen
Ein
„Weltverfassungsgericht“, das auf die Einhaltung von Demokratie
und Menschenrechten in seinen Mitgliedstaaten achtet, erscheint also
alles andere als ein reiner Blütentraum. Dennoch bleiben nach
Marzoukis Rede einige Fragen offen, von denen Kevin S. Burke vier in seinem Blog Single Pixel Planet aufgeworfen hat:
Erstens
machte der tunesische Präsident nicht klar, wie genau vor dem
Gericht Klagen erhoben werden sollen. Vor dem bisherigen Internationalen
Gerichtshof (IGH) können nur Staaten als Parteien auftreten, beim
Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) können Einzelmenschen sich immerhin
an die Chefanklägerin oder die Vorverfahrenskammer wenden, die dann
über die Aufnahme von weiteren Ermittlungen entscheiden. Für das
Weltverfassungsgericht aber wäre ein klares Individualklagerecht
nötig – ähnlich Art.
34 EMRK, aus dem heute der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte seine wesentliche Bedeutung bezieht.
Zweitens
ist unklar, auf welcher rechtlichen Grundlage das
Weltverfassungsgericht eigentlich seine Urteile fällen sollte.
Marzouki bezog sich etwas vage auf „die UN-Charta, die Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte […] und viele andere internationale
Konventionen, die von der UN-Generalversammlung gestützt werden“
und die zusammen als die „Verfassung der Menschheit“ angesehen
werden könnten. Für die Einrichtung eines supranationalen Gerichts
wäre es ohne Zweifel notwendig, dieses Rechtskorpus deutlich
präziser zu fassen – auch um deutlich zu machen, an welcher Stelle
eigentlich die Jurisdiktion der Richter ihre Grenze haben soll.
Drittens stellt
sich die Frage, wie die Urteile des Weltverfassungsgerichts
eigentlich durchgesetzt werden sollen. Wie bereits erwähnt, ist es
wenig plausibel, dass sich ein Diktator (womöglich noch einer, der
sich mit Gewalt an die Macht geputscht hat) allein von dem
Richterspruch eines überstaatlichen Organs beeindrucken lässt; und
auch das von Burke in seinem Blog vorgeschlagene Szenario, dass der
UN-Sicherheitsrat militärische Maßnahmen gegen Staaten anordnet,
die gegen die Urteile des Gerichts verstoßen, scheint nicht sehr überzeugend. Allerdings ist dieses Problem weniger groß, wenn man
als die Adressaten des neuen Gerichts keine „harten“ Diktaturen
betrachtet, sondern eher labile Demokratien und semi-autoritäre
Regime. Erneut kann der EGMR als Vorbild dienen: Auch dieser hat
nämlich keinerlei Zwangsmittel bei der Hand und ist dennoch
außerordentlich erfolgreich, da die Regierungen der Mitgliedstaaten
wissen, dass von der Einhaltung seiner Urteile auch ihre
internationale Reputation abhängig ist.
Und
viertens wirft Burke
das Problem auf, dass ein Weltverfassungsgericht notwendigerweise
einen tiefen Eingriff in die nationale Souveränität seiner
Mitgliedstaaten bedeuten würde. Dies ist nicht zu bezweifeln und
würde womöglich dazu führen, dass Staaten wie die USA
grundsätzliche Einwände dagegen erheben würden. Andererseits: Was
ist der Sinn von Souveränität, wenn sie nur dazu dient, Diktatoren
zu schützen? Wenigstens aus europäischer Sicht sollte das im
Bewusstsein der Errungenschaften des EGMR und anderer supranationaler
Organe kein prinzipielles Hindernis sein – und aus tunesischer
offensichtlich auch nicht, wie wir sehen.
Gemeinsame Standards
der Demokratie
Das
Hauptproblem, das sich in meinen Augen stellt, wird die Ausarbeitung
der konkreten Rechtsgrundlage sein, die Demokratien weltweit als
ihren gemeinsamen Mindeststandard anerkennen können. Welche
Grundrechte muss ein Staat zwingend respektieren, was sind die
Minimalbedingungen für die Abhaltung demokratischer Wahlen? Sicher
gibt es mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und mit den
diversen Menschenrechtspakten bereits global anerkannte Dokumente.
Doch wie viele Staaten würden wirklich noch zu diesen stehen, wenn
sie auch vor einem unabhängigen supranationalen Gericht einklagbar
gemacht würden?
Bei
der Schaffung der Rechtsgrundlage des Weltverfassungsgerichts stünde
man wohl auf einem schmalen Grat zwischen einer sehr weitreichenden
Definition von demokratischen Bürgerrechten, die jedoch nur von
einer recht kleinen Anzahl Staaten anerkannt würde, oder einer
möglichst globalen Mitgliedschaft bei einem nur verhältnismäßig
niedrigen Schutzniveau. Mit Sicherheit aber wäre allein schon die
Diskussion interessant, wenn sich eine globale Öffentlichkeit damit
auseinandersetzt, was eigentlich die supranational verankerten
Mindeststandards demokratischer Systeme sein sollen.
Wenn
die tunesische Regierung, wie von Marzouki angekündigt, im nächsten
Jahr die Schaffung eines Weltverfassungsgerichts auf die Tagesordnung
der UN-Generalversammlung setzen lässt, dann sollten die
europäischen Staaten jedenfalls nicht zögern, diesem Vorschlag ihre volle Unterstützung zu erteilen. Und in der Zwischenzeit wäre es
sicher nicht verkehrt, Tunesien die Mitgliedschaft im Europarat und
in der EMRK anzubieten. Denn die Gültigkeit der angeblich
„europäischen“ Werte Demokratie und Rechtsstaatlichkeit macht am Mittelmeer nicht Halt, und wenn wir zuletzt kein Weltverfassungsgericht bekommen, dann wäre ein globalisierter EGMR ja vielleicht auch keine schlechte Lösung.
Bild: Panetta_and_Marzouki.jpg: Erin A. Kirk-Cuomo; derivative work: Habib M'henni [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.
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