01 Oktober 2012

Moncef Marzouki und das Weltverfassungsgericht

„Diktatur ist eine Krankheit“: Der tunesische Staatspräsident will ein globales Gericht für Demokratie und Menschenrechte.
Alle Jahre wieder tagt Ende September in New York die Generalversammlung der Vereinten Nationen, ein Schaulaufen der Staats- und Regierungschefs der Welt, die sich in knapp bemessener Zeit zu den großen globalen Themen äußern. Die Medien nehmen diese Reden in der Regel recht selektiv wahr: Man erfährt, was der US-Präsident gesagt hat und was es für neue Entwicklungen zu den aktuellen Pulverfässern (Syrien, Palästina, Iran) gibt, man bekommt mit, wenn jemand mit dem Schuh aufs Pult klopft oder mit einem Filzstift rote Linien zieht, man liest ein bisschen was vom eigenen Außenminister (Deutsche hier, Österreicher hier), und zuletzt gibt es eine Zusammenfassung, dass wieder einmal nicht so besonders viel dabei herausgekommen ist.

Manchmal aber sind in New York auch wirklich originelle Ideen zu hören – zum Beispiel dann, wenn ein ehemaliger Dissident und Exilant zu Wort kommt, der dank einer kürzlich erfolgten Revolution plötzlich zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten seines Landes geworden ist, aber noch immer den Habitus eines intellektuellen Menschenrechtsaktivisten pflegt. Der tunesische Staatspräsident Moncef Marzouki jedenfalls ging nur am Rande auf die globalen Standardthemen ein und widmete den größten Teil seiner Rede (hier als Video mit englischem Simultandolmetscher) der Forderung nach einem weltweiten Mechanismus zur Sicherung von Demokratie: einem Internationalen Verfassungsgericht, an das sich Bürger wenden könnten, deren Regierung sich nicht an rechtsstaatliche Standards hält. Im Einzelnen soll dieses Gericht nationale Wahlen auf Fälschungen überprüfen und nationale Gesetze annullieren können, die gegen zentrale internationale Abkommen (die Marzouki als die „Menschheitsverfassung“ betrachtet) verstoßen.

Nun sind fünfzehn Minuten – länger konnte Marzouki nicht sprechen – etwas wenig Zeit, um einen solchen Plan im Detail auszuführen. Und es ist einfach, viel zu einfach, Marzoukis Vorschläge als naive Träumerei abzutun: Dass ein Diktator auf seine Macht verzichtet, nur weil er von einem internationalen Gericht dazu verurteilt wird, erscheint auf Anhieb nicht als ein besonders realistisches Szenario. Andererseits haben wir in der internationalen Politik der letzten Jahrzehnte von der Gründung der Vereinten Nationen bis zum Internationalen Strafgerichtshof schon genügend überraschende Entwicklungen gesehen; und vielleicht sollte man als reicher europäischer Alt-Demokrat auch nicht allzu schnell zu einem zynischen Achselzucken übergehen, wenn jemand innovative Ideen für ein Ziel präsentiert, von dem wir doch regelmäßig behaupten, dass es Teil unserer „westlichen Werte“ ist.

Gegen eine gefälschte demokratische Legitimität

Was also ist von dem Plan zu halten? Zunächst einmal denkt auch Marzouki wohl nicht, dass man damit etablierten Diktaturen wie jenen in China oder Nordkorea beikommen könnte. Vielmehr geht es ihm um autoritäre Systeme, die „sich selbst eine falsche Legitimität geben, indem sie gefälschte Wahlen organisieren, und die die Demokratie nutzen, um die Demokratie selbst auszuhöhlen“. Das Beispiel, das er nennt, ist Tunesien selbst, nämlich das alte Regime unter Zine el-Abidine Ben Ali; aber es fällt nicht schwer, sich noch andere Staaten einfallen zu lassen, in denen autoritäre Herrscher ihre Macht hinter einer demokratischen Fassade durch ein schrittweises Umbiegen der Verfassung ausbauen. Durch das „Weltverfassungsgericht“ sollen solche Versuche vereitelt werden: Künftig könnte ein Regime sich nur noch dann glaubwürdig auf demokratische Werte berufen, wenn es bereit wäre, sich auch der Kontrolle durch die unabhängigen internationalen Richter zu unterwerfen.

So betrachtet, wirkt Marzoukis Vorschlag gleich deutlich weniger illusorisch. Insbesondere erledigt sich damit der erste Einwand dagegen von selbst: Warum sollten die Diktaturen dieser Welt in die Schaffung eines internationalen Gerichts einwilligen, das gerade zur Förderung der Demokratie gedacht ist? Realistischerweise würde das „Weltverfassungsgericht“ zunächst (ähnlich wie der Internationale Strafgerichtshof) keine globale Reichweite haben – Mitglied würden vielmehr nur diejenigen Staaten, die sich selbst als hinreichend demokratisch betrachten und deshalb eine internationale Kontrolle ohnehin nicht fürchten. Dies hätte jedoch zum einen den Effekt, deutlicher hervorzuheben, welche Regierungen einen solchen Schritt eben nicht wagen, was für sich allein zu deren Delegitimierung führen kann. Und zum anderen könnte gerade für Länder, die sich in einem Demokratisierungsprozess befinden, der Beitritt zum Weltverfassungsgericht ein symbolisch wichtiger Schlüsselmoment werden, da er ein eindeutiges und schwer rückgängig zu machendes Bekenntnis zu dessen Werten beinhalten würde.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Vorbild

Tatsächlich gibt es in Europa bereits ein Vorbild für genau so einen Mechanismus: nämlich den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Ihm liegt die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) zugrunde, die nach dem zweiten Weltkrieg vom Europarat ausgearbeitet wurde und seit ihrem Inkrafttreten 1953 gewissermaßen zum Demokratiemaßstab der westeuropäischen Staaten wurde. Als sich in den 1970er Jahren Griechenland, Portugal und Spanien demokratisierten, war einer ihrer ersten Schritte deshalb der Beitritt zu Europarat und EMRK; in den 1990er Jahren taten die postkommunistischen Staaten in Mittel- und Osteuropa es ihnen nach. In all diesen Fällen wirkte sich die Mitgliedschaft stabilisierend auf den Demokratisierungsprozess aus: Sie war sowohl ein Zeichen der internationalen Anerkennung als auch eine glaubwürdige Garantie für die künftige Einhaltung der Grundrechte. Nichtmitglieder sind derzeit übrigens nur noch Weißrussland und der Vatikan – nicht zufällig die letzte Diktatur und die letzte absolute Monarchie Europas.

Auch wenn Marzouki den Europarat nicht ausdrücklich erwähnt hat, scheint ihm ein ähnliches Modell im globalen Maßstab vorzuschweben. Zu den konkreten Zuständigkeiten, die er dem Weltverfassungsgericht zuschreiben möchte, zählt freilich auch die Kontrolle von nationalen Wahlen, was über die Kompetenzen des EGMR hinausginge. Immerhin aber können der Europarat und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa schon jetzt Beobachter zu Wahlen in ihren Mitgliedstaaten entsenden und deren demokratische Qualität bewerten (siehe etwa den OSZE-Bericht über die letzten deutschen Bundestagswahlen). Ausgehend von diesen gemeinsamen Standards wäre es nicht abwegig, letztlich auch die Wahlprüfungskompetenz von den nationalen Verfassungsgerichten auf ein supranationales Gericht zu übertragen.

Offene Fragen

Ein „Weltverfassungsgericht“, das auf die Einhaltung von Demokratie und Menschenrechten in seinen Mitgliedstaaten achtet, erscheint also alles andere als ein reiner Blütentraum. Dennoch bleiben nach Marzoukis Rede einige Fragen offen, von denen Kevin S. Burke vier in seinem Blog Single Pixel Planet aufgeworfen hat:

Erstens machte der tunesische Präsident nicht klar, wie genau vor dem Gericht Klagen erhoben werden sollen. Vor dem bisherigen Internationalen Gerichtshof (IGH) können nur Staaten als Parteien auftreten, beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) können Einzelmenschen sich immerhin an die Chefanklägerin oder die Vorverfahrenskammer wenden, die dann über die Aufnahme von weiteren Ermittlungen entscheiden. Für das Weltverfassungsgericht aber wäre ein klares Individualklagerecht nötig – ähnlich Art. 34 EMRK, aus dem heute der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine wesentliche Bedeutung bezieht.

Zweitens ist unklar, auf welcher rechtlichen Grundlage das Weltverfassungsgericht eigentlich seine Urteile fällen sollte. Marzouki bezog sich etwas vage auf „die UN-Charta, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte […] und viele andere internationale Konventionen, die von der UN-Generalversammlung gestützt werden“ und die zusammen als die „Verfassung der Menschheit“ angesehen werden könnten. Für die Einrichtung eines supranationalen Gerichts wäre es ohne Zweifel notwendig, dieses Rechtskorpus deutlich präziser zu fassen – auch um deutlich zu machen, an welcher Stelle eigentlich die Jurisdiktion der Richter ihre Grenze haben soll.

Drittens stellt sich die Frage, wie die Urteile des Weltverfassungsgerichts eigentlich durchgesetzt werden sollen. Wie bereits erwähnt, ist es wenig plausibel, dass sich ein Diktator (womöglich noch einer, der sich mit Gewalt an die Macht geputscht hat) allein von dem Richterspruch eines überstaatlichen Organs beeindrucken lässt; und auch das von Burke in seinem Blog vorgeschlagene Szenario, dass der UN-Sicherheitsrat militärische Maßnahmen gegen Staaten anordnet, die gegen die Urteile des Gerichts verstoßen, scheint nicht sehr überzeugend. Allerdings ist dieses Problem weniger groß, wenn man als die Adressaten des neuen Gerichts keine „harten“ Diktaturen betrachtet, sondern eher labile Demokratien und semi-autoritäre Regime. Erneut kann der EGMR als Vorbild dienen: Auch dieser hat nämlich keinerlei Zwangsmittel bei der Hand und ist dennoch außerordentlich erfolgreich, da die Regierungen der Mitgliedstaaten wissen, dass von der Einhaltung seiner Urteile auch ihre internationale Reputation abhängig ist.

Und viertens wirft Burke das Problem auf, dass ein Weltverfassungsgericht notwendigerweise einen tiefen Eingriff in die nationale Souveränität seiner Mitgliedstaaten bedeuten würde. Dies ist nicht zu bezweifeln und würde womöglich dazu führen, dass Staaten wie die USA grundsätzliche Einwände dagegen erheben würden. Andererseits: Was ist der Sinn von Souveränität, wenn sie nur dazu dient, Diktatoren zu schützen? Wenigstens aus europäischer Sicht sollte das im Bewusstsein der Errungenschaften des EGMR und anderer supranationaler Organe kein prinzipielles Hindernis sein – und aus tunesischer offensichtlich auch nicht, wie wir sehen.

Gemeinsame Standards der Demokratie

Das Hauptproblem, das sich in meinen Augen stellt, wird die Ausarbeitung der konkreten Rechtsgrundlage sein, die Demokratien weltweit als ihren gemeinsamen Mindeststandard anerkennen können. Welche Grundrechte muss ein Staat zwingend respektieren, was sind die Minimalbedingungen für die Abhaltung demokratischer Wahlen? Sicher gibt es mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und mit den diversen Menschenrechtspakten bereits global anerkannte Dokumente. Doch wie viele Staaten würden wirklich noch zu diesen stehen, wenn sie auch vor einem unabhängigen supranationalen Gericht einklagbar gemacht würden?

Bei der Schaffung der Rechtsgrundlage des Weltverfassungsgerichts stünde man wohl auf einem schmalen Grat zwischen einer sehr weitreichenden Definition von demokratischen Bürgerrechten, die jedoch nur von einer recht kleinen Anzahl Staaten anerkannt würde, oder einer möglichst globalen Mitgliedschaft bei einem nur verhältnismäßig niedrigen Schutzniveau. Mit Sicherheit aber wäre allein schon die Diskussion interessant, wenn sich eine globale Öffentlichkeit damit auseinandersetzt, was eigentlich die supranational verankerten Mindeststandards demokratischer Systeme sein sollen.

Wenn die tunesische Regierung, wie von Marzouki angekündigt, im nächsten Jahr die Schaffung eines Weltverfassungsgerichts auf die Tagesordnung der UN-Generalversammlung setzen lässt, dann sollten die europäischen Staaten jedenfalls nicht zögern, diesem Vorschlag ihre volle Unterstützung zu erteilen. Und in der Zwischenzeit wäre es sicher nicht verkehrt, Tunesien die Mitgliedschaft im Europarat und in der EMRK anzubieten. Denn die Gültigkeit der angeblich „europäischen“ Werte Demokratie und Rechtsstaatlichkeit macht am Mittelmeer nicht Halt, und wenn wir zuletzt kein Weltverfassungsgericht bekommen, dann wäre ein globalisierter EGMR ja vielleicht auch keine schlechte Lösung.

Bild: Panetta_and_Marzouki.jpg: Erin A. Kirk-Cuomo; derivative work: Habib M'henni [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.

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