16 Oktober 2012

Wolfgang Schäuble, der Währungskommissar und das Europäische Parlament

Für seine Verdienste um die europäische Währungsunion hat Wolfgang Schäuble dieses Jahr den Karlspreis gewonnen. Seine Verdienste um die europäische Demokratie sind noch unklar.
Da können die Van Rompuys, Barrosos und Junckers dieser EU noch so viele Papiere über die Zukunft der Eurozone veröffentlichen: So richtig aufgeschreckt ist die deutsche Medienlandschaft dann doch erst, wenn auch die Bundesregierung sich der Forderung nach einer tiefgreifenden Neuordnung der Währungsunion anschließt. Heute nun hat sie dies getan, und zwar in Gestalt von Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU/EVP). Kurz nach dem Weltfinanzgipfel in Tokio und wenige Tage vor dem nächsten Treffen des Europäischen Rates hat dieser nicht nur in Bezug auf Griechenland den denkwürdigen Satz „There will not be a Staatsbankrott“ geprägt, sondern auch ein Reformprogramm skizziert, das die EU dem Ziel einer gemeinsamen Wirtschafts- und Finanzpolitik ein gutes Stück näher bringen könnte.

Schäubles Plan baut dabei auf Reformschritte auf, die bereits in den vergangenen Jahren vollzogen wurden. Speziell mit dem Europäischen Semester wurde versucht, die Koordinierung der nationalen Budgetpolitiken verbessern: Seit 2011 müssen alle Mitgliedstaaten ihre Haushaltspläne für das Folgejahr jeweils bereits im Januar der Europäischen Kommission vorlegen, die dann bis Juli sogenannte „länderspezifische Empfehlungen“ erarbeitet. Wenn dann in der zweiten Jahreshälfte die nationalen Parlamente die Haushaltspläne verabschieden, sollen sie diese Empfehlungen berücksichtigen. Sofern das Defizit über 3 Prozent liegt, kann die Kommission sie dank der sogenannten Sixpack-Verordnungen sogar dazu zwingen, indem sie bei Verstößen gegen die Empfehlungen Geldbußen verhängt. Hingegen können Staaten, die die Defizitgrenzen einhalten, bislang straflos gegen die Kommissionsempfehlungen verstoßen – selbst wenn das der Eurozone insgesamt schadet, etwa weil dadurch ein asymmetrischer Schock verschärft wird.

Macht für den Währungskommissar

Bereits vor einigen Tagen schlug deshalb Ratspräsident Herman Van Rompuy (CD&V/EVP) vor, dass künftig nicht nur die überschuldeten Länder, sondern alle Euro-Mitgliedstaaten „mit der europäischen Ebene individuelle vertragliche Vereinbarungen über die von ihnen geplanten Reformen und deren Implementierung treffen“. Schäuble stößt nun in dasselbe Horn, verschärft jedoch Van Rompuys Ansatz noch: Statt einer „vertraglichen Vereinbarung“ zwischen dem Mitgliedstaat und der Union soll das für Wirtschaft und Währung zuständige Kommissionsmitglied (derzeit Olli Rehn, Kesk./ELDR) einen nationalen Haushaltsplan, der seiner Meinung nach gegen die länderspezifischen Empfehlungen verstößt, künftig schlicht mit einem Veto belegen können. Die Parlamente müssten dann so lange nachbessern, bis alle Vorgaben erfüllt sind. Die genaue Ausgestaltung des Etats wäre zwar weiterhin Sache der nationalen Abgeordneten, faktisch aber würde die Haushaltshoheit künftig von den nationalen Parlamenten und dem Währungskommissar gemeinsam ausgeübt.

Und wenn Schäuble Währungskommissar sagt, dann meint er auch den Währungskommissar – und nicht die Kommission als Ganzes. Bislang nämlich funktioniert die europäische Exekutive nach dem Kollegialprinzip, bei dem alle Beschlüsse von der Kommission insgesamt beschlossen werden müssen; die Zuteilung von Zuständigkeitsbereichen an einzelne Mitglieder dient nur praktischen Zwecken. Schäuble jedoch will, dass der Währungskommissar die Entscheidung über Annahme oder Ablehnung eines nationalen Haushaltsplans künftig allein treffen kann (eingeschränkt allenfalls durch die Richtlinienkompetenz des Kommissionspräsidenten). Das Kollegialprinzip würde damit zumindest in dieser Frage dem Ressortprinzip weichen, wie man es etwa von der Funktionsweise des deutschen Bundeskabinetts kennt.

Wer kennt Olli Rehn?

Der Vorteil von Schäubles Plan liegt auf der Hand: Die fiskalpolitische Koordinierung würde stark vereinfacht; Mitgliedstaaten würden dazu gezwungen, bei der Gestaltung ihrer Haushalte auch die wirtschaftspolitischen Bedürfnisse der übrigen europäischen Länder zu berücksichtigen; und durch die Einführung des Ressortprinzips würden etwaige Blockaden innerhalb der Kommission (die mit 27 Mitgliedern eigentlich längst zu groß für ein Kollegialorgan geworden ist) unwahrscheinlicher. Die Nachteile sind jedoch nicht weniger offenkundig: Mit der Verwirklichung von Schäubles Plänen würde sehr viel wirtschaftspolitische Macht künftig beim europäischen Währungskommissar gebündelt – und welche negativen Folgen das haben kann, ließ sich erst Anfang dieses Jahres in Belgien beobachten.

Damals nämlich machte Olli Rehn zum ersten Mal von seinen Sixpack-Befugnissen Gebrauch und wies den Haushaltsplan der kurz zuvor ins Amt gekommenen belgischen Regierung zurück – die daraufhin umgehend einen neuen Entwurf mit Einsparungen von 1,3 Milliarden Euro vorlegte. Gleichzeitig jedoch erklärte der belgische Wirtschaftsminister Paul Magnette (PS/SPE) in einem Zeitungsinterview, die Europäische Kommission sei „dabei, eine fünfzehnjährige Rezession vorzubereiten“, und feuerte eine rhetorische Salve ab, die in dem Ausruf gipfelte: „Wer kennt Olli Rehn? Wer hat jemals das Gesicht von Olli Rehn gesehen? […] Niemand. Und doch sagt er uns, wie wir unsere Wirtschaftspolitik führen sollen. Europa hat keine demokratische Legitimation, dies zu tun.“ Zwar distanzierte sich Regierungschef Elio Di Rupo (PS/SPE) wenige Stunden später von diesen Äußerungen seines Wirtschaftsministers, doch an dem Grundproblem änderte das nichts: Selbst wenn Rehns Forderungen inhaltlich sinnvoll gewesen sein mögen, nahmen ihn die meisten Belgier nicht als einen Politiker wahr, der ihnen politisch verantwortlich und damit legitimiert war, Entscheidungen über die belgische Haushaltspolitik zu treffen.

Europaparlament: Stärken durch Entschlacken?

Die wichtigste Frage, die Wolfgang Schäuble zu seinem Plan beantworten hat, ist folgerichtig, wie eine weitere Machtfülle des Währungskommissars denn mit einer Demokratisierung der Europapolitik einhergehen kann. Leider jedoch hat Schäuble dazu nur recht wenig zu sagen: Vernünftigerweise spricht er sich für eine Stärkung des Europäischen Parlaments aus, doch wie diese Stärkung aussehen soll, bleibt unklar. Irgendwie soll es künftig früher in haushaltsrelevante Fragen „einbezogen“ werden – aber es scheint nicht so, als wollte Schäuble ihm die Möglichkeit geben, dem Währungskommissar bei seinen Entscheidungen irgendwelche Vorschriften zu machen.

Und dann greift Schäuble noch einen Vorschlag auf, über den ich hier erst kürzlich ausführlich geschrieben habe: nämlich die Idee einer „parlamentarischen Eurogruppe“, einer Unterkammer des Europäischen Parlaments, in der nur die Abgeordneten aus den Mitgliedstaaten der Eurozone vertreten sein sollen. Dass das Europäische Parlament selbst diesen Vorschlag ablehnt, scheint Schäuble dabei nicht weiter zu bekümmern. Und auch, wie das Parlament dadurch an Einfluss gewinnen soll, erklärt er nicht näher. Die Tagesschau spricht vom „Prinzip ‚Stärken durch entschlacken‘“, aber was genau man sich darunter vorstellen soll, leuchtet wenigstens mir persönlich nicht ein. Jedenfalls habe ich noch nie davon gehört, dass das Europäische Parlament an einer zu großen Anzahl von Abgeordneten leiden würde oder dass es in seiner Handlungsfähigkeit eingeschränkt wäre, weil Parlamentarier aus Nicht-Euro-Staaten auch bei währungsrelevanten Entscheidungen mitstimmen dürfen.

Die demokratische Legitimität der Europäischen Kommission

Am Ende ist der Vorschlag einer „Eurokammer“ der besseren demokratischen Legitimation sogar abträglich. Denn es wird ja nicht genügen, das Parlament nur hier und da ein wenig mehr „einzubeziehen“. Wenn die eigentliche Macht über die Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten beim europäischen Währungskommissar liegen soll, dann führt kein Weg daran vorbei, die demokratische Legitimität der Europäischen Kommission selbst zu verbessern. Insbesondere müssen die Bürger die Möglichkeit bekommen, durch Wahlen auf die parteipolitische Zusammensetzung der Kommission einzuwirken, um so demokratische Richtungsentscheidungen zu ermöglichen.

Das aber ist nur möglich, wenn die Kommissionsmitglieder nicht mehr so wie jetzt in erster Linie durch die Mitgliedstaaten benannt werden: Derzeit kann jede nationale Regierung einen Kommissar vorschlagen, was dazu führt, dass in der Kommission Mitglieder aller Parteien vertreten sind, die in irgendeinem europäischen Land regieren – zwölf Konservative, neun Liberale, sechs Sozialdemokraten. Wer davon Währungskommissar wird und ob er eine eher „linke“ oder eine eher „rechte“ Budgetpolitik verfolgt, entzieht sich dem Einfluss der Bürger fast völlig. Damit die Bürger selbst eine Richtungsentscheidung treffen können, müsste die Ernennung der Kommission deshalb enger mit der Europawahl verbunden sein: Nicht die nationalen Regierungen, sondern das Europäische Parlament allein sollte über ihre Zusammensetzung entscheiden. Dadurch käme es im Parlament zu einem Wechselspiel zwischen einer die Kommission stützenden Mehrheitskoalition und einer Opposition, die eine programmatische und personelle Alternative dazu bieten könnte. Olli Rehn wäre für die Europäer kein Unbekannter mehr, sondern ein Vertreter der Partei oder Koalition, die durch ihren Wahlsieg bei der Europawahl zur Übernahme einer politischen Führungsrolle legitimiert wäre.

Das setzt aber natürlich voraus, dass es bei der Europawahl klare Entscheidungen gibt – eine Koalition, die deutlich von sich behaupten kann, dass ihr Programm die Mehrheit der europäischen Wähler auf ihrer Seite hat. Der Vorschlag einer „parlamentarischen Eurogruppe“ steht diesem Ziel im Wege: Was, wenn in der Eurokammer eine andere Koalition die Mehrheit stellen würde als im Plenum des Parlaments? Sollte der Währungskommissar dann nur von den Euro-Abgeordneten gewählt werden? Und was wäre mit dem Kommissionspräsidenten und seiner Richtlinienkompetenz?

Schäubles Ansatz einer strikteren Kontrolle der nationalen Haushaltspolitiken durch die Europäische Union hat ohne Zweifel ihre Verdienste – insbesondere ist es gut, wenn die Bundesregierung endlich erkannt hat, dass die Aufgabe einer „europäischen Wirtschaftsregierung“ nicht vom Europäischen Rat, sondern nur von der Kommission übernommen werden kann. Seine demokratiepolitischen Vorschläge jedoch sind bestenfalls verworren und würden nicht dazu beitragen, dass die fiskalpolitischen Vorgaben der europäischen Ebene bei den Bürgern auf größere Akzeptanz stoßen würden. Wenn sich Ende dieser Woche die europäischen Staats- und Regierungschefs treffen, dann werden sie gut daran tun, dieser Frage bei ihren Reformüberlegungen eine etwas höhere Priorität einzuräumen.

PS: Und das gemeinsame Budget?

Einen Punkt übrigens hat Schäuble bei der Vorstellung seiner Ideen überhaupt nicht erwähnt: die Einführung eines gemeinsamen Budgets für die Eurozone, das hoch genug sein müsste, um daraus Maßnahmen zur makroökonomischen Steuerung zu finanzieren. In dem Papier, das Herman Van Rompuy vor zwei Wochen präsentierte, waren diese „Mechanismen fiskalischer Solidarität, z.B. durch eine angemessene fiskalische Kapazität“ noch enthalten. Es wäre ein schlechtes Zeichen, wenn die Bundesregierung sich diesen Plänen jetzt verweigern würde.

Bild: By Euku (Own work) [GFDL or CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons.

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