Der Europäische Rat neigt dazu, seine Macht hinter bescheidenen Formulierungen zu verstecken. Aus den Kamingesprächen, zu denen sich die
Staats- und Regierungschefs seit 1974 alle paar Monate versammelten,
wurde schnell eines der einflussreichsten Organe der EU. Seine informellen „Schlussfolgerungen“, anfangs nur
als Presseerklärungen veröffentlicht, sind eine
der wichtigsten Leitschnüre der Europapolitik. Längst werden sie auch
nicht mehr auf den Gipfeltreffen selbst ausgehandelt,
sondern von dem hauptamtlichen Ratspräsidenten Herman Van Rompuy
(CD&V/EVP) bereits Wochen im Voraus vorbereitet: Am vergangenen
Montag etwa schickte er den Regierungen der Mitgliedstaaten ein
Papier, welches den ersten „Entwurf für die Leitlinien der
Schlussfolgerungen“ des am kommenden 18./19. Oktober stattfindenden
Gipfels enthält. Und dieses Papier (veröffentlicht durch die
Financial Times, hier der Wortlaut) hat es in sich.
Thema des Treffens soll
unter anderem die Reform der europäischen Währungsunion sein. Denn
ein Feuerlöscher ist kein Ersatz für
Brandschutzmaßnahmen: Auch wenn am nächsten Montag endlich der ESM seine Arbeit aufnehmen
wird, sind die strukturellen Ursachen der Eurokrise noch längst
nicht behoben. Zum einen will Van Rompuy deshalb Fortschritte
in Richtung einer gemeinsamen europäischen Bankenaufsicht machen,
was im Grunde alle gut finden, auch wenn die deutsche Bundesregierung
bei der Festlegung eines konkreten Zeitplans bisher auf der Bremse
steht. Zum anderen aber schlägt Van Rompuy eine Reihe von Maßnahmen
vor, die – wenn man sie zu Ende denkt – das Potenzial haben, die
Wirtschafts- und Fiskalpolitik in der Eurozone zu revolutionieren.
Um gleich vorab
einzuschränken: Auch wenn Van Rompuy im Vorfeld zahlreiche
bilaterale Gespräche mit den Regierungschefs der Eurozone geführt
hat, ist noch lange nicht sicher, ob (und gegebenenfalls, in wie
verwässerter Form) seine Vorschläge zuletzt angenommen werden.
Zudem lassen sie teils unterschiedliche Interpretationen zu – was
beispielsweise Eric Bonse in seinem Blog Lost
in EUrope zu einer deutlich negativeren Einschätzung bringt als mich. Aber nehmen wir einmal
an, dass Van Rompuy es ernst meint mit der Stabilisierung der
Eurozone, wie sehen dann seine Pläne aus?
Verpflichtende
Koordinierung der Wirtschaftspolitik
Erstens soll
die makroökonomische Koordinierung in der Währungsunion weiter
vorangetrieben werden. Um die Wirtschaft zu stabilisieren, betreiben
Staaten idealerweise eine antizyklische Fiskalpolitik: Im Abschwung
steigern sie ihre Ausgaben, um die Konjunktur wiederzubeleben, im
Boom sparen sie dagegen, um ihre Defizite abzubauen und die Bildung
von wirtschaftlichen Blasen zu verhindern. Eines der europäischen
Probleme besteht jedoch darin, dass die Staaten derzeit bei ihrer
Fiskalpolitik nur die Konjunkturlage im eigenen Land, nicht der
Eurozone als Ganzes im Blick haben. Bei asymmetrischen Schocks führt
dies schnell zu Ungleichgewichten – wenn etwa in der aktuellen
Krise die Staaten, die sich wie Deutschland höhere Ausgaben leisten
könnten, dennoch sparen, weil sie ja selbst nicht von der Rezession
betroffen sind.
Bereits
2011 wurde deshalb das „Europäische Semester“ eingeführt, bei
dem die Regierungen der Mitgliedstaaten ihre Haushaltsentwürfe ein
halbes Jahr vor deren Verabschiedung der Europäischen Kommission
vorlegen müssen. Diese gibt dann „länderspezifische Empfehlungen“ ab, die zu einer Harmonisierung der Budgetpolitik
führen sollen. Allerdings sind diese Empfehlungen bislang
unverbindlich, und die ersten Erfahrungen deuten an, dass sich die
Mitgliedstaaten (gerade auch die großen und reichen) nicht besonders
darum scheren.
Van
Rompuy schlägt deshalb nun vor, es künftig nicht bei
unverbindlichen Empfehlungen zu belassen. Stattdessen sollen alle
Euro-Staaten „mit der europäischen Ebene individuelle vertragliche
Vereinbarungen über die von ihnen geplanten Reformen und deren
Implementierung treffen“. Solche Abkommen gibt es derzeit bereits
für die Staaten, die sich wie Griechenland, Portugal und Irland in
einem EU-Hilfsprogramm befinden und sich dafür zu bestimmten
Reformmaßnahmen verpflichtet haben. Wenn sie künftig allgemein
gälten, müssten nicht mehr nur die Krisenstaaten, sondern auch die
übrigen Länder die gesamteuropäischen Belange ernst nehmen – und
die Europäische Kommission hätte ein starkes Mittel gewonnen, um
Krisen künftig schon im Voraus zu verhindern.
Ein gemeinsames Budget
für die Eurozone
Womöglich
noch wichtiger ist aber der zweite
Vorschlag Van Rompuys: Um eine „vernünftige Haushaltspolitik auf
nationaler und europäischer Ebene sicherzustellen, die zu
nachhaltigem Wachstum und makroökonomischer Stabilität führt“,
schlägt der Ratspräsident nämlich auch die Einführung von
„Mechanismen fiskalischer Solidarität, z.B. durch eine angemessene
fiskalische Kapazität“ vor. Wie die Financial Times zu Recht feststellt,
ist dieses etwas komplizierte Wortgebilde nichts anderes als eine
verschlüsselte Formulierung für die Einführung eines gemeinsamen
Budgets der Eurozone.
Tatsächlich
ist dieser Vorschlag eines gemeinsamen Budgets alles andere als eine
neue Idee, die auch in diesem Blog bereits wiederholt
vorgebracht
wurde. Der zugrunde liegende Gedanke wurde bereits 1969 von dem
Ökonomen Peter Kenen formuliert: Das Hauptproblem einer
Währungsunion sind asymmetrische Wirtschaftsschocks, von denen
manche Regionen stärker betroffen sind als andere. Wenn die
Krisenregionen eigene Währungen haben, würden diese in solch einem
Fall abwerten, was die Exporte ankurbelt, die Konjunktur belebt und
das ökonomische Gleichgewicht wiederherstellt. In einer
Währungsunion entfällt diese Möglichkeit, wodurch das System
instabil wird – doch ein gemeinsamer Haushalt (also ein gemeinsames
Steuer- und Sozialsystem) bietet einen angemessenen Ersatz dafür:
Bei einem asymmetrischen Schock nämlich steigen in den
Krisenregionen die Sozialausgaben stärker an, während zugleich die
Steuereinnahmen sinken. Über den gemeinsamen Haushalt
kommt es deshalb zu einem Finanztransfer von den stabileren zu den
schwächeren Regionen, was wiederum die dortige Konjunktur belebt und
das Gleichgewicht wiederherstellt.
Der
gemeinsame föderale Haushalt gilt deshalb auch als ein wesentlicher
Grund, weshalb es den USA in der Finanzkrise so viel besser gelang,
die Unterschiede zwischen ihren Regionen auszubalancieren als der
Eurozone: Das Budget der Europäischen Union beträgt derzeit
lediglich rund 1 Prozent des gesamten europäischen
Bruttoinlandsprodukts, und war damit viel zu gering, um eine
makroökonomische Stabilisierungsfunktion zu übernehmen. Wenn Van
Rompuy nun eine „angemessene fiskalische Kapazität“ fordert,
dann dürfte er genau diesen Effekt im Blick haben.
Deutsche und
französische Unterstützung möglich
Lange
Zeit sah es freilich alles andere als danach aus, als ob die
Mitgliedstaaten bereit wären, einer bedeutenden Erhöhung des
europäischen Budgets zuzustimmen. Schon vor Jahren forderten die das
Europäische Parlament und die Kommission, in dem mehrjährigen
Finanzrahmen für die Zeit 2014-2020 eine deutliche Steigerung des
EU-Haushalts einzuplanen – was die Nettozahlerstaaten Deutschland,
Frankreich, Großbritannien, Finnland und die Niederlande Ende 2010
jedoch in einem gemeinsamen Brief vehement ablehnten.
Inzwischen
jedoch scheint in den großen Ländern der Eurozone ein Umdenken
eingesetzt zu haben. Der französische Finanzminister Pierre
Moscovici (PS/SPE) etwa schlug erst vor wenigen Wochen eine gemeinschaftlich finanzierte Arbeitslosenversicherung in der Eurozone vor. Und auch die deutsche Bundesregierung könnte sich der
Financial Times zufolge
für derartige Ideen erwärmen, da sie inzwischen erkannt haben
müsste, dass eine stabile Währungsunion ohne Finanztransfers nicht
möglich ist – und eine Ausweitung des gemeinsamen Haushalts dann
immer noch den ungeliebten Eurobonds vorziehen dürfte. Doch da die
britische Regierung nach wie vor zu ihrer Verweigerungshaltung steht,
wird die Lösung wohl nicht über den Haushalt der Europäischen
Union insgesamt gehen, sondern über ein speziell einzurichtendes
Eurozone-Budget. Aus diesem könnten dann, wie Van Rompuy vorschlägt,
„die Reformbemühungen der Mitgliedstaaten mit begrenzten,
temporären, flexiblen und gezielten Finanzanreizen unterstützt
werden“. Konkret könnte man sich das vielleicht so vorstellen,
dass die Eurozone künftig die Kosten für die Umschulung von
Arbeitslosen übernimmt.
Demokratische
Kontrolle
Ob
und wie weit die Staats- und Regierungschefs den Vorschlägen Van
Rompuys folgen, ist, wie gesagt, bis jetzt noch offen. Wie
wirkungsvoll seine Pläne bei der Bekämpfung dieser und der
Vermeidung künftiger Krisen sind, wird natürlich wesentlich davon
abhängen, welchen Umfang das geplante Eurozone-Budget am Ende
tatsächlich haben wird. Und vollkommen unklar ist bisher auch noch,
wie es finanziert werden sollte: über Beiträge der Mitgliedstaaten,
eine europäische Steuer oder eine europäische Sozialversicherung?
Was
bereits jetzt deutlich scheint, ist aber, dass die Lösung der
Eurokrise zuletzt mit einer bedeutenden Übertragung wirtschafts- und
haushaltspolitischer Macht auf die europäische Ebene verbunden sein
wird – und zwar, angesichts der britischen Verweigerung, wohl nicht
auf die Ebene der EU, sondern der Eurozone. Das aber wirft zentrale
Fragen der demokratischen Kontrolle auf, denn die makroökonomische
Koordinierung und die Entscheidung über ein Milliardenbudget sind
keine technischen, sondern hoch politische Fragen. Um noch einmal Van
Rompuy zu zitieren: „Starke Mechanismen demokratischer Legitimität
und Verantwortung sind notwendig. Einer der Leitgrundsätze ist in
diesem Zusammenhang, dass demokratische Kontrolle und Zurechnung auf
der Ebene ausgeübt werden, auf der die Entscheidungen getroffen
werden.“
Mit
anderen Worten: Nicht die nationalen Parlamente und die von ihnen gewählten Regierungen können eine
gesamteuropäische Wirtschaftspolitik legitimieren, sondern nur die
demokratisch gewählten supranationalen Organe selbst. Das aber wirft
ein institutionelles Problem auf, denn während es für die Gesamt-EU
durchaus ein gewähltes Parlament gibt, das die Verantwortung für
die gemeinsamen wirtschaftspolitischen Entscheidungen übernehmen
könnte, besitzt die Eurozone bislang keine eigenen demokratischen
Organe. Wenn man sich daranmacht, die Macht in der europäischen
Währungsunion zu bündeln, muss man also auch die Frage beantworten,
in welchem institutionellen Rahmen sie künftig ausgeübt werden
soll. Dazu bei Gelegenheit mehr.
Bild: By European People's Party (EPP Summit 19 March 2009) [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.
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