12 Oktober 2012

Fünfzig Jahre zu spät: Zum Friedensnobelpreis für die Europäische Union

Alfred Nobel war für die „Brüderschaft zwischen den Völkern“. Aber ist die EU nicht längst eine Union von Bürgern?
Als vor drei Jahren der US-amerikanische Präsident Barack Obama den Friedensnobelpreis erhielt, da fehlte es nicht an Spott für die Wahl des norwegischen Nobelkomitees: Obama war erst wenige Monate zuvor ins Amt gekommen und hatte deshalb außenpolitisch noch kaum etwas bewirken können – mit Ausnahme einiger beeindruckender Reden, die allerdings für sich allein bereits als Zeichen für eine Abkehr vom militanten Unilateralismus der Bush-Jahre und als Bekenntnis zu den Werten der Vereinten Nationen und zu einer besseren globalen Zusammenarbeit gesehen wurden. Für Obama selbst war die Auszeichnung allerdings wohl eher eine Last als eine Freude, da sie die Erwartungen an ihn nahezu unerfüllbar hoch setzte. Und natürlich verlor er dadurch von vornherein die Chance, die Ehrung vielleicht eines Tages nach seiner Präsidentschaft noch einmal zu erhalten: und dann für wirkliche, nicht nur rhetorische Verdienste.

Bei der diesjährigen Preisverleihung wollte das Nobelkomitee offenbar nicht noch einmal den Fehler begehen, einen Kandidaten zu früh zu belohnen. Stattdessen tat sie das genaue Gegenteil und entschied sich für die Europäische Union. Diese habe, so die offizielle Begründung, „seit über sechs Jahrzehnten zur Förderung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa beigetragen“. Wenn das mal nicht ein Lebenswerk ist. Herzlichen Glückwunsch uns allen!

Veraltetes Narrativ

Aber bei aller Freude: Der Preis kommt ein paar Jahrzehnte zu spät. Wie ich bereits vor einigen Wochen geschrieben habe, ist das Narrativ von der Europäischen Union als Friedensstifter inzwischen eigentlich veraltet. Sicher, die Europäischen Gemeinschaften spielten in den fünfziger Jahren eine zentrale Rolle, als es darum ging, nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Vertrauen zwischen Deutschland und seinen westlichen Nachbarn zu schaffen. Und auch die Demokratisierungsprozesse in Südeuropa während der 1970er und in Osteuropa während der 1990er Jahre wurden stark dadurch befördert, dass die Länder während des politischen Übergangs eine Beitrittsperspektive hatten. Zu Recht verweist das Nobelkomitee auf diese historischen Leistungen der europäischen Integration (und der Menschen, die sich in der täglichen politischen Auseinandersetzung für sie einsetzten, denn von selbst wäre es natürlich nicht dazu gekommen).

Aber die Erfolge bei der Befriedung Europas führten eben auch dazu, dass sich die politische Kultur auf dem Kontinent gewandelt hat – und ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich würde auch dann undenkbar bleiben, wenn die EU morgen zu existieren aufhören würde. Lediglich auf dem Westbalkan und in geringerem Ausmaß in Weißrussland, der Ukraine und dem Kaukasus zeigt sich, dass die alten Triebfedern noch wirksam sind und die europäische Integration zur Demokratisierung und zur Aussöhnung zwischen verfeindeten nationalen Gruppen beitragen kann. Doch schon der arabische Frühling im vergangenen Jahr war nicht maßgeblich von der EU beeinflusst. Zwar mag die europäische Nachbarschaftspolitik auch in den nordafrikanischen Staaten einen Beitrag zum wirtschaftlichen Fortschritt und zur Entstehung einer demokratisch orientierten liberalen Mittelschicht geleistet haben, aber in der Öffentlichkeit jener Länder spielt die EU mangels einer Beitrittsperspektive nur eine untergeordnete Rolle.

Die EU ist mehr als ein Friedensprojekt

Das Friedensnarrativ ist aber nicht nur deshalb veraltet, weil es auf dem europäischen Kontinent inzwischen keine Kriege mehr gibt. Vielmehr ist auch die EU in ihrer heutigen Form längst über dieses ursprüngliche Ziel hinausgewachsen. Sie ist heute weniger ein Projekt zur Aussöhnung unter ihren Mitgliedstaaten, sondern ein politisches System aus eigener Kraft und mit einer eigenen demokratischen Legitimität. Ihre Basis ist nicht nur der Frieden zwischen den Völkern, sondern die demokratische Selbstbestimmung der Unionsbürger, die in gemeinsam gewählten Organen kollektive Entscheidungen über ihre gemeinsamen Angelegenheiten treffen. Dass diese Form des freiheitlich-demokratischen Zusammenlebens auch interne Kriege verhindert, versteht sich nahezu von selbst. Aber wollte man etwa der Bundesrepublik Deutschland einen Friedensnobelpreis verleihen, nur weil die Existenz eines deutschen Bundesstaats die Kriege unmöglich gemacht hat, die es im 17. und 18. Jahrhundert zwischen den einzelnen deutschen Fürstentümern gab?

Mehr noch: Man könnte einwenden, dass die EU ihren Friedensnobelpreis genau in einer Phase der politischen Krise erhält, in der eben jene demokratischen Grundlagen gefährdet sind. Im Verfassungsblog schrieb Max Steinbeis kürzlich über die These des Politikwissenschaftlers Dieter Kerwer, dem zufolge sich die EU zunehmend zu einem imperialen Gebilde entwickelt, in dem das reiche Zentrum Herrschaft über die verschuldete Peripherie ausübt (und etwas Ähnliches war vor einem Jahr auch mal in diesem Blog zu lesen). Tatsächlich verweist das Nobelkomitee sogar ausdrücklich auf die „schweren wirtschaftlichen Schwierigkeiten und beträchtliche soziale Unruhe“, die die EU derzeit durchmacht. In diesem Sinne lässt dich der Preis bestenfalls als Ansporn verstehen, die in der Vergangenheit erbrachten Leistungen bei der Demokratisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen in Europa nicht scheinbaren nationalen Wirtschaftsinteressen zu opfern, die sich bei näherer Betrachtung meist ohnehin auch noch als trügerisch erweisen.

Unvollendete Friedenspläne

Ansonsten aber sei das Nobelkomitee für seine Anerkennung der historischen Bedeutung der europäischen Integration herzlich bedankt – und zugleich gebeten, sich in Zukunft vielleicht doch wieder auf Friedenspläne zu konzentrieren, die noch nicht vollendet sind. Es gibt von Südamerika über Afrika bis Asien eine ganze Reihe von regionalen Integrationsprojekten, die sich am Vorbild der Europäischen Union orientieren, und es gibt das World Federalist Movement, das sich für eine Übertragung der Prinzipien supranationaler Demokratie auf die globale Ebene einsetzt. Wenn das Nobelkomitee zu der Einsicht gelangt ist, dass dies eine sinnvolle Methode ist, um den Frieden zu fördern, dann würden sich dort mit Sicherheit einige Preiskandidaten finden lassen, die mit der Auszeichnung mehr anfangen könnten als die heutige Europäische Union.

Bild: See page for author [Public domain], via Wikimedia Commons.

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