Fast erschien es nicht
mehr vorstellbar: Für die Staatsschuldenkrise in der Eurozone
scheint endlich eine Lösung zu existieren, die länger als nur ein
paar Wochen hält. Vier Jahre lang haben Regierungen und Zentralbank
darum gerungen, wer wie viel Verantwortung für die Rettungspolitik
übernimmt. Am Ende stand das derzeitige EZB-Programm zum Aufkauf von
Staatsanleihen: Die Zentralbank wird dabei in unbegrenztem Umfang
tätig, aber nur, wenn der betroffene Krisenstaat zuvor einen
Hilfsantrag an den ESM gestellt und dessen Reformforderungen
akzeptiert hat, die von den Regierungen der übrigen Euroländer
formuliert werden.
Das System hat einige Nachteile – insbesondere ist es so kompliziert, dass der
durchschnittliche Zeitungsleser es kaum verstehen und die genaue
politische Verantwortlichkeit für eine bestimmte Entscheidung kaum
zuzuordnen sein wird. Außerdem umfasst es so viele Veto-Akteure,
dass das Risiko erhalten bleibt, dass in einer Krisensituation
notwendige Beschlüsse ausbleiben, nur weil in irgendeinem Land eine
einzelne Regierung sich quer stellt oder ein Parlament
handlungsunfähig ist. Dennoch scheinen die Anleger ein gewisses
Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des Systems gefasst zu haben:
Zuletzt jedenfalls gingen die Risikoaufschläge für südeuropäische
Staatsanleihen deutlich zurück. Also alles in Butter?
Nicht ganz. Denn dass
sich in der Frage der Staatsschulden allmählich der Horizont
lichtet, öffnet nur den Blick auf das andere Gesicht der Krise: all
jene Probleme, die sich nur schleichend entwickelt haben, ohne
drohende Staatsbankrotte, nervenaufreibende Gipfeltreffen und
spektakuläre Rettungsaktionen – aber durch die sich die
gesellschaftlichen und politischen Strukturen in Europa noch stärker
verändern könnten als durch jeden ESM oder jedes
Anleihenaufkaufprogramm.
Portugal: Misserfolge
der Troika
Beispiel Portugal: Das
kleine Land im Südwesten ist von allen südeuropäischen
Krisenstaaten wohl am wenigsten in den deutschen Medien präsent
gewesen. Der Grund dafür ist einfach: Seitdem es im April 2011
Hilfskredite des Euro-Rettungsschirms beantragte, hat Portugal zuverlässig sämtliche
Sparforderungen der Troika aus EZB, Europäischer Kommission und IWF
umgesetzt. Unter anderem wurden Löhne gekürzt, Mehrwert- und
Einkommensteuer sowie Arztgebühren erhöht. Die Folge war eine
scharfe Rezession, ein Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über 15
Prozent … und ein Wegfall der Steuereinnahmen, der die ganzen
schönen Sparbemühungen wieder zunichte machte.
Vor einiger Zeit nun
einigten sich Portugal und die Troika darauf, den Zeitplan für die
Defizitreduktion um ein Jahr zu verlängern. Sollte die
Neuverschuldung ursprünglich 2012 auf 4,5 und 2013 auf 3 Prozent
gedrückt werden, sind es nun 6 Prozent für dieses Jahr, 4,5 für
2013 und 3 Prozent für 2014. Aber wie El País berichtete, wurde diese Nachricht von der Bevölkerung des Landes
eher mit Frustration aufgenommen: Hatten sich die Portugiesen bislang
damit getröstet, dass sie wenigstens in absehbarer Zeit
einen Erfolg all der Entbehrungen sehen würden, so breitet sich nun
ein Gefühl von Sinnlosigkeit aus. Nach Massenprotesten warnte am
vergangenen Wochenende der Staatsrat, ein hochrangiges beratendes
Gremium, der „gesellschaftliche Zusammenhalt“ im Land sei
gefährdet. Im Anschluss kündigte die portugiesische Regierung an,
erstmals eine mit der Troika vereinbarte Sparmaßnahme nicht
umsetzen zu wollen.
Spanien:
Arbeitslosigkeit auf weltweitem Rekordniveau
Beispiel
Spanien: Nach einer Statistik, die die Internationale
Arbeitsorganisation (ILO) vor zwei Wochen für die FTD erstellte,
hat Spanien inzwischen die höchste Arbeitslosigkeit unter allen
Staaten, für die entsprechende Statistiken existieren. Die Quote
liegt bei 24,5 Prozent, bei den Unter-24-Jährigen sogar bei 53,2
Prozent. (Auf Platz 2 liegt Griechenland mit 22,3 und 55 Prozent.)
Eine Besserung ist auf absehbare Zeit nicht in Sicht – am ehesten
wird die Quote noch dadurch sinken, dass Menschen sich nicht mehr bei
den Ämtern melden, da sie die Arbeitssuche aufgegeben und auch
keinerlei Anspruch mehr auf staatliche Sozialleistungen haben; Letzteres trifft derzeit auf 1,7 Millionen spanische Arbeitslose
zu. Doch je länger die Menschen ohne Arbeit sind, desto niedriger
ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie in Zukunft noch einmal
einen Job finden. Ein immer größerer Anteil der Spanier ist dabei,
den Kontakt zur Arbeitswelt zu verlieren, da ihre beruflichen
Qualifikationen veralten. Aus der konjunkturellen Arbeitslosigkeit
der Krise droht so eine strukturelle Arbeitslosigkeit auch künftiger
Jahre zu werden.
Einziger
Ausweg ist deshalb für viele Spanier die Auswanderung: Gegenüber
der Vorkrisenzeit ist die Zahl der Emigranten um mehr als 20 Prozent gestiegen. Obwohl dies aus ökonomischer Sicht
durchaus wünschenswert ist (für einen optimalen Währungsraum ist
die Arbeitsmigration in der EU noch immer eher zu niedrig), schwächt die Auswanderung das soziale
Gefüge vor Ort: denn häufig sind es gerade die Jüngeren, besser
Ausgebildeten und Unternehmungslustigen, die den Weg ins Ausland
antreten. Zurück bleiben diejenigen, die für sich selbst keine
Chancen mehr sehen und immer weniger zu verlieren haben.
Griechenland:
Gewaltrisiko „weder hypothetisch noch theoretisch oder ungewiss“
Beispiel
Griechenland: Das Land, das am stärksten im Fokus der Schuldenkrise stand, ist zugleich wohl auch dasjenige, wo der soziale Niedergang am
weitesten fortgeschritten ist. Anfang des Jahres sah Eurostat mehr als ein Viertel der 18- bis 64-jährigen Griechen an der Grenze zur Armut. Hunderttausende Menschen ernähren sich nach der radikalen
Kürzung der staatlichen Sozialprogramme in Suppenküchen, die
Kirchen oder Nachbarschaftsinitiativen eingerichtet haben. Die massiv
gestiegene Selbstmordrate seit Ausbruch der Krise war wiederholt
Thema von Medienberichten. Und dass sich nach der Parlamentswahl im
Juni eine Koalition zusammenfand, die den europäisch
verordneten Sparkurs (im Wesentlichen) weiter mitträgt, sollte
keinen Beobachter über die extreme Wut hinwegtäuschen, den diese
Verelendung ausgelöst hat.
Ein
beeindruckendes Symptom der politischen Lage ist eine Entscheidung,
die das Gericht der Europäischen Union (EuG) kürzlich getroffen hat: Die Europäische Kommission hatte bestimmte
Zahlungen, die die staatliche griechische Agrarversicherung wegen des
schlechten Wetters an griechische Bauern geleistet hatte, als
unzulässige Beihilfen angesehen und deshalb deren Rückzahlung
angeordnet. Das EuG nun gewährte Griechenland vorläufigen
Rechtsschutz gegen diese Anordnung und setzte die Rückzahlung bis
zur endgültigen Entscheidung des Verfahrens aus – und zwar mit dem
Argument, dass das
„Risiko, dass die sofortige Rückforderung der umstrittenen Zahlungen […] Demonstrationen auslöst, die in Gewalt ausarten können, weder rein hypothetisch noch theoretisch oder ungewiss erscheint. […] Es ist offensichtlich, dass die Störung der öffentlichen Ordnung, die durch solche Demonstrationen und durch die Ausschreitungen ausgelöst würde, zu denen diese, wie jüngere Ereignisse gezeigt haben, führen können, einen schweren und irreparablen Schaden anrichten würde, auf den sich die Hellenische Republik legitimerweise [für den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz] berufen kann“ (meine Übersetzung des französischen Originals).
Mit anderen Worten: Das EuG bezieht in seine Rechtsprechung
inzwischen die Wahrscheinlichkeit mit ein, dass normale
administrative Entscheidungen in Griechenland zu gewalttätigen
Unruhen führen können.
Nötig
ist eine Zukunftsperspektive
Was Südeuropa jetzt braucht, ist eine Zukunftsperspektive – eine
konkrete Aussicht darauf, dass sich in den nächsten Monaten oder
Jahren eine Besserung der Lebensverhältnisse einstellen wird, dass
die Verelendung der Gesellschaft gestoppt werden kann. Wenn die
allgemeine Resignation in Empörung umkippt, stehen nicht mehr nur einige
Millionen oder Milliarden Euro auf dem Spiel, sondern die soziale
Akzeptanz des ganzen politischen Systems. Ob sich das zuletzt in der
Wahl extremistischer Parteien auswirkt oder in gewalttätiger
Randale, auf die der Staat mit verstärkten Polizeieinsätzen
reagieren müsste: Die offene Gesellschaft, die sich die Europäische
Union als Wert auf die Fahnen geschrieben hat, ist am Ende,
wenn die Menschen keine Hoffnung mehr für eine bessere Zukunft
sehen.
Wäre die EU ein demokratischer föderaler Staat, in dem die
wirtschaftlichen Leitentscheidungen vom Europäischen Parlament
getroffen werden, so wäre die Partei, die für die Krisenpolitik der
letzten Jahre verantwortlich war, vermutlich längst abgewählt
worden. So aber ist die Austeritätspolitik vor allem eine Folge der
Machtverhältnisse im Europäischen Rat, auf die die portugiesischen,
spanischen und griechischen Bürger kaum einen Einfluss haben. Umso
mehr kommt es nun darauf an, dass auch jene Politiker, die von den
Südeuropäern nicht institutionell zur Rechenschaft gezogen werden
können, ein deutliches Zeichen setzen, dass sie die katastrophale
soziale Lage in den Krisenstaaten zu ihren höchsten Prioritäten zählen. Die Rede ist, natürlich, von Angela Merkel (CDU/EVP) und
François Hollande (PS/SPE), den Regierungschefs der zwei
einflussreichsten Mitgliedsländer der Eurozone.
Die
Symbolik der Bankenunion
Eine Gelegenheit dazu ergab sich etwa am vergangenen Wochenende, als
sich Merkel und Hollande in Ludwigsburg trafen, um ihre Positionen
über die Bankenunion abzugleichen. Bei seiner Rede zur Lage der EU
hatte Kommissionspräsident José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP) vor
zwei Wochen Pläne für deren schnelle Verwirklichung bis Anfang
nächsten Jahres angekündigt. Obwohl das Thema auf den ersten Blick
eher technisch ist (es geht um eine gemeinsame Bankaufsicht und einer
gemeinsame Einlagensicherung), ist es nicht nur außerordentlich wichtig für die weitere wirtschaftliche Entwicklung, sondern
durchaus auch von symbolischer Relevanz. Denn die Bankenunion stärkt
die Kontrollrechte der europäischen Ebene bei der Vermeidung
künftiger Krisen und bedeutet zugleich eine unmittelbare Hilfe für die
südeuropäische Staaten. Dass Barroso hier aufs Tempo drückt, ist
also auch als Signal an die Bevölkerung in den Krisenstaaten zu
verstehen, dass die EU an konkreten Verbesserungen ihrer
wirtschaftlichen Verhältnisse arbeitet.
In
der deutschen Finanzlobby freilich ist die Bankenunion reichlich
unbeliebt: Zum einen, weil die deutschen Banken bislang sehr von den unterschiedlichen Einlagensicherungssystemen profitieren,
zum anderen, weil die deutschen Sparkassen derzeit noch gewisse
Privilegien genießen, die bei einer einheitlichen Aufsicht wohl
abgeschafft würden. Beides, so sollte man meinen, sind angesichts
der politischen Krise der EU relativ unwichtige Partikularinteressen.
Und doch spielte Merkel in Ludwigsburg auf Zeit, und auch Hollande
ließ sich zuletzt auf ein dubioses gemeinsames Statement ein,
demzufolge zunächst einmal die „Qualität“ der gemeinsamen
Aufsicht gewährleistet sein müsse. Und als das Gespräch auf
künftige Wachstumsmaßnahmen der Euroländer kam, da lag Merkel vor
allem die „strikte Erledigung der nationalen Hausaufgaben“ durch
die Krisenstaaten am Herzen.
Außer der Pressekonferenz mit Hollande hielt die Bundeskanzlerin in
Ludwigsburg übrigens auch noch eine Rede, in der es um Charles de Gaulle und seinen
Optimismus in Bezug auf die deutsch-französischen Beziehungen ging.
An ihre jungen Zuhörer gewandt appellierte sie: „Lassen wir uns
auch heute und in Zukunft von dieser Zukunftsfreude anstecken!“
Einem zufällig anwesenden portugiesischen Arbeitslosen dürfte das
unter diesen Umständen nicht ganz leicht gefallen sein.
Bild: von Patrick Denker (Flickr) [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.
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