Wenn irgendwo ein Job zu
vergeben ist, dann will man dafür, na klar, denjenigen, der am
besten dafür geeignet ist. Doch je politischer ein Job ist, desto
schwieriger lässt sich bestimmen, worin diese Eignung eigentlich
besteht. Während eine Klempnerin oder ein Klavierlehrer recht klar
definierbare Funktionen haben, gehört es zur Aufgabe eines
Politikers auch, zwischen widersprüchlichen Zielen abzuwägen, für
die sich kein gemeinsamer Optimierungsmaßstab finden lässt. Aus
diesem Grund werden politische und politiknahe Posten (wie die eines
Verfassungsrichters oder Zentralbankers) auch nicht einfach
ausgeschrieben, sondern durch Wahl und Ernennung nach bestimmten
Kriterien „politisch“ besetzt.
Das wichtigste dieser
Kriterien ist natürlich in aller Regel die politische Ausrichtung,
also die Parteizugehörigkeit des Kandidaten. In einem
parlamentarischen System nehmen die Wähler Einfluss auf das
politische Personal vor allem dadurch, dass sie einer Partei ihre
Stimme geben, und bei der Bildung einer Koalition wird als Erstes
verhandelt, welcher der beteiligten Partner wie viele Ministerposten
erhält. Doch darüber hinaus gibt
es noch andere Kriterien, die eine Rolle bei der politischen
Personalauswahl spielen. Da wir davon ausgehen, dass unterschiedliche
gesellschaftliche Gruppen auch unterschiedliche Interessen und
Weltanschauungen haben, hat es sich eingebürgert, bei der
Zusammensetzung politischer Gremien auf eine angemessene
Repräsentation solcher Unterschiede zu achten. Dies schlägt sich in
formellen oder informellen Quoten- und Proporzsystemen nieder, die
von der Öffentlichkeit oft kaum hinterfragt werden
Geschlechter- und
Regionalproporz
Am
wichtigsten sind dabei wohl die Frauenquote und der Regionalproporz,
die häufig auch formal institutionalisiert werden. So gilt in
zahlreichen Staaten (von Schweden über Frankreich bis Tunesien) das
Reißverschlussprinzip, nach dem auf Wahllisten jeder zweite Platz
einer Frau überlassen bleibt; und fast überall ist das Wahlgebiet
in Kreise eingeteilt, um zu gewährleisten, dass nicht alle
Parlamentsabgeordneten aus derselben Gegend des Landes stammen. Doch
auch über solche formalen Regelungen hinaus sind Proporzgedanken
wirksam: Auch wenn das Grundgesetz dem deutschen Bundeskanzler freie
Hand bei der Wahl der Minister lässt, wäre eine Regierung, die nur
aus Männern bestünde, in Deutschland heute undenkbar – ebenso wie
ein Kabinett ohne ein Mitglied aus einem östlichen Bundesland.
Frauen-
und Regionalproporz sind jedoch nicht die einzigen informellen
Quoten. Je mehr die Gesellschaft sich ihrer Diversität bewusst wird,
desto größer ist auch das Bestreben, diese Diversität in
politischen Gremien abzubilden. Dass das Kabinett Merkel mit Wolfgang
Schäuble (CDU/EVP), Guido Westerwelle (FDP/ELDR) und Philipp Rösler
(FDP/ELDR) einen Rollstuhlfahrer, einen Homosexuellen und einen
gebürtigen Vietnamesen umfasst, wurde wiederholt als willkommenes
Zeichen von Vielfalt gedeutet. Dass mit Cem Özdemir (Grüne/EGP)
erstmals ein Muslim zum Vorsitzenden einer deutschen Partei gewählt
wurde, sorgte 2008 für einige Medienaufmerksamkeit. Und auch
wie alt oder jung Politiker sind, ist immer wieder von Interesse,
etwa in Italien, wo schon seit Jahren Kritik an der gerontocrazia geübt wird.
Quoten beschreiben
unser Weltbild
Welche
dieser Quoten wir für wichtig halten, sagt etwas über unser
Weltbild aus: Indem wir (formell oder informell) verlangen, dass
bestimmte gesellschaftliche Gruppen in einem Gremium repräsentiert
sein müssen, schreiben wir diesen Gruppen eine eigene Identität und
eigene Interessen zu, die gesondert zu fördern sind. Die Gruppe wird damit sowohl vom Rest der Gesellschaft abgetrennt als auch (durch die Aufnahme in das Gremium)
in diese integriert. Bei einem Gremium ohne Jugendliche, ohne
Muslime oder ohne Ostdeutsche haben wir Zweifel, ob es deren legitimen politischen Wünsche wirklich angemessen behandeln wird. Eine Linkshänder- oder eine
Rothaarigenquote dagegen gibt es nicht, da wir nicht davon ausgehen,
dass diese Gruppen tatsächlich gemeinsame Interessen haben, die
niemand anderes für sie vertreten kann.
Diese
wichtige Rolle des Proporzdenkens in unserem Weltbild führt
natürlich auch dazu, dass die Frage, welche Quoten eigentlich
wichtig sind, Teil intensiver politischer Diskussionen sein können.
Dass Bundestagsabgeordnete sich selbst als Fahrradfahrer inszenieren, ist ein Indiz
dafür, dass hier ein neues Kollektiv nach Repräsentation verlangt.
Umgekehrt lehnt die Piratenpartei unter dem Schlagwort post-gender
eine Frauenquote ab,
da eine Unterscheidung von Menschen nach ihrem Geschlecht immer
Ausdruck von Sexismus sei.
Yves
Mersch und der Nationalproporz
Und
nun zur Europäischen Zentralbank, in deren sechsköpfigem Direktorium derzeit ein Posten
frei ist. Die Direktoriumsmitglieder sind vollkommen unabhängig und
bilden zusammen mit den 17 nationalen Zentralbankgouverneuren den
EZB-Rat, der die wesentlichen geldpolitischen Entscheidungen in der
Eurozone trifft und damit eine zentrale Rolle bei der Überwindung der Euro-Krise spielt.
Angesichts dieses hohen Einflusses ist die Ernennung eines neuen
Direktors immer auch „politisch“. Wenn man einmal davon absieht,
dass der Kandidat eine überdurchschnittliche Ahnung von ökonomischen
Zusammenhängen haben sollte, sind objektive Maßstäbe für die
Besetzung kaum zu finden. Zentral ist vielmehr die geldpolitische
Weltanschauung des Kandidaten: Unter welchen Umständen soll die EZB
die Zinsen erhöhen oder senken? Ist es in Ordnung, wenn die
Zentralbank Anleihen von Mitgliedstaaten aufkauft? Und wenn ja, unter
welchen Bedingungen?
Angesichts
der angespannten derzeitigen Lage wäre ein Kandidat, der in dieser
Frage allzu offen allzu pointierte Meinungen vertritt, ohnehin nicht
mehrheitsfähig. Als der Europäische Rat, der die
Direktoriumsmitglieder ernennt, sich im Juli für den bisherigen
luxemburgischen Zentralbankgouverneur Yves Mersch entschied, war dies
auch darin begründet, dass dieser weder als starrsinniger „Falke“ noch als nachlässige „Taube“ gilt.
Vor
allem aber profitierte Mersch von einem komplizierten Deal, bei dem
mehrere Regierungen der Eurozone wichtige Posten für ihre eigenen
Staatsangehörigkeiten sichern wollten. Gleichzeitig mit dem
Direktoriumssitz (der zuvor von dem Spanier José
Manuel González-Páramo eingenommen
wurde) waren nämlich auch die Ämter des Eurogruppenvorsitzenden
(bisher der Luxemburger Jean-Claude Juncker, CSV/EVP) und des
Präsidenten des neuen Rettungsfonds ESM zu vergeben, und Interesse meldeten außer Spanien und Luxemburg auch Deutschland und Frankreich an, die sich unterrepräsentiert fühlten. Die Einzelheiten dieses Deals sind zu komplex, um hier von Interesse zu sein. Im Ergebnis jedenfalls erhielt der Deutsche Klaus Regling den ESM-Posten und Juncker wurde als Kompromisskandidat für ein halbes Jahr im Amt bestätigt, wobei er sogar noch Mersch als Direktoriumsmitglied durchsetzen konnte. Die
meisten Medienberichte sahen deshalb Luxemburg als den großen Sieger,
Spanien hingegen als Verlierer der Einigung. Dass es bei dem Postengeschacher im Europäischen Rat vor allem um ein Austarieren des Nationalproporzes zwischen den
Mitgliedstaaten ging, wurde von kaum jemandem in Zweifel gezogen.
Das
Europäische Parlament und die Frauen
Bis
sich in der vergangenen Woche das Europäische Parlament zu Wort
meldete, das zwar bei der Wahl der Direktoriumsmitglieder kein
Mitentscheidungsrecht hat, aber nach Art. 283 AEU-Vertrag
vor deren Ernennung „angehört“ werden muss. Diese
Anhörung war für den heutigen Montag geplant und wurde nun
kurzfristig von den Abgeordneten abgesagt.
Ihre Begründung dafür ist, dass sich unter den sechs
Direktoriumsmitgliedern schon seit Mai 2011 keine einzige Frau befindet –
und obendrein auch noch sämtliche der 17 nationalen Zentralbankchefs im EZB-Rat männlich sind.
Dass das Parlament seine Bedenken gegen so viel Maskulinität dem Europäischen
Rat schon im Mai
mitgeteilt hatte, dieser jedoch eine weibliche Kandidatin nicht
einmal in Erwägung zog, nahmen die Abgeordneten nun zum Anlass für
einen kleinen symbolischen Eklat. Ihr Ziel dabei war, so der
Abgeordnete Sven Giegold (Grüne/EGP), das „Aufbrechen eines Männerbundes“. Als weibliche Alternative zu Mersch käme etwa Beatrice Weder di Mauro in Frage, eine angesehene schweizerisch-italienische Ökonomin und bis Februar 2012 Mitglied des deutschen Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
Und
obwohl die Parlamentarier die Anhörung nicht beliebig lang werden
verzögern können und Merschs Ernennung deshalb letztlich wohl nicht
gefährdet ist, verdeutlicht dieser Vorfall, worin die
Prioritäten der verschiedenen EU-Organe liegen. Gewiss darf man
unterstellen, dass weder der Europäische Rat noch das Parlament für
einen so wichtigen Posten eine fachlich ungeeignete Person auswählen
würden. Doch innerhalb dieses Entscheidungsrahmens geht es den
Regierungen im Europäischen Rat vor allem darum, den nationalen
Proporz zu wahren – während für das Europäische Parlament, das
sich als Vertretung aller Unionsbürger versteht, ganz andere
Kriterien eine Rolle spielen: wie eben in diesem Fall die Vielfalt
der Geschlechter.
Wie
verstehen wir die europäische Gesellschaft?
Daraus aber lässt sich auch eine Lektion für die nächste Reform des EU-Vertrags ziehen, die früher oder später gewiss auf der Agenda
stehen wird. Welche Bedeutung man den verschiedenen
Organen der Union dann jeweils zukommen lassen will, hängt nicht zuletzt von
dem Verständnis ab, das wir von der europäischen Gesellschaft
haben. Verstehen wir die Nationalstaaten noch immer als unsere
primäre Identität und Europapolitik in erster Linie als einen
Ausgleich der verschiedenen nationalen Interessen? Dann sollten wir
auch künftig auf den Europäischen Rat setzen. Oder
sind wir inzwischen (um die Formulierung der Piratenpartei zu
modifizieren und zugleich einen Begriff von Jürgen Habermas aufzugreifen) in
einem post-nationalen
Europa
angekommen, in dem die Herkunft eines Politikers zwar nicht
vollständig gleichgültig geworden ist, aber nur noch ein Faktor
unter vielen anderen: seinem Geschlecht, seiner Religion, seinen
Behinderungen, seinem Alter und all den anderen Dingen, von denen wir
zu Recht oder zu Unrecht annehmen, dass sie für das Handeln eines
Entscheidungsträgers relevant sind? Dann sollten wir uns auf den Weg
in eine europäische parlamentarische Demokratie machen, in der sich
die Wähler an der Parteizugehörigkeit ihrer Abgeordneten
orientieren können und die Parteien selbst sich (auf Druck der
öffentlichen Meinung und, wenn es sein muss, des Wahlgesetzes) um
eine angemessene Diversität ihres Personals bemühen.
Bild: Europäische Zentralbank: Governing Council meeting in Barcelona [Nutzungsbedingungen].
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