Vor
zwei Wochen habe ich hier über die Europa-Union Deutschland geschrieben, die
sich anschickte, ein neues Grundsatzprogramm zu verabschieden. Am 28.
Oktober war es so weit, und inzwischen ist das Papier auch online zu finden. Inhaltlich entspricht es ungefähr dem
Erwartbaren; unter den zahlreichen Titelvorschlägen hat sich zuletzt
die Version „Die
europäische Einigung im 21. Jahrhundert: Unser
Ziel ist der europäische Bundesstaat“ durchgesetzt. Doch
nicht nur die Europa-Union, sondern auch ihre Jugendorganisation ist
gerade dabei, sich ein neues Programm zu geben. Die deutsche Sektion
der Jungen Europäischen Föderalisten (JEF) zählt rund 3.500 Mitglieder – europaweit sind es etwa
15.000 – und damit nur ein Fünftel der Europa-Union. Wenigstens in der Öffentlichkeit ist sie
jedoch der deutlich aktivere Teil. Und auch inhaltlich bietet ihr neues Grundsatzprogramm, das am nächsten Sonntag auf einem
Kongress in Saarbrücken verabschiedet werden soll, mehr
Angriffsfläche. Während die Europa-Union zum
großen Teil feierliche Selbstverständlichkeiten verkündete,
entwickeln die JEF auf nicht weniger als dreizehn Seiten eine recht
detaillierte Agenda. Vieles davon ist ganz großartig – etwas ins Schlingern aber geraten die Jungen Europäischen Föderalisten, wo es um die Welt jenseits der europäischen Grenzen geht.
Neues
Grundsatzprogramm
Fangen wir mit den Vorzügen an. Ähnlich
wie die Europa-Union fordern die JEF, dass Unionsbürger auch bei
nationalen Wahlen im Land ihres Wohnsitzes wählen dürfen, dass das
Europäische Parlament ein eigenes Besteuerungsrecht erhält und dass
die Außenpolitik zur allein europäischen Kompetenz wird. Zu den
weiteren Vorschlägen gehören die Vereinheitlichung des
Europawahlrechts sowie eine Reform der Kommission, die künftig
allein vom Europäischen Parlament gewählt und deren Größe
„sachorientiert“ statt durch die Anzahl der Mitgliedstaaten
festgelegt würde. Außerdem soll die Sozialpolitik der
Mitgliedstaaten „dort wo notwendig“ harmonisiert werden; und um
„ausgleichende und gestaltende Maßnahmen“ im gemeinsamen
Binnenmarkt durchzuführen, soll die europäische Ebene „erhebliche
eigene Mittel“ erhalten. Das
Beste aber findet sich etwas versteckt: Unter dem Stichpunkt
„Erweiterung“ erklären die JEF, „dass
eine weitere Vertiefung der Union zunehmend schwerer realisiert
werden kann, wenn die ohnehin schon große Zahl der Mitgliedsstaaten
weiter anwächst, ohne dass gleichzeitig das Einstimmigkeitsprinzip
bei Vertragsänderungen entfällt“.
Chapeau, wenn das nicht nur eine leere Floskel ist! Vertragsreformen ohne Veto wären ein Ziel, das manchen Einsatz
lohnen würde.
Angesichts
dessen scheinen auch die kleineren Schwächen des Programmentwurfs
verzeihlich: So wollen die JEF etwa die Unterschiede bei der
Stimmgewichtung im Rat verringern, bei der „bisher“ jeder Staat
„zwischen 3 und 39 Stimmen“ erhält – obwohl letztere Regelung
bereits durch den Vertrag von Lissabon mit Wirkung ab 2014
abgeschafft wurde. Und wenn die JEF als „Voraussetzung für die
Abgabe von Kompetenzen an einen obersten Europäischen Gerichtshof“
die „Sicherstellung eines äquivalenten Grundrechtsschutzes, wie
ihn derzeit das Bundesverfassungsgericht garantiert“, fordern, dann
ist das insofern verwunderlich, als das BVerfG selbst genau diese
Forderung längst für erfüllt hält – und zwar bereits seit
seinem Solange-II-Beschluss
von 1986.
Weltföderalismus
Aber
noch ist der Programmentwurf nicht verabschiedet; auf dem Kongress
am Wochenende sollen noch einige offene Fragen geklärt werden. Wie
der JEF-Vorsitzende Lars Becker vor einem Monat in
seinem Blog zusammenfasste, geht es dabei vor allem um vier
Kontroversen: Erstens sind sich die JEF uneinig darüber, ob es
europaweite Volksentscheide geben sollte. Zweitens scheint nicht so
ganz klar zu sein, ob die Idee, die EU in „Vereinigte Staaten von
Europa“ umzubenennen, ein Zeichen visionärer Kraft oder nur
utopischer Realitätsfremdheit ist. (Ich persönlich habe eher letzteren Eindruck. Und warum dem Programmentwurf zufolge die
Kommission künftig „Regierung“ und der Rat „Staatenvertretung“
heißen soll, erschließt sich mir, ehrlich gesagt, ebenfalls nicht
so ganz.) Drittens ist, wie so oft, das Verhältnis zwischen
Vertiefung und Erweiterung umstritten. Und viertens diskutieren die
JEF über die Rolle des Weltföderalismus – und hier wird es besonders interessant.
Im
Einzelnen verkündet der Programmentwurf zu diesem Thema, der
Föderalismus müsse als „ein sinnvolles politisches Ordnungssystem
auf allen politischen Ebenen“ auch weltweit angewandt werden, wenn
auch nur für „die wichtigsten globalen Probleme“, insbesondere
die Sicherheitspolitik, den Umweltschutz und die
Finanzmarktregulierung. Dafür sollen „[l]angfristig“ die
Vereinten Nationen in einen „Staatenverbund
mit einem Weltparlament“ umgewandelt werden. Außerdem wollen die
JEF die globale Rechtsstaatlichkeit stärken, wobei im Programm jedoch nur vom Internationalen Strafgerichtshof die Rede ist, nicht von einem
globalen Verfassungsgericht, wie es der tunesische Präsident kürzlich vorgeschlagen hat. Erstaunlich
inkonsequent wird es dann allerdings bei der globalen Exekutive: Eine
demokratisch legitimierte „Weltregierung
mit einem Weltpräsidenten“ ist dem Entwurf zufolge unnötig –
stattdessen soll nur der UN-Sicherheitsrat ein bisschen überarbeitet
und „fairer“ gestaltet werden.
„Hegemonialer
Anspruch“ Europas?
Was
unter den JEF für Kontroversen gesorgt hat, ist allerdings
anscheinend nicht so sehr dieser schlecht begründete Verzicht
darauf, die Prinzipien supranationaler Demokratie auch für die
globale Ebene konsequent auszubuchstabieren. Stattdessen wurde Lars
zufolge kritisiert, dass der Weltföderalismus den „Ausdruck eines
‚hegemonialen‘ Anspruchs“ darstelle, „da nicht geklärt sei,
ob der Föderalismus als universelles Prinzip auch über Europa
hinaus sinnvoll sei“. Anders formuliert: Sollen die Europäer, die
seit dem Ende des Mittelalters jahrhundertelang gewaltsam die übrigen
Kontinente erobert und kolonisiert haben, jetzt schon wieder
versuchen, dem Rest der Welt ihr politisches Modell aufzudrängen?
Liest
man die entsprechenden Passagen im Programmentwurf der JEF
aufmerksam, so scheint es tatsächlich bisweilen, als ob die Welt am
europäischen Wesen genesen solle. Europa,
so heißt es da, solle „Inspiration und Vorbild für weitere
regionale Integrationsprojekte sein“, einen „prototypischen
Charakter“ haben und „auch auf globaler Ebene dabei helfen,
zivilisierte und faire Antworten auf globale Probleme zu finden“.
Kurz: Die „Globalisierung politisch zu gestalten“ müsse ein
„zentrales
europäisches Projekt werden“. Doch verbirgt sich hinter diesen Ideen
wirklich ein versteckter
hegemonialer Anspruch? Ich denke, das Problem ist ein
anderes: Was an dem Programmentwurf so schief klingt, ist, dass er
Konzepte einer europäischen Außen- und einer globalen Innenpolitik
miteinander vermengt.
Föderalismus
ist eine verfassungspolitische
Überzeugung, die an keine geografischen Grenzen gebunden ist. Die Europäer haben darauf auch kein Patent, im
Gegenteil: Die Federalist
Papers
wurden bekanntlich von Amerikanern geschrieben, in einer Zeit, als
man in Europa noch über die Legitimität der absoluten Monarchie
nachdachte. Auch Befürworter einer globalen Demokratie wird man
in allen Teilen der Welt finden. Und Postkolonialismus hin oder her: Es spricht überhaupt nichts
dagegen, sich mit diesen anderen zusammenzutun, um als
föderalistisch gesinnte Weltbürger gemeinsam
das globale politische System umzugestalten.
Doch
das politische Subjekt, an das sich der JEF-Programmentwurf wendet,
sind nicht die föderalistischen Weltbürger, sondern die europäischen Außenpolitiker.
In der Kurzfassung des Programms heißt es unmittelbar hinter dem
Stichwort „Weltföderalismus“, dass Europa durch ein
einheitliches Auftreten auf der internationalen Bühne „politische
Interessen wirksamer […] vertreten“ könne; und auch später ist
es die EU, die als
Vorbild für andere Staatenverbünde fungieren, die
„Herausbildung weiterer regionaler Integrationsprojekte
unterstützen“
und die „Globalisierung politisch […] gestalten“ soll. Mit
diesen Bezügen auf eine europäische Außenpolitik aber entsteht ein
gedanklicher Gegensatz zwischen dem europäischen Wir
und
dem außereuropäischen Anderen
–
genau das also, was das Konzept eines kosmopolitischen Föderalismus
doch eigentlich überwinden sollte. Es ist deshalb zu hoffen, dass
die JEF an diesem Punkt noch nachbessern: Nicht Europa
oder die Europäer haben ein Interesse am Weltföderalismus, sondern
all jene Bürger, die, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem
Wohnort, das globale System der Zukunft demokratisch ausgestalten
wollen.
Wem
hat Migration zu nutzen?
Und
wenn wir schon dabei sind: Noch an einer anderen Stelle zeugt der
Programmentwurf von einem eklatanten Mangel an Kosmopolitismus.
Gemeint ist die Passage zur Einwanderungspolitik, wo zunächst völlig
zu Recht eine solidarische Asylpolitik und eine Abschaffung der
Dublin-II-Verordnung gefordert wird. Dann aber heißt es dort:
Migrationspolitik unterscheidet sich grundsätzlich von Asylpolitik dadurch, dass hier von nicht erzwungener Migration ausgegangen wird. Die europäische Migrationspolitik sollte sich deshalb an den Interessen der Union orientieren.
Mit
Verlaub: Wenn man dieses Argument akzeptiert, müsste man auch die
innereuropäische Freizügigkeit abschaffen, die doch zu den
wichtigsten Errungenschaften der Europäischen Union gehört! Wenn
heute ein Tscheche nach Portugal oder ein Malteser nach Schweden zieht,
dann ist das ebenfalls „nicht erzwungene Migration“. Dennoch
dürfen Portugal und Schweden die Einwanderung dieser anderen
Unionsbürger nicht aus Gründen ihres nationalen Interesses
verbieten, mehr noch: innerhalb des Schengen-Raums dürfen sie die
Einwanderer nicht einmal an der Landesgrenze kontrollieren. Und sind nicht
die JEF vor wenig mehr als einem Jahr genau für diese Reisefreiheit an der deutsch-dänischen Grenze demonstrieren gewesen?
Will
man nun nicht für Europäer und Außereuropäer zwei
unterschiedliche Maßstäbe anlegen, so kann man Letzteren nicht
grundsätzlich verwehren, was man bei Ersteren als ein elementares Grundrecht betrachtet. Aus föderalistischer (oder sagen wir besser:
aus humanistischer) Sicht kann das Fernziel nichts anderes als die
weltweite persönliche Freizügigkeit aller Menschen sein.
Pragmatische Gründe mögen Restriktionen heute noch notwendig machen
– angesichts des Wohlstandsgefälles zwischen der EU und einem
Großteil des Restes der Welt würde eine völlige Liberalisierung
der europäischen Einwanderungspolitik wohl so große
Migrationsströme auslösen, dass das soziale Gefüge sowohl in
Europa als auch in den Auswanderungsländern in Gefahr geriete. Aber
daraus entsteht zunächst einmal vor allem eine Verpflichtung, durch
wirtschaftliche Zusammenarbeit dieses Wohlstandsgefälle abzubauen,
um dann so bald wie möglich eben doch eine Grenzöffnung zu ermöglichen. Eine Festung Europa, die Einwanderer immer nur dann
zulässt, wenn sie darin einen Nutzen für ihre eigenen Interessen sieht, wäre hingegen kein
Ausdruck eines supranationalen Föderalismus, sondern eines
europäisch gewendeten Nationalismus. Und darauf können wir wirklich
verzichten.
Kontroverse
Diskussionen
Die
Jungen Europäischen Föderalisten, so heißt es in dem
Grundsatzprogramm, „zeichnen
sich durch eine freundschaftliche politische
Streitkultur aus,
die von gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Achtung geprägt ist.
[…] Kontroverse Diskussionen sind sind
bei uns kein Tabu. Sie sind sogar erwünscht
[…]“.
Es
ist dem neuen Programmentwurf zu wünschen, dass vor seiner
Verabschiedung am Wochenende noch die ein oder andere kontroverse
Diskussion darüber stattfindet. Zunächst einmal aber ist es bereits
ein Verdienst, dass er umstrittenen Fragen nicht aus
dem Weg geht, sondern auch hier eine Positionierung
anstrebt und Langzeitperspektiven zu formulieren versucht. Zu viel politischer Mut hat der europäischen Integration bis jetzt jedenfalls noch niemals geschadet.
Bild: jef.europe [CC-BY-NC-2.0], via Flickr.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Kommentare sind hier herzlich willkommen und werden nach der Sichtung freigeschaltet. Auch wenn anonyme Kommentare technisch möglich sind, ist es für eine offene Diskussion hilfreich, wenn Sie Ihre Beiträge mit Ihrem Namen kennzeichnen. Um einen interessanten Gedankenaustausch zu ermöglichen, sollten sich Kommentare außerdem unmittelbar auf den Artikel beziehen und möglichst auf dessen Argumentation eingehen. Bitte haben Sie Verständnis, dass Meinungsäußerungen ohne einen klaren inhaltlichen Bezug zum Artikel hier in der Regel nicht veröffentlicht werden.