05 November 2012

Die Jungen Europäischen Föderalisten und die außereuropäische Welt

Eigentlich sind die JEF für ein visafreies Europa. In Armenien jedenfalls.
Vor zwei Wochen habe ich hier über die Europa-Union Deutschland geschrieben, die sich anschickte, ein neues Grundsatzprogramm zu verabschieden. Am 28. Oktober war es so weit, und inzwischen ist das Papier auch online zu finden. Inhaltlich entspricht es ungefähr dem Erwartbaren; unter den zahlreichen Titelvorschlägen hat sich zuletzt die Version „Die europäische Einigung im 21. Jahrhundert: Unser Ziel ist der europäische Bundesstaat“ durchgesetzt. Doch nicht nur die Europa-Union, sondern auch ihre Jugendorganisation ist gerade dabei, sich ein neues Programm zu geben. Die deutsche Sektion der Jungen Europäischen Föderalisten (JEF) zählt rund 3.500 Mitglieder – europaweit sind es etwa 15.000 – und damit nur ein Fünftel der Europa-Union. Wenigstens in der Öffentlichkeit ist sie jedoch der deutlich aktivere Teil. Und auch inhaltlich bietet ihr neues Grundsatzprogramm, das am nächsten Sonntag auf einem Kongress in Saarbrücken verabschiedet werden soll, mehr Angriffsfläche. Während die Europa-Union zum großen Teil feierliche Selbstverständlichkeiten verkündete, entwickeln die JEF auf nicht weniger als dreizehn Seiten eine recht detaillierte Agenda. Vieles davon ist ganz großartig – etwas ins Schlingern aber geraten die Jungen Europäischen Föderalisten, wo es um die Welt jenseits der europäischen Grenzen geht.

Neues Grundsatzprogramm

Fangen wir mit den Vorzügen an. Ähnlich wie die Europa-Union fordern die JEF, dass Unionsbürger auch bei nationalen Wahlen im Land ihres Wohnsitzes wählen dürfen, dass das Europäische Parlament ein eigenes Besteuerungsrecht erhält und dass die Außenpolitik zur allein europäischen Kompetenz wird. Zu den weiteren Vorschlägen gehören die Vereinheitlichung des Europawahlrechts sowie eine Reform der Kommission, die künftig allein vom Europäischen Parlament gewählt und deren Größe „sachorientiert“ statt durch die Anzahl der Mitgliedstaaten festgelegt würde. Außerdem soll die Sozialpolitik der Mitgliedstaaten „dort wo notwendig“ harmonisiert werden; und um „ausgleichende und gestaltende Maßnahmen“ im gemeinsamen Binnenmarkt durchzuführen, soll die europäische Ebene „erhebliche eigene Mittel“ erhalten. Das Beste aber findet sich etwas versteckt: Unter dem Stichpunkt „Erweiterung“ erklären die JEF, „dass eine weitere Vertiefung der Union zunehmend schwerer realisiert werden kann, wenn die ohnehin schon große Zahl der Mitgliedsstaaten weiter anwächst, ohne dass gleichzeitig das Einstimmigkeitsprinzip bei Vertragsänderungen entfällt“. Chapeau, wenn das nicht nur eine leere Floskel ist! Vertragsreformen ohne Veto wären ein Ziel, das manchen Einsatz lohnen würde.

Angesichts dessen scheinen auch die kleineren Schwächen des Programmentwurfs verzeihlich: So wollen die JEF etwa die Unterschiede bei der Stimmgewichtung im Rat verringern, bei der „bisher“ jeder Staat „zwischen 3 und 39 Stimmen“ erhält – obwohl letztere Regelung bereits durch den Vertrag von Lissabon mit Wirkung ab 2014 abgeschafft wurde. Und wenn die JEF als „Voraussetzung für die Abgabe von Kompetenzen an einen obersten Europäischen Gerichtshof“ die „Sicherstellung eines äquivalenten Grundrechtsschutzes, wie ihn derzeit das Bundesverfassungsgericht garantiert“, fordern, dann ist das insofern verwunderlich, als das BVerfG selbst genau diese Forderung längst für erfüllt hält – und zwar bereits seit seinem Solange-II-Beschluss von 1986.

Weltföderalismus

Aber noch ist der Programmentwurf nicht verabschiedet; auf dem Kongress am Wochenende sollen noch einige offene Fragen geklärt werden. Wie der JEF-Vorsitzende Lars Becker vor einem Monat in seinem Blog zusammenfasste, geht es dabei vor allem um vier Kontroversen: Erstens sind sich die JEF uneinig darüber, ob es europaweite Volksentscheide geben sollte. Zweitens scheint nicht so ganz klar zu sein, ob die Idee, die EU in „Vereinigte Staaten von Europa“ umzubenennen, ein Zeichen visionärer Kraft oder nur utopischer Realitätsfremdheit ist. (Ich persönlich habe eher letzteren Eindruck. Und warum dem Programmentwurf zufolge die Kommission künftig „Regierung“ und der Rat „Staatenvertretung“ heißen soll, erschließt sich mir, ehrlich gesagt, ebenfalls nicht so ganz.) Drittens ist, wie so oft, das Verhältnis zwischen Vertiefung und Erweiterung umstritten. Und viertens diskutieren die JEF über die Rolle des Weltföderalismus – und hier wird es besonders interessant.

Im Einzelnen verkündet der Programmentwurf zu diesem Thema, der Föderalismus müsse als „ein sinnvolles politisches Ordnungssystem auf allen politischen Ebenen“ auch weltweit angewandt werden, wenn auch nur für „die wichtigsten globalen Probleme“, insbesondere die Sicherheitspolitik, den Umweltschutz und die Finanzmarktregulierung. Dafür sollen „[l]angfristig“ die Vereinten Nationen in einen „Staatenverbund mit einem Weltparlament“ umgewandelt werden. Außerdem wollen die JEF die globale Rechtsstaatlichkeit stärken, wobei im Programm jedoch nur vom Internationalen Strafgerichtshof die Rede ist, nicht von einem globalen Verfassungsgericht, wie es der tunesische Präsident kürzlich vorgeschlagen hat. Erstaunlich inkonsequent wird es dann allerdings bei der globalen Exekutive: Eine demokratisch legitimierte „Weltregierung mit einem Weltpräsidenten“ ist dem Entwurf zufolge unnötig – stattdessen soll nur der UN-Sicherheitsrat ein bisschen überarbeitet und „fairer“ gestaltet werden.

Hegemonialer Anspruch“ Europas?

Was unter den JEF für Kontroversen gesorgt hat, ist allerdings anscheinend nicht so sehr dieser schlecht begründete Verzicht darauf, die Prinzipien supranationaler Demokratie auch für die globale Ebene konsequent auszubuchstabieren. Stattdessen wurde Lars zufolge kritisiert, dass der Weltföderalismus den „Ausdruck eines ‚hegemonialen‘ Anspruchs“ darstelle, „da nicht geklärt sei, ob der Föderalismus als universelles Prinzip auch über Europa hinaus sinnvoll sei“. Anders formuliert: Sollen die Europäer, die seit dem Ende des Mittelalters jahrhundertelang gewaltsam die übrigen Kontinente erobert und kolonisiert haben, jetzt schon wieder versuchen, dem Rest der Welt ihr politisches Modell aufzudrängen?

Liest man die entsprechenden Passagen im Programmentwurf der JEF aufmerksam, so scheint es tatsächlich bisweilen, als ob die Welt am europäischen Wesen genesen solle. Europa, so heißt es da, solle „Inspiration und Vorbild für weitere regionale Integrationsprojekte sein“, einen „prototypischen Charakter“ haben und „auch auf globaler Ebene dabei helfen, zivilisierte und faire Antworten auf globale Probleme zu finden“. Kurz: Die „Globalisierung politisch zu gestalten“ müsse ein „zentrales europäisches Projekt werden“. Doch verbirgt sich hinter diesen Ideen wirklich ein versteckter hegemonialer Anspruch? Ich denke, das Problem ist ein anderes: Was an dem Programmentwurf so schief klingt, ist, dass er Konzepte einer europäischen Außen- und einer globalen Innenpolitik miteinander vermengt.

Föderalismus ist eine verfassungspolitische Überzeugung, die an keine geografischen Grenzen gebunden ist. Die Europäer haben darauf auch kein Patent, im Gegenteil: Die Federalist Papers wurden bekanntlich von Amerikanern geschrieben, in einer Zeit, als man in Europa noch über die Legitimität der absoluten Monarchie nachdachte. Auch Befürworter einer globalen Demokratie wird man in allen Teilen der Welt finden. Und Postkolonialismus hin oder her: Es spricht überhaupt nichts dagegen, sich mit diesen anderen zusammenzutun, um als föderalistisch gesinnte Weltbürger gemeinsam das globale politische System umzugestalten.

Doch das politische Subjekt, an das sich der JEF-Programmentwurf wendet, sind nicht die föderalistischen Weltbürger, sondern die europäischen Außenpolitiker. In der Kurzfassung des Programms heißt es unmittelbar hinter dem Stichwort „Weltföderalismus“, dass Europa durch ein einheitliches Auftreten auf der internationalen Bühne „politische Interessen wirksamer […] vertreten“ könne; und auch später ist es die EU, die als Vorbild für andere Staatenverbünde fungieren, die „Herausbildung weiterer regionaler Integrationsprojekte unterstützen“ und die „Globalisierung politisch […] gestalten“ soll. Mit diesen Bezügen auf eine europäische Außenpolitik aber entsteht ein gedanklicher Gegensatz zwischen dem europäischen Wir und dem außereuropäischen Anderen – genau das also, was das Konzept eines kosmopolitischen Föderalismus doch eigentlich überwinden sollte. Es ist deshalb zu hoffen, dass die JEF an diesem Punkt noch nachbessern: Nicht Europa oder die Europäer haben ein Interesse am Weltföderalismus, sondern all jene Bürger, die, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Wohnort, das globale System der Zukunft demokratisch ausgestalten wollen.

Wem hat Migration zu nutzen?

Und wenn wir schon dabei sind: Noch an einer anderen Stelle zeugt der Programmentwurf von einem eklatanten Mangel an Kosmopolitismus. Gemeint ist die Passage zur Einwanderungspolitik, wo zunächst völlig zu Recht eine solidarische Asylpolitik und eine Abschaffung der Dublin-II-Verordnung gefordert wird. Dann aber heißt es dort:
Migrationspolitik unterscheidet sich grundsätzlich von Asylpolitik dadurch, dass hier von nicht erzwungener Migration ausgegangen wird. Die europäische Migrationspolitik sollte sich deshalb an den Interessen der Union orientieren.
Mit Verlaub: Wenn man dieses Argument akzeptiert, müsste man auch die innereuropäische Freizügigkeit abschaffen, die doch zu den wichtigsten Errungenschaften der Europäischen Union gehört! Wenn heute ein Tscheche nach Portugal oder ein Malteser nach Schweden zieht, dann ist das ebenfalls „nicht erzwungene Migration“. Dennoch dürfen Portugal und Schweden die Einwanderung dieser anderen Unionsbürger nicht aus Gründen ihres nationalen Interesses verbieten, mehr noch: innerhalb des Schengen-Raums dürfen sie die Einwanderer nicht einmal an der Landesgrenze kontrollieren. Und sind nicht die JEF vor wenig mehr als einem Jahr genau für diese Reisefreiheit an der deutsch-dänischen Grenze demonstrieren gewesen?

Will man nun nicht für Europäer und Außereuropäer zwei unterschiedliche Maßstäbe anlegen, so kann man Letzteren nicht grundsätzlich verwehren, was man bei Ersteren als ein elementares Grundrecht betrachtet. Aus föderalistischer (oder sagen wir besser: aus humanistischer) Sicht kann das Fernziel nichts anderes als die weltweite persönliche Freizügigkeit aller Menschen sein. Pragmatische Gründe mögen Restriktionen heute noch notwendig machen – angesichts des Wohlstandsgefälles zwischen der EU und einem Großteil des Restes der Welt würde eine völlige Liberalisierung der europäischen Einwanderungspolitik wohl so große Migrationsströme auslösen, dass das soziale Gefüge sowohl in Europa als auch in den Auswanderungsländern in Gefahr geriete. Aber daraus entsteht zunächst einmal vor allem eine Verpflichtung, durch wirtschaftliche Zusammenarbeit dieses Wohlstandsgefälle abzubauen, um dann so bald wie möglich eben doch eine Grenzöffnung zu ermöglichen. Eine Festung Europa, die Einwanderer immer nur dann zulässt, wenn sie darin einen Nutzen für ihre eigenen Interessen sieht, wäre hingegen kein Ausdruck eines supranationalen Föderalismus, sondern eines europäisch gewendeten Nationalismus. Und darauf können wir wirklich verzichten.

Kontroverse Diskussionen

Die Jungen Europäischen Föderalisten, so heißt es in dem Grundsatzprogramm, „zeichnen sich durch eine freundschaftliche politische Streitkultur aus, die von gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Achtung geprägt ist. […] Kontroverse Diskussionen sind sind bei uns kein Tabu. Sie sind sogar erwünscht […]“.

Es ist dem neuen Programmentwurf zu wünschen, dass vor seiner Verabschiedung am Wochenende noch die ein oder andere kontroverse Diskussion darüber stattfindet. Zunächst einmal aber ist es bereits ein Verdienst, dass er umstrittenen Fragen nicht aus dem Weg geht, sondern auch hier eine Positionierung anstrebt und Langzeitperspektiven zu formulieren versucht. Zu viel politischer Mut hat der europäischen Integration bis jetzt jedenfalls noch niemals geschadet.

Bild: jef.europe [CC-BY-NC-2.0], via Flickr.

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