Zugegeben: Es stand schon
einmal besser um die Aussicht auf eine baldige Änderung der
europäischen Verträge. Jedenfalls hat Kommissionspräsident José
Manuel Durão Barroso (PSD/EVP), der Ende 2012 ankündigte, noch vor
der kommenden Europawahl Vorschläge für die Umwandlung
der EU in eine „demokratische Föderation von Nationalstaaten“
vorzulegen, sein Versprechen bis heute nicht wahr gemacht. Und der
italienische Ministerpräsident Enrico Letta (PD/SPE), der sich
noch vor einem halben Jahr dazu
bekannte, „von den Vereinigten Staaten von Europa zu träumen“,
ist inzwischen von dem jungen und europapolitisch unerfahrenen Matteo
Renzi (PD/SPE) abgelöst worden. Dieser wiederum plant sich in
den nächsten Monaten vor allem auf die inneren Probleme seines
Landes, vor allem die hohe Arbeitslosigkeit, zu konzentrieren. Wie es
aussieht, wird deshalb auch die italienische Ratspräsidentschaft im
zweiten Halbjahr 2014, die ich vor einigen Monaten als
das beste Zeitfenster für einen Anlauf zu einem neuen Europäischen
Konvent beschrieben habe, ungenutzt bleiben.
Und dennoch: Die Idee
einer Vertragsreform ist in der Welt, und sie wird auch nicht so
schnell wieder daraus verschwinden. An Vorschlägen dafür mangelt es
jedenfalls nicht. Im Oktober 2013 stellte zum Beispiel die Glienicker
Gruppe, eine Gemeinschaft von elf deutschen Juristen, Ökonomen
und Politikwissenschaftlern, eine Reihe von Empfehlungen vor, um
Wirtschaft, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der EU zu stärken.
Die Groupe
Eiffel, ihr französisches Pendant, antwortete darauf vor kurzem
mit einem eigenen Manifest für eine politische Gemeinschaft auf
Grundlage der europäischen Währungsunion. Die Spinelli
Group, eine Vereinigung föderalistischer Abgeordneter im
Europäischen Parlament, veröffentlichte sogar schon einen
ausformulierten Entwurf, wie ein neues „Grundgesetz für die
Europäische Union“ aussehen könnte. Und natürlich gibt es auch
den europapolitischen Wunschzettel, den ich
selbst zu Weihnachten 2012 geschrieben habe. Auch wenn sie in den
Massenmedien oft in der Flut der Nachrichten untergeht, ist die
Frage, wie das politische System der EU in Zukunft gestaltet sein
sollte, längst wieder in der europäischen Öffentlichkeit
angekommen.
Prioritäten bei der
Vertragsreform
In der Fülle an Ideen
wird bislang allerdings nur selten darüber diskutiert, wie bei einer
möglichen Vertragsänderung eigentlich die Schwerpunkte gesetzt
werden sollten. Die oben genannten Reformvorschläge präsentieren
jeweils ein ganzes Paket an Maßnahmen – mit gutem Grund natürlich,
denn wenn die künftige EU eine einigermaßen konsistente Gestalt
haben soll, wird es nicht genügen, lediglich an einer einzelnen
Stellschraube zu drehen. In der Realität jedoch wäre ein
Europäischer Konvent, der eine neue Vertragsreform entwirft, immer
auch die Bühne komplexer Aushandlungsprozesse, bei denen zahlreiche
Akteure ihre jeweils eigenen Vorstellungen einbringen und niemand
sein Modell vollständig durchsetzen kann.
Und damit gewinnt die
Frage nach den Prioritäten zentrale Bedeutung: Wenn man davon
ausgeht, dass sich auch bei der nächsten Vertragsreform nur einige
wenige Punkte der eigenen Agenda verwirklichen lassen, auf welche
sollte man sich dann konzentrieren? Muss es primär darum gehen, die
Europäische Union politisch und wirtschaftlich handlungsfähiger zu
machen? Oder sollte im Vordergrund der Reform ihre demokratische
Legitimation stehen? Und welche Einzelmaßnahmen sind am besten
geeignet, um diese Ziele zu erreichen? Welche Möglichkeiten gibt es,
um heute durch einen kleinen Schritt einen Stein ins Rollen zu
bringen, der morgen große Veränderungen auslöst?
Europäische
Blogosphäre
Diese Frage geht nicht nur die gewählten Politiker an, die eines Tages womöglich selbst im
nächsten Europäischen Konvent sitzen werden, sondern uns alle, die
wir als europäische Bürger an der öffentlichen Debatte über die
Zukunft unseres politischen Systems teilnehmen. Zu einem –
wenigstens im Internet – recht aktiven Teil dieser Debatte haben
sich inzwischen die europapolitischen Blogs entwickelt, die nicht zu
Unrecht immer wieder als Chance für eine neue transnationale Form
von Öffentlichkeit beschrieben
wurden. Die Seite bloggingportal.eu,
die seit über fünf Jahren Beiträge zur Euroblogosphäre
aggregiert, legt davon Zeugnis ab.
Vor einiger Zeit habe ich
deshalb einigen der Blogger, die regelmäßig über
europapolitische oder europarechtliche Themen schreiben, die Frage
gestellt, mit der auch dieser Artikel überschrieben ist: Wenn du
eines an den EU-Verträgen ändern könntest, was wäre es? Ich habe
sie gebeten, sich dabei auf eine einzelne Reform im System der EU zu
konzentrieren und zu erklären, warum sie gerade diese für besonders wichtig halten. In den nächsten Wochen sollen
ihre Antworten in einer losen Serie in diesem Blog erscheinen.
Dies
ist das erste Mal, dass sich Der (europäische) Föderalist für
Gastbeiträge öffnet – und da die europäische Öffentlichkeit
groß und vielfältig ist, sind die meisten von ihnen nicht auf
Deutsch, sondern auf Englisch oder in einer anderen Sprache
geschrieben. In diesen Fällen habe ich selbst die Artikel ins
Deutsche übersetzt und werde hier jeweils sowohl die Originalversion
als auch die Übersetzung veröffentlichen. Den Anfang macht in Kürze Eurocentric, der Autor des Blogs The
European Citizen.
Wenn du eines an den EU-Verträgen ändern könntest, was wäre es? – Übersicht
1: Wenn du eines an den EU-Verträgen ändern könntest, was wäre es?
2: Für eine wirklich demokratische Kommission ● Eurocentric
3: Gegen die schleichende Kompetenzübertragung: Ein Subsidiaritätstest vor dem Europäischen Gerichtshof ● Martin Holterman
4: Politische Union: Der Schmetterlingseffekt eines einzelnen Wortes ● Horațiu Ferchiu
5: Menschen, nicht Mitgliedstaaten: Eine Vertragsreform für ein neues Zeitalter politischer Organisation ● Protesilaos Stavrou
6: Eine Klausel für sozialen Fortschritt ● Eric Bonse
1: Wenn du eines an den EU-Verträgen ändern könntest, was wäre es?
2: Für eine wirklich demokratische Kommission ● Eurocentric
3: Gegen die schleichende Kompetenzübertragung: Ein Subsidiaritätstest vor dem Europäischen Gerichtshof ● Martin Holterman
4: Politische Union: Der Schmetterlingseffekt eines einzelnen Wortes ● Horațiu Ferchiu
5: Menschen, nicht Mitgliedstaaten: Eine Vertragsreform für ein neues Zeitalter politischer Organisation ● Protesilaos Stavrou
6: Eine Klausel für sozialen Fortschritt ● Eric Bonse
Bild: Eigenes Foto.
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