Die Idee einer EU-Vertragsreform ist in der Welt – es wird Zeit, über unsere Prioritäten zu sprechen. In einer losen Serie von Gastartikeln antworten Europa-Blogger hier auf die Frage: „Wenn du eines an den EU-Verträgen ändern könntest, was wäre es?“ Heute: Martin Holterman. (Zum Anfang der Serie.)
Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.Art. 5 Abs. 3 EU-Vertrag
- Eigentlich ist der EuGH schon jetzt für die Überwachung des Subsidiaritätsprinzips zuständig. Aber noch füllt er diese Rolle nicht so richtig aus.
Wenn es eines gibt,
worin sich die EU-Kommentatoren des gesamten politischen Spektrums in
einer Sache anscheinend einig sind, dann dass die Union das Vertrauen
der Bevölkerung verloren hat. Nicht nur, dass sich Wähler im
Allgemeinen außerstande fühlen, die Dinge in Brüssel und Straßburg
zu beeinflussen. Vor allem sehen sie die Union auch als eine
unkontrollierbare Bürokratie, die im Lauf der Zeit immer mehr
Kompetenzen in sich aufsaugt.
Der Mechanismus, der
das verhindern sollte, ist die Subsidiaritätsregel. Dieses Prinzip,
das durch den Vertrag von Maastricht eingeführt wurde, besagt, dass
die Union sich nicht in Bereiche einmischen soll, in denen die
Mitgliedstaaten genauso gut selbst für sich sorgen können. Im
Zweifel gewinnen die Mitgliedstaaten. Doch leider war dieses Werkzeug
nicht so wirkungsvoll, wie Mrs. Thatcher gehofft hatte.
Gelbe Karten
Der
Vertrag von Lissabon versuchte dieses Problem bekanntlich zu lösen,
indem er ein System von Gelben Karten einführte, durch das die nationalen Parlamente von einem Drittel
oder mehr Mitgliedstaaten die Kommission dazu zwingen können, einen
Vorschlag noch einmal zu überdenken, wenn sie darin einen Verstoß
gegen das Subsidiaritätsprinzip sehen. Dieses System hat bislang
einigermaßen gut funktioniert. Zwei Gelbe Karten wurden gezeigt
(eine für einen Vorschlag
zur Gewerkschaftsregulierung und eine für einen Vorschlag
zur Schaffung einer europäischen Staatsanwaltschaft); und vor allem hat das Verfahren geholfen, dass sich nationale
Parlamente inzwischen stärker in den EU-Gesetzgebungsprozess
einbringen.
Doch da die Wähler
auch den nationalen Abgeordneten meist nicht allzu sehr vertrauen,
ist dies nicht genug. In einer perfekten Welt würde die vertikale
Machtverteilung sicherstellen, dass die Mitgliedstaaten ihre
Vorrechte gegenüber der Union genauso schützen wie die Union ihre
Vorrechte gegenüber den Mitgliedstaaten schützt. In Wirklichkeit
wissen die Wähler aber, dass es nationale Politiker oft ganz gern
haben, wenn Dinge in Brüssel erledigt werden, da sie dann selbst
untätig bleiben und zugleich jede Verantwortung von sich weisen
können. Die Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips kann deshalb
nicht politischen Akteuren überlassen bleiben.
Der Gerichtshof
Natürlich
gibt es keinen rechtlichen Grund, weshalb der Europäische
Gerichtshof (EuGH) das Subsidiaritätsprinzip nicht durchsetzen
sollte. Mit seinem Protokoll
über die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit bekräftigte der Vertrag von Lissabon, was schon seit Maastricht
galt:
Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für Klagen wegen Verstoßes eines Gesetzgebungsakts gegen das Subsidiaritätsprinzip zuständig, die nach Maßgabe des Artikels 230 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union von einem Mitgliedstaat erhoben oder entsprechend der jeweiligen innerstaatlichen Rechtsordnung von einem Mitgliedstaat im Namen seines nationalen Parlaments oder einer Kammer dieses Parlaments übermittelt werden.
Doch
seit den frühen 1990er Jahren hat der Gerichtshof stets höflich,
aber bestimmt abgelehnt, sich auf dieses Gebiet zu begeben. Der Grund
dafür ist ein wenig unklar; aber die beste Erklärung ist wohl, dass
der Gerichtshof das Subsidiaritätsprinzip für eine politische Frage
hält, die er nicht berühren sollte, solange es nicht in allzu
grober Weise verletzt wird. Anders als die Gerichte der USA haben die
EU-Gerichte leider keine explizite Political-Question-Doktrin,
mit der ein Gericht ausdrücklich die Beantwortung einer Frage
verweigern kann, die der Legislative oder Exekutive überlassen
bleiben soll. Stattdessen ist zu beobachten, dass die
Subsidiaritätsprüfung des EuGH so lax ausgestaltet ist, dass
letztlich immer der EU-Gesetzgeber gewinnt.
Frühe Fälle
Das
erste EuGH-Urteil, das überhaupt das Subsidiaritätsprinzip
erwähnte, war der berühmte Bosman-Fall,
der im Dezember 1995 das Transfersystem im europäischen Fußball
durcheinanderwirbelte. Damals hatte die deutsche Regierung
argumentiert, dass jede Einmischung der Europäischen Gemeinschaft in
einen nicht-wirtschaftlichen Bereich wie den Sport aus Gründen der
Subsidiarität auf das Nötigste begrenzt bleiben müsse. Der
Gerichtshof entledigte sich dieses Arguments
recht einfach, indem er im Wesentlichen hervorhob, dass die
Arbeitnehmer-Freizügigkeit eine ausschließliche Kompetenz der EG
sei und daher nicht dem Subsidiaritätsprinzip unterworfen sein
könne.
In
einem anderen prominenten Urteil ein Jahr später, der im November
1996 ergangenen Entscheidung
über die Klage des Vereinigten Königreichs gegen die
Arbeitszeitrichtlinie,
schlug der Gerichtshof einen wirklich seltsamen Weg ein. Es
verknüpfte darin die Frage nach der Subsidiarität mit der Frage, ob
es ein identifizierbares Problem gebe, das einer Lösung bedürfe.
Das aber ist ein klarer Irrweg; denn selbst wenn in einem Fall
bewiesen ist, dass es ein Bedürfnis nach einem Tätigwerden der
Gemeinschaft gibt, verlangt das Subsidiaritätsprinzip noch einen
zweiten Schritt: Es muss gezeigt werden, dass dieses Tätigwerden der
Gemeinschaft auch effektiver ist als das Handeln der einzelnen
Mitgliedstaaten.
Hätte
das Gericht damals diese Untersuchung durchgeführt, dann hätte es
festgestellt, dass die Erwägungsgründe der Richtlinie zwar viel darüber sagen, dass irgendeine staatliche Instanz
irgendetwas tun müsse – aber nicht das Geringste darüber, warum
das die EU und nicht die Mitgliedstaaten sein sollten. Sie enthalten
nicht einmal den Standardsatz, dass die Harmonisierung von allem
möglichen nötig ist, um die Handelshemmnisse im europäischen
Binnenmarkt zu reduzieren.
Das
Problem
Und
wie hätte der Unionsgesetzgeber die Richtlinie rechtfertigen können?
Es hätte zeigen müssen, dass sich die Mitgliedstaaten gezwungen
sahen, in einem wechselseitigen Unterbietungswettlauf ihre
Arbeitszeitvorschriften zu lockern. Dass ein solcher
Race-to-the-bottom-Effekt
existiert, ist plausibel, aber nicht offensichtlich. Leider ist
derzeit jedoch niemand verpflichtet, ihn nachzuweisen: Die Kommission
und der EU-Gesetzgeber müssen nichts weiter tun, als seine Existenz
zu behaupten. Es gibt (derzeit) kein Erfordernis, die Einhaltung des
Subsidiaritätsprinzips in den Erwägungsgründen eines Rechtsakts
darzulegen. Stattdessen schreibt die Europäische Kommission einen
Absatz dazu in ihren Gesetzesvorschlag (siehe hier für einige der schönsten Beispiele); und wenn es später eine Klage
gibt, kann der Unionsgesetzgeber vor dem EuGH argumentieren, wie er
möchte.
Dies
kontrastiert besonders mit der Art, wie der Gerichtshof die Regel
durchsetzt, dass jeder Rechtsakt auf einer ausdrücklichen
Handlungsbefugnis in den EU-Verträgen beruhen muss. Dieses
sogenannte „Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“ und die
Begründungspflicht nach Art.
296 AEUV wurden vom EuGH so interpretiert, dass jeder Rechtsakt einen Verweis
auf seine vertragliche Grundlage beinhalten muss. Wenn, wie im Fall
des Tabak-Werbeverbots,
diese Vertragsgrundlage vor Gericht in Zweifel gezogen wird, muss der
Gesetzgeber seine Entscheidung verteidigen, indem er „objektive,
gerichtlich nachprüfbare Umstände“ anführt. Im
Tabakwerbungs-Fall etwa wurde der EU-Gesetzgeber heftig dafür
gerüffelt, dass er eine gesundheitspolitische Maßnahme als
Binnenmarktgesetzgebung durchzubringen versuchte.
In
einer idealen Welt würden sowohl das Prinzip der begrenzten
Einzelermächtigung als auch das Subsidiaritätsprinzip den EuGH dazu
zwingen, die Integrationsbegeisterung der übrigen Institutionen zu
bremsen. Die beiden Prinzipien sind im Vertrag sogar gemeinsam
aufgelistet, Seite an Seite in Artikel
5 EUV. Der Unterschied, den wir in der realen Welt beobachten, legt nahe,
dass das Problem nicht in einer Voreingenommenheit des Gerichtshofs
liegt. Vielmehr scheint es, als ob der Unterschied zwischen den
beiden Prinzipien darin liegt, dass ein Subsidiaritätstest eine
rechtliche Überprüfung von Tatsachenbehauptungen
des Gesetzgebers umfasst, während der Test der Rechtsgrundlage nur
verlangt, dass der Gerichtshof irgendwie errät, was die Absicht des Gesetzgebers war.
Der Vorschlag
Die
Frage ist also, wie man die Verträge so ändern kann, dass man den
Gerichtshof zwingt, die Tatsachenbehauptungen des Unionsgesetzgebers
zu überprüfen. Solche Tatsachenprüfungen sind schon jetzt ein
wesentlicher Bestandteil der täglichen Arbeit des EuGH; er führt
sie in jedem anderen Kontext außer diesem durch. Es gibt nichts in
den derzeitigen Verträgen, was den Gerichtshof daran hindern würde,
auch bei der Subsidiarität die tatsächliche Grundlage der Argumente
des Unionsgesetzgebers zu überprüfen.
Ich
vermute deshalb, die einzige Option wäre, hinter Art.
263 AEUV einen neuen Artikel einzufügen, der lauten müsste:
Bei der Überwachung der Rechtmäßigkeit der in Art. 263 Abs. 1 genannten Rechtsakte überprüft der Gerichtshof der Europäischen Union auch ihre Übereinstimmung mit dem Subsidiaritätsprinzip, wie es in Art. 5 Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union und in Protokoll 2 festgelegt ist. Diese Überprüfung beinhaltet auch eine Untersuchung der Nachweise, auf die sich die jeweiligen Organe der Union stützten, als sie die Übereinstimmung des Rechtsakts mit dem Subsidiaritätsprinzips feststellten. Wo die Nachweise nicht genügen, um eine Übereinstimmung mit dem Subsidiaritätsprinzips zu begründen, erklärt der Gerichtshof den Rechtsakt für nichtig.
Martin
Holterman hat einen europarechtlichen und
wirtschaftswissenschaftlichen Hintergrund und ist als Ökonom
für die britische Regierung tätig. Zuvor hat als Wissenschaftler zur
Regulierung des Eisenbahnsektors gearbeitet und 2011 an der
Universtität Twente promoviert. Er bloggt über europäische Themen auf martinned.ideasoneurope.eu und über alles andere auf martinned.blogspot.com. Alle Positionen in diesem Artikel geben
ausschließlich die Meinung des Verfassers wieder und nicht den
Standpunkt der Regierung des Vereinigten Königreichs, des britischen
Government Economic Service oder irgendeiner anderen Institution.
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Wenn du eines an den EU-Verträgen ändern könntest, was wäre es? – Übersicht
1: Wenn du eines an den EU-Verträgen ändern könntest, was wäre es?
2: Für eine wirklich demokratische Kommission ● Eurocentric
3: Gegen die schleichende Kompetenzübertragung: Ein Subsidiaritätstest vor dem Europäischen Gerichtshof ● Martin Holterman
4: Politische Union: Der Schmetterlingseffekt eines einzelnen Wortes ● Horațiu Ferchiu
5: Menschen, nicht Mitgliedstaaten: Eine Vertragsreform für ein neues Zeitalter politischer Organisation ● Protesilaos Stavrou
6: Eine Klausel für sozialen Fortschritt ● Eric Bonse
1: Wenn du eines an den EU-Verträgen ändern könntest, was wäre es?
2: Für eine wirklich demokratische Kommission ● Eurocentric
3: Gegen die schleichende Kompetenzübertragung: Ein Subsidiaritätstest vor dem Europäischen Gerichtshof ● Martin Holterman
4: Politische Union: Der Schmetterlingseffekt eines einzelnen Wortes ● Horațiu Ferchiu
5: Menschen, nicht Mitgliedstaaten: Eine Vertragsreform für ein neues Zeitalter politischer Organisation ● Protesilaos Stavrou
6: Eine Klausel für sozialen Fortschritt ● Eric Bonse
Bilder: By Cédric Puisney [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; privates Foto [alle Rechte vorbehalten].
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