Das
Urteil, in dem das deutsche Bundesverfassungsgericht vor einer Woche
den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) für
grundgesetzkonform erklärte (Wortlaut),
stieß in der Öffentlichkeit auf keine große Aufmerksamkeit. Noch
Anfang Februar hatte die Karlsruher Entscheidung, die Streitfrage um
der Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank dem
Europäischen Gerichtshof vorzulegen, in den Medien hohe Wellen
geschlagen. Das ESM-Urteil hingegen entsprach im Wesentlichen den
Erwartungen der Prozessbeobachter und wurde zum Beispiel im
Verfassungsblog
nur mit einem Achselzucken quittiert. Spiegel
online resümierte das
Urteil als ein „Ja ohne Aber“ zur Euro-Rettungspolitik, bei dem
die Euro-Gegner eine „klare Niederlage“ erlitten hätten. Etwas
zurückhaltender gab sich das JuWiss-Blog.
Im Ganzen aber scheint es, als
hätten die Karlsruher Richter zum ersten Mal seit langem eine
Entscheidung gefällt, mit der auch die Freunde einer vertieften
europäischen Integration rundum zufrieden sein können.
Taucht
man jedoch etwas tiefer in die Details ein, so stellt man fest:
Dieser Schein trügt. Denn das Bundesverfassungsgericht hat sich dem
ESM zwar nicht in den Weg gestellt. Doch in einer wenig beachteten
Passage des Urteils (Rn. 190-193) stellt es eine Randbedingung
dafür auf, die aus europäischer Perspektive erschrecken muss. Die
Richter akzeptieren den ESM nämlich nur deshalb, weil Deutschland
darin allein über eine Sperrminorität verfügt – also ein
Vetorecht, das die allermeisten anderen Mitgliedstaaten nicht haben.
Würde die Bundesrepublik auf dieses Vetorecht verzichten und sich
denselben Regeln unterwerfen, die für den großen Rest der
Euro-Länder schon heute gelten, dann wäre es nach Auffassung des
Bundesverfassungsgerichts kein souveräner demokratischer Staat mehr.
Vorgeschichte: Das
Lissabon-Urteil
Um
die Hintergründe dieser Entscheidung zu verstehen, muss man sich
einige Grundsätze bewusst machen, die das Bundesverfassungsgericht
2009 in seinem Urteil
zum Vertrag von Lissabon aufgestellt hat. Die Karlsruher Richter
entschieden damals, dass das aus dem in Art.
20 GG festgeschriebenen Demokratieprinzip auch eine Pflicht zur Wahrung nationaler Souveränität folge: Da das
deutsche Grundgesetz die Wahl zum Deutschen Bundestag als zentralen
demokratischen Legitimationsakt vorsehe,
müsse der Bundestag auch weiterhin für die wesentlichen
Entscheidungen in der deutschen Politik zuständig sein. Der
Europäischen Union bestimmte Hoheitsrechte zu übertragen, sei zwar
in Ordnung. Dies dürfe aber nicht dazu führen „dass in den
Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung
der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse
mehr bleibt“ (Rn. 249).
Was
genau man sich darunter vorzustellen hatte, machte das
Verfassungsgericht anschließend klar, indem es bestimmte
Politikfelder für „integrationsfest“ erklärte (Rn. 251ff.).
Egal wohin künftige Vertragsreformen die Europäische Union treiben
würden, die Hoheit über diese Felder musste beim Deutschen
Bundestag bleiben. Einer dieser Bereiche sind auch die „fiskalischen
Grundentscheidungen über Einnahmen und […] Ausgaben der
öffentlichen Hand“:
Eine das Demokratieprinzip und das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag in seinem substantiellen Bestimmungsgehalt verletzende Übertragung des Budgetrechts des Bundestages läge vor, wenn die Festlegung über Art und Höhe der den Bürger treffenden Abgaben in wesentlichem Umfang supranationalisiert würde. Der Deutsche Bundestag muss dem Volk gegenüber verantwortlich über die Summe der Belastungen der Bürger entscheiden. Entsprechendes gilt für wesentliche Ausgaben des Staates. […] Entscheidend ist […], dass die Gesamtverantwortung mit ausreichenden politischen Freiräumen für Einnahmen und Ausgaben noch im Deutschen Bundestag getroffen werden kann.
Sollte
Deutschland wesentliche Entscheidungen über seine Haushaltspolitik nicht mehr
selbst treffen können, wäre es nicht mehr souverän und damit –
so die Lesart des Bundesverfassungsgerichts im Lissabon-Urteil –
auch nicht mehr demokratisch. Auch eine Übertragung der
entsprechenden Kompetenzen an ein demokratisch gewähltes
supranationales Organ würde dem nicht abhelfen. Denn im Grundgesetz,
dem einzig relevanten Maßstab für die Karlsruher Richter, ist nun
einmal nur vom Deutschen Bundestag die Rede, nicht vom Europäischen
Parlament.
Die Eurokrise
Diese
Passagen aus dem Lissabon-Urteil stießen schon 2009 auf teils
scharfe
Kritik. Dennoch dominierte die Erleichterung: Trotz allem hatte
das Verfassungsgericht den Vertrag ja durchgewinkt, und eine
Übertragung wichtiger Haushaltsrechte auf die europäische Ebene
stand ohnehin nicht auf der politischen Agenda. Auf absehbare Zeit,
so lauteten damals viele Medienkommentare, könne nun erst einmal
Schluss mit weiteren Integrationsschritten sein.
Dann
aber kam die Eurokrise, und mit einem Schlag wurde den Euro-Mitgliedstaaten
deutlich, dass das bisherige institutionelle Gefüge nicht genügte,
um das Überleben der Währungsunion zu sichern. Im April 2010
beschlossen sie Hilfskredite für Griechenland, um dort einen
Staatsbankrott zu vermeiden. Wenige Wochen später kam es zur
Gründung der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF),
eines provisorischen Rettungsschirms für Länder, die sich nicht
mehr aus eigener Kraft finanzieren konnten. Noch einmal zwei Jahre
später wurde dieser Rettungsschirm dann durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) auf Dauer gestellt.
Das deutsche Vetorecht
im ESM
Über
die Funktionsweise des ESM wurde seitdem viel geschrieben, sodass es
genügt, hier die wichtigsten Merkmale zusammenzufassen. Es handelt
sich um einen 700 Milliarden Euro schweren Fonds, in den die
Euro-Länder nach einem bestimmten Schlüssel einzahlen, der sich
teils aus ihrer Einwohnerzahl, teils aus ihrer Wirtschaftskraft
zusammensetzt. Deutschland als das einwohner- und wirtschaftsstärkste
Land hält dabei gut ein Viertel der Anteile, gefolgt von Frankreich
(20%), Italien (18%) und Spanien (12%). Aufgabe des Fonds ist es,
Mitgliedstaaten, die ansonsten zahlungsunfähig wären, durch
Hilfskredite zu unterstützen. Die Bedingungen, unter denen dies
geschieht, legt der ESM-Gouverneursrat fest, der sich aus den
Finanzministern der Euro-Länder (bzw. aus deren Vertretern)
zusammensetzt. Dabei entscheidet der Gouverneursrat in der Regel
einstimmig, sodass jede Regierung gegen jede Entscheidung ein
Vetorecht besitzt.
Allerdings
gilt dieses Vetorecht nicht unter allen Umständen: Wenn die
Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank „beide zu
dem Schluss gelangen, dass die Unterlassung der dringlichen Annahme
eines Beschlusses zur Gewährung oder Durchführung von Finanzhilfe
in aller Eile […] die wirtschaftliche und finanzielle Stabilität
des Euro-Währungsgebiets
bedrohen würde“, kann nach Art. 4 Abs. 4 ESM-Vertrag ein
„Dringlichkeitsabstimmungsverfahren“
angewandt werden. Für
eine Entscheidung ist dann nicht mehr Einstimmigkeit erforderlich,
sondern nur eine Mehrheit von 85 Prozent der Stimmen. Damit soll
verhindert werden, dass einzelne Regierungen im Krisenfall die
übrigen mit einer Blockadedrohung erpressen können.
Allerdings werden die
Stimmen im Gouverneursrat nach den Kapitalanteilen der Länder
gewichtet. Jedes der drei Länder, die mehr als 15 Prozent der
Anteile halten, hat deshalb für sich allein eine Sperrminorität –
und kann auch in dringlichen Fällen jeden Beschluss im Alleingang zu
Fall bringen. Und nur dieser Umstand ist es, der den ESM in
Karlsruhe gerettet hat.
Das ESM-Urteil
Denn
wie die ESM-Gegner vor dem Bundesverfassungsgericht argumentierten,
muss für den deutschen Anteil am Stabilitätsmechanismus –
insgesamt über 190 Milliarden Euro, fast ein Drittel des gesamten
jährlichen Steueraufkommens in Deutschland – notfalls der deutsche
Steuerzahler geradestehen. Die Entscheidung über die Verwendung
dieser Mittel fällt jedoch nicht im Deutschen Bundestag, sondern im
Gouverneursrat. Ist damit also die „haushaltspolitische
Gesamtverantwortung des Bundestages“ verletzt?
Das Verfassungsgericht
verneinte diese Frage. Denn §4 des deutschen
ESM-Finanzierungsgesetzes
schreibt vor, dass der Vertreter der Bundesregierung im
Gouverneursrat jeden Hilfsbeschluss ablehnen muss, solange der
Bundestag nicht sein Einverständnis dazu gegeben hat. Wenn der
Deutsche Bundestag nicht zustimmt, ist der ESM also handlungsunfähig
– und damit ist der „Legitimationszusammenhang zwischen dem
Europäischen Stabilitätsmechanismus und dem Parlament“, der dem
Verfassungsgericht zufolge „unter keinen Umständen unterbrochen“
werden darf (ESM-Urteil, Rn. 190), gesichert.
Doch dieses
Argument funktioniert eben nur, solange die Bundesregierung im Gouverneursrat ihr
Vetorecht behält. Was aber, wenn – etwa durch den Beitritt
weiterer Staaten – der deutsche Anteil am ESM-Kapital unter 15%
sinken würde, sodass Deutschland nicht mehr alleine eine
Sperrminorität hätte? Auch mit dieser Frage beschäftigten sich die
Karlsruher Richter. Ihre Antwort: Neue Länder können dem ESM nur
beitreten, wenn der Gouverneursrat das einstimmig bewilligt.
In diesem Zusammenhang können die derzeitigen Mehrheitserfordernisse so angepasst werden, dass die gegenwärtig gegebene und verfassungsrechtlich geforderte Vetoposition Deutschlands auch unter veränderten Umständen erhalten bleibt. […] Die Bundesregierung hat demnach die Möglichkeit und gegebenenfalls die Pflicht, zur Wahrung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Bundestages ihre Zustimmung zur Genehmigung eines Beitrittsantrags von einer Änderung [der Sperrminorität im ESM-Gouverneursrat] abhängig zu machen.
Mit Karlsruher Maßstäben ist Spanien kein souveräner Staat mehr
Zusammengefasst
bedeutet das: Im Gouverneursrat des ESM haben derzeit die drei
größten Länder, darunter Deutschland, ein Vetorecht, das allen
anderen Staaten nicht zusteht. Ohne dieses Vetorecht würde der
Vertrag aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts die Budgethoheit des
Deutschen Bundestags aushebeln und wäre deshalb nicht mit dem
Demokratieprinzip im Grundgesetz zu vereinbaren. Und sollte sich das
relative Gewicht Deutschlands in der Eurozone in Zukunft einmal
verringern, dann müsste die Bundesregierung ihre Machtposition
nutzen, um die ESM-Abstimmungsverfahren so zu ihren Gunsten zu
verändern, dass sie auch weiterhin ein Vetorecht behält.
Man
fragt sich, wie sich wohl spanische, belgische oder österreichische
Verfassungsrichter fühlen werden, wenn sie dieses Urteil zu lesen
bekommen. Würden sie dieselben Maßstäbe anlegen wie ihre deutschen
Kollegen, so hätten sie den ESM allesamt als verfassungswidrig
ablehnen müssen – schließlich haben ihre Parlamente
schon heute kein Vetorecht über ESM-Dringlichkeitsentscheidungen und sind deshalb nach Karlsruher Kriterien auch nicht mehr souverän und demokratisch.
Vom föderalen zum
imperialen Integrationsmodell?
Den Bundesverfassungsrichtern wird das egal sein; sie interessiert nur das
Grundgesetz, nicht die Verfassungen irgendwelcher anderen
Mitgliedstaaten. Doch was bei dieser Rechtsprechung zugrunde geht, ist die demokratische Gleichheit unter den
Bürgern der Europäischen Union. Karlsruhe verlangt für sein nationales Parlament Rechte, auf die die nationalen Parlamente fast
aller anderen Staaten verzichtet haben. Statt gemeinsame europäische
Angelegenheiten in gemeinsam gewählten Organen zu beschließen,
kommt es deshalb zu einer Machtverschiebung von den Parlamenten der
kleineren Länder zum Deutschen Bundestag. Und damit nähern wir uns
gefährlich der Linie, an der das bisherige föderale
Integrationsmodell sich in ein imperiales zu wenden droht.
Man
darf wohl annehmen, dass das Bundesverfassungsgericht solche
imperialen Ambitionen nicht bewusst verfolgt – doch aus der Art,
wie es das Grundgesetz interpretiert, ergeben sie sich fast
unvermeidlich. Sein Versuch, den Bundestag als souveränes nationales
Parlament zu bewahren, wird damit zur größten Hypothek für die
gesamteuropäische Demokratie. Und darum sollten sich auch die
Freunde der europäischen Integration mit dem ESM-Urteil nicht
zufrieden geben. Mehr denn je wirft es die Frage auf, ob es nicht
Zeit wird für ein
neues deutsches Grundgesetz.
Bild: Kevin Lim, [CC BY-NC-SA 2.0], via Flickr.
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