Die Idee einer EU-Vertragsreform ist in der Welt – es wird Zeit, über unsere Prioritäten zu sprechen. In einer losen Serie von Gastartikeln antworten Europa-Blogger hier auf die Frage: „Wenn du eines an den EU-Verträgen ändern könntest, was wäre es?“ Heute: Horațiu Ferchiu. (Zum Anfang der Serie.)
- Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Artikel 3 des EU-Vertrags einen Sturm in der Europäischen Union auslösen?
Einen
einzelnen Artikel in einem der EU-Verträge zu ändern dürfte in
etwa denselben Effekt haben wie der Flügelschlag eines
Schmetterlings in der Chaostheorie. Der Verlauf des europäischen
Projekts, mit all seinen überraschenden Biegungen und Wendungen, war
für die meisten Menschen ein sehr unwahrscheinliches Ergebnis. Aber
natürlich gab es auch jene, die immer an den Traum geglaubt hatten.
Und ihre Anstrengungen sind es, die uns dorthin gebracht haben, wo
wir heute stehen.
Ich
habe über die Idee, eine einzelne Bestimmung der Verträge zu
ändern, lange nachgedacht. Es ist sehr schwierig, sich auf eine zu
begrenzen, da es viele Dinge gibt, die ich gerne ändern würde. Aber
nachdem ich noch einmal die Verträge durchgegangen bin, wurde mir
klar, dass ich auf den Schmetterlingseffekt setzen sollte – auf
jene eine kleine Modifizierung, die einen so großen Wandel auslöst,
dass sie uns, sagen wir in zehn bis fünfzehn Jahren, zu einer echten
Veränderung führen kann.
Was
ich gerne ändern würde
Mein
Blick blieb daher an Artikel
3, Absatz 4 der konsolidierten Version des Vertrags über die
Europäische Union hängen: „Die
Union errichtet eine Wirtschafts- und Währungsunion, deren Währung
der Euro ist.“ Dies ist der Artikel, den ich am meisten für
reformwürdig halte, denn eine Änderung hier könnte kleine
Revolutionen in allen
anderen Artikeln des Vertrags auslösen und zuletzt unser Leben
verändern.
Die
Änderung, an die ich denke, ist, den Artikel folgendermaßen neu zu
fassen: „Die Union errichtet eine Wirtschafts-, Währungs- und Politische Union, deren Währung der Euro ist.“ Ich habe darüber
nachgedacht, auch noch Sozialunion hinzuzufügen, aber in vieler
Hinsicht ist dieses Konzept ohnehin bereits in jenem der politischen
Union enthalten.
Und
warum ändert die Ergänzung von „politische Union“ etwas?
Zunächst
einmal würde diese Änderung verlangen, dass wir eine Entscheidung
über die Zukunft der Union treffen, bedeutet „politische Union“
doch nichts anderes als das Ende des Nationalstaats. Es impliziert
die Anerkennung einer spezifischen EU-Staatsangehörigkeit, einem
komplexeren Konstrukt als jenem, auf dem die heutige
„Unionsbürgerschaft“ basiert. Der Nationalstaat, wie wir ihn
heute kennen, müsste einen Prozess durchlaufen, in dem er sowohl
nach oben als auch nach unten Autorität abgibt – einige der
Hoheitsrechte, die heute bei den nationalen Behörden liegen, sollten
nach oben an die neue Institution übertragen werden; andere nach
unten an die Regionen (NUTS 1 oder 2, je nach den Besonderheiten des Einzelstaats).
Die
Macht der einzelnen Mitgliedstaaten sollte sich in beide Richtungen
auflösen und, unter Aufrechterhaltung einer klaren Unterteilung
zwischen exekutiver, legislativer und judikativer Gewalt, auf die
verschiedenen Entscheidungsebenen verteilt werden. Man könnte
Parallelen zum föderalen System der USA ziehen, wenngleich
bedeutende Abwandlungen davon nötig sind, wenn es auf die Realität
der EU passen soll.
Regionale
Parlamente und das Europäische Parlament
Zweitens
würde die „politische Union“ auf dem ganzen Kontinent eine
endgültige Unterscheidung zwischen einer Politik der oberen Ebene
und einer Politik der regionalen Ebene bringen. Sie würde bedeuten,
dass die europäischen Parteien nicht mehr aus vielen nationalen
Einzelparteien bestehen, und die Tür für echte gesamteuropäische
Parteien öffnen, mit einer eigenen gesamteuropäischen
Mitgliedschaft und lokalen Vertretern. Die bestehenden nationalen
Parteien würden sich ebenfalls an diese neue Realität anpassen und
ihren Zuschnitt und politischen Mittel daran ausrichten müssen.
Ein
System von Regionen mit ihren jeweils eigenen Parlamenten würde eine
bessere Repräsentation auf dieser untersten Ebene der Gesetzgebung
ermöglichen, mit Politikern, die näher am Geschehen und an den
Bürgern sind. Darüber hinaus könnte auch eine zweite Kammer des
Europäischen Parlaments, die in regionalen Wahlkreisen gewählt
würde, zur Verbesserung der Demokratie beitragen, da sie den Bürgern
erlauben würde, auch über ihren regionalen Vertreter auf
europäischer Ebene abzustimmen. Die Wahlen zum Europäischen
Parlament könnten dann in noch kleinere Wahlkreisen als der Region
erfolgen und sich auf tatsächlich europäische Themen konzentrieren.
Letztlich würde dies zu einer dreifachen demokratisch gewählten
Vertretung führen: ein lokales Regionalparlament, das Europäische
Parlament und die auf regionaler Ebene gewählte zweite europäische
Kammer
Eine
bessere Debatte und eine gewählte politische Führung
Eine politische
Union würde notwendigerweise viele der Debatten ändern, die derzeit
auf der EU-Agenda stehen. Fragen der sozialen Sicherheit, des
Umweltschutzes, der Binnenmigration – sie alle könnten auf der
höheren Ebene verhandelt werden und ein Ausgangsniveau setzen, das
von allen zu respektieren wäre. Lokale Parlamente könnten dann
diese Regulierungen ergänzen, einige von ihnen durch
Volksabstimmungen blockieren oder sich gar zusammentun, um ein Veto
dagegen einzulegen. Denn wenn beispielsweise ein Gesetzgebungsakt auf
gesamteuropäischer Ebene verabschiedet würde und zwei Drittel aller
Regionen ihn in lokalen Abstimmungen ablehnen, dann könnte und
sollte der entsprechende Rechtsakt verworfen werden.
Vor allem aber würde
eine politische Union ein sehr viel weitergehendes Gefühl der
Einheit schaffen, als wir es heute sehen. Die Teilnahme an einer
höchstrangigen Wahl auf gesamteuropäischer Ebene würde den Bürgern
erlauben, mit EU-Themen in Kontakt zu kommen, sie sich anzueignen und
sie zu unterstützen. Wenn Parteien, die Vertreter ins Europäische
Parlament schicken wollen, in mindestens zwei Dritteln aller Regionen
mit Mitgliedern und Kandidaten vertreten sein müssten, würde dies
sicherstellen, dass Themen breit diskutiert und der größtmöglichen
Bevölkerungsgruppe vorgestellt werden. Dies wiederum würde
bedeuten, dass die gewählten Mitglieder des Europäischen Parlaments
in engerem Kontakt mit ihrer Wählerschaft stünden und besser mit
ihnen kommunizieren. Hiervon würde jeder profitieren.
Implementierung:
Die Exekutive
Neben
der Gesetzgebung haben wir die Exekutivgewalt. Während das heutige
Brüssel in Sachen Repräsentation mehr und mehr umstritten ist,
würde eine Entwicklung zur Politischen Union dazu führen, dass sich
die Bürger besser vertreten fühlen würden. Zugleich würde sie
ermöglichen, dass die Menschen sich besser in die Spitzenpolitik
eingebunden fühlen. Ob wir dabei über einen EU-Präsidenten
sprechen oder über ein Gremium direkt gewählter Vertreter, die sich
eine rotierende Präsidentschaft teilen, ist weniger wichtig. Was wir
brauchen, ist keine Auseinandersetzung über technische Merkmale
unterschiedlicher Integrationsmodelle (Föderation oder
Konföderation), sondern die Möglichkeit zu einer demokratischeren
Wahl unserer Spitzenpolitiker.
Ich
habe das derzeitige System, den Europäischen Rat und die Kommission
selbst, immer als bemerkenswert undemokratisch angesehen. Sieht man
etwa auf den Europäischen Rat, so sind seine Mitglieder demokratisch
gewählte Staats- und Regierungschefs (Premierminister oder
Präsidenten); doch dies wird weniger eindeutig, wenn man betrachtet,
wie sie eigentlich gewählt wurden – theoretisch durch den Willen
der Bevölkerungsmehrheit, aber meistens handelt es sich eigentlich
nur um die Person oder einen Vertreter der Partei, die die meisten
Stimmen von jenen erhielt, die auch wirklich an der Wahl teilnahmen.
Wenn wir nun also annehmen, dass zu einer Wahl 40% der
Wahlberechtigten erscheinen und 60% von diesen einen bestimmten
Politiker wählen, so ist dieser tatsächlich nur von 24% der
stimmberechtigten Bevölkerung gewählt. Und dann stecken sie alle
zusammen hinter verschlossenen Türen, um über unsere Zukunft zu
entscheiden.
Könnten die
Menschen ihre Stimme in einer direkteren Form ausdrücken, und
könnten sie davon ausgehen, dass ihre Entscheidung tatsächlich
einen Unterschied macht, so würden sie auch eher an der Wahl
teilnehmen. Dies hängt auch mit den verhandelten Themen zusammen –
wichtige Themen könnten eine wichtigere Rolle im Wahlprozess
spielen.
Die Exekutive würde
dann wiederum auf zwei Ebenen differenziert werden – eine regionale
und eine europaweite. Dies bedeutet, dass Menschen einmal wählen
gehen würden, um über ihre unmittelbaren Bedürfnisse abzustimmen –
lokale Steuern, Bildung, allgemein regionale Themen, die sie aus
ihrer Erfahrung kennen –, und einmal auf der höheren Ebene – wo
sie sich als Teil einer größeren Debatte fühlen würden, die ihre
und ihrer Kinder Zukunft betrifft. Wiederum gäbe es viele
Möglichkeiten für die Art, wie die Exekutive auf regionaler und
europäischer Ebene ausgestaltet sein sollte. Worauf es ankommt, ist,
dass Menschen tatsächlich mit ihrer Stimme eine Auswahl und eine
Entscheidung treffen könnten.
Gesetze
und Rechtsprechung
In
Bezug auf die Judikative wären die Dinge noch einfacher: Der
Europäische Gerichtshof existiert bereits, arbeitet erfolgreich und
müsste nur kleineren Änderungen unterzogen werden. Grundlage sollte
ein gemeinsamer Rechtskodex sein, den die regionalen
Gesetzgebungsorgane um spezifische eigene Rechtsakte für ihr
Territorium ergänzen könnten, solange diese nicht in Konflikt mit
der gesamteuropäischen Gesetzgebung kämen. Diese würde auch ein
gemeinsames Bürgerliches Gesetzbuch und ein gemeinsames Strafrecht
umfassen, sodass die Bürger in der ganzen Union dieselben Rechte und
Zugang zu derselben Art von Gerichtsverfahren hätten.
Einen
gemeinsamen Rechtskodex zu entwickeln bedeutet im Wesentlichen, sich
auf bestimmte Prinzipien zu einigen und dann den angemessenen Weg zu
finden, um diese Prinzipien umzusetzen. Dies wird in Mitgliedstaaten
wie Großbritannien, mit ihrem anderen Rechtssystem, schwieriger
fallen. Aber da ein Vergehen ein Vergehen ist, unabhängig davon, wo
es geschieht, sollte auch das Justizwesen in der ganzen Union
einheitlich sein.
Das
Schlagen der Schmetterlingsflügel
Alles ist möglich,
wenn einmal die Entscheidung getroffen wurde, eine politische Union
ins Leben zu rufen. Vor allem da es das Niveau demokratischer
Repräsentation auf dem ganzen Kontinent verbessern und eine Art
„Union der Gedanken“ schaffen würde, wenn es echte europaweite
Parteien mit europaweiten Themen und Projekten gäbe. Bis jetzt
machen es die Unterschiede zwischen den Parteien verschiedener Länder
– selbst wenn sie zur selben europäischen Familie gehören –
unmöglich, dass ein Wähler in Spanien die gleiche Meinung ausdrückt
wie einer in Rumänien, oder ein Deutscher die gleiche wie ein
Grieche und so weiter.
Eine
EU-weite Partei hingegen müsste in Spanien, in Polen, in
Griechenland jeweils dieselbe Agenda vertreten. Implizit würde
dadurch auch der Nationalpopulismus, wie wir ihn heute kennen,
weitgehend aus der EU-Politik verschwinden. Vermutlich würde es auf
regionaler Ebene weiterexistieren, aber dort müsste es sich mit
einer näheren und kleineren Wählerschaft auseinandersetzen – und
mit einer höheren Ebene, die einen gewissen Grad an Kontrolle
ausüben könnte.
Dies
führt zu einer neuen Realität, in der die großen EU-Themen nicht
mehr von der lokalen Politik bestimmt werden, sondern die Bürger die
Möglichkeit haben, die Dinge direkt anzugehen.
Eine
politische Union würde zu einer anderen Art von Union führen. Sie
würde viele Änderungen mit sich bringen und notwendigerweise, wie
eine Naturgewalt, auch zu neuen Vertragsreformen führen. Wenn ich
also einen Artikel aussuchen müsste, so wäre es dieser hier, denn
diese eine Änderung bedeutet, das ganze Konstrukt der EU
voranzutreiben – mit dem Flügelschlag eines einzigen
Schmetterlings oder, in diesem Fall, der Ergänzung eines einzigen
Wortes.
Horațiu Ferchiu ist Stadt- und Regionalplaner und lebt in Bukarest. Er ist
Vizepräsident des Rumänischen Verbands Europäischer Föderalisten
(AFER) und schreibt auf fedeu.blogactiv.eu über die Entwicklung des europäischen Projekts, vor allem zu Fragen
der Identität, Bevölkerung, Föderalismus und einer
demokratischeren und innovativeren EU.
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Wenn du eines an den EU-Verträgen ändern könntest, was wäre es? – Übersicht
1: Wenn du eines an den EU-Verträgen ändern könntest, was wäre es?
2: Für eine wirklich demokratische Kommission ● Eurocentric
3: Gegen die schleichende Kompetenzübertragung: Ein Subsidiaritätstest vor dem Europäischen Gerichtshof ● Martin Holterman
4: Politische Union: Der Schmetterlingseffekt eines einzelnen Wortes ● Horațiu Ferchiu
5: Menschen, nicht Mitgliedstaaten: Eine Vertragsreform für ein neues Zeitalter politischer Organisation ● Protesilaos Stavrou
6: Eine Klausel für sozialen Fortschritt ● Eric Bonse
1: Wenn du eines an den EU-Verträgen ändern könntest, was wäre es?
2: Für eine wirklich demokratische Kommission ● Eurocentric
3: Gegen die schleichende Kompetenzübertragung: Ein Subsidiaritätstest vor dem Europäischen Gerichtshof ● Martin Holterman
4: Politische Union: Der Schmetterlingseffekt eines einzelnen Wortes ● Horațiu Ferchiu
5: Menschen, nicht Mitgliedstaaten: Eine Vertragsreform für ein neues Zeitalter politischer Organisation ● Protesilaos Stavrou
6: Eine Klausel für sozialen Fortschritt ● Eric Bonse
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