27 Februar 2014

Warum das Karlsruher Sperrklausel-Urteil der europäischen Demokratie schadet und wie die Politik jetzt reagieren kann

Es ist ja nicht so, als ob die Vielfalt im Europäischen Parlament vor dem jüngsten Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts allzu einfach zu überblicken gewesen wäre.
Wie viele Parteien von dem gestrigen Urteil, mit dem das Bundesverfassungsgericht die Drei-Prozent-Sperrklausel im deutschen Europawahlgesetz für nichtig erklärt hat (Wortlaut, Presseerklärung), tatsächlich profitieren werden, ist derzeit noch kaum vorauszusagen. Deutschland wird im nächsten Europäischen Parlament 96 Abgeordnete stellen, sodass (je nach Rundungszufällen) knapp 1 Prozent der Stimmen für ein Mandat genügen könnte. Nach den Ergebnissen der Europawahl 2009 hätten damit die Freien Wähler, die Republikaner, die Tierschutzpartei, die Familienpartei, die Piratenpartei, die Rentnerpartei sowie die ÖDP jeweils ein bis zwei Sitze gewonnen. Und auch die rechtsextreme NPD dürfte im kommenden Mai dank des Urteils ziemlich sicher ins Europäische Parlament einziehen – womöglich nur wenige Monate, bevor sie dann von demselben Gericht als verfassungsfeindlich verboten wird.

Das Parlament bleibt handlungsfähig

Aber damit es keine Missverständnisse gibt: Die Bedrohung, die von dem Karlsruher Urteil ausgeht, besteht nicht darin, dass im Europäischen Parlament künftig der ein oder andere deutsche Rechtsextreme sitzen wird. Und auch die anderen Kleinparteien werden, jede für sich genommen, keinen großen Unterschied machen. Vielmehr werden sie aller Wahrscheinlichkeit nach nur die jetzt schon recht gut besetzten Reihen der fraktionslosen Abgeordneten weiter füllen, sie werden die ein oder andere Rede für die Kameras halten, und wenn es an die eigentlichen Entscheidungen geht, wird man sie schlicht ignorieren. Denn wie in jedem anderen funktionierenden Parlament fallen auch in der Straßburger Europakammer die wichtigsten Beschlüsse inzwischen innerhalb und zwischen den Fraktionen. Der politische Einfluss eines einzelnen Abgeordneten aus einer nicht gesamteuropäisch organisierten Kleinpartei ist minimal.

Und auch eine andere Kritik an dem Karlsruher Urteil, die jetzt verschiedentlich zu hören ist, trifft nur bedingt zu: Die Handlungsfähigkeit des Europäischen Parlaments wird durch den Wegfall der Sperrklausel nur wenig beeinträchtigt werden. Selbst wenn sich, was nach aktuellen Umfragen realistisch erscheint, die Zahl der derzeit knapp dreißig fraktionslosen Abgeordneten nach der Europawahl ungefähr verdoppelt, und selbst wenn man dazu noch einmal etwa dreißig bis vierzig Abgeordnete der rechtspopulistischen EFD-Fraktion (oder einer anderen, noch stärker rechtsgerichteten Nachfolgegruppierung) zählt, würden sie kaum ein Siebtel des Parlaments ausmachen. Die Parteien, die an einer konstruktiven Politik interessiert sind, werden in Straßburg also weiterhin die große Mehrheit stellen. Auch der Vergleich mit der Weimarer Republik, in der ab 1930 fast die Hälfte, ab 1932 sogar die Mehrheit der Reichstagsabgeordneten systemfeindlich eingestellt war, geht daher fehl.

Demokratie ist mehr als Repräsentation und Handlungsfähigkeit

Dass ich die jüngste Entscheidung dennoch für eine Gefahr für die europäische Demokratie halte, hat einen anderen Grund. Denn wie ich im Zusammenhang mit der Europawahl-Sperrklausel bereits an anderer Stelle ausführlicher geschrieben habe, besteht der Sinn demokratischer Wahlen ja nicht nur darin, ein repräsentatives und irgendwie handlungsfähiges Parlament hervorzubringen. Vielmehr dienen das Wahlverfahren und die Gruppierung der Abgeordneten in Fraktionen auch der Reduktion von Komplexität: Aus einer millionenfachen Vielfalt von einzelnen Überzeugungen soll ein überschaubares Spektrum von politischen Akteuren herausgefiltert werden. Dies ermöglicht zum einen die Entscheidungsfindung innerhalb des Parlaments und ist zum anderen auch für die öffentliche Kontrolle von Bedeutung. Denn während kaum ein Bürger das Abstimmungsverhalten von hunderten Einzelabgeordneten mitverfolgen könnte, kann er sich über eine Handvoll Fraktionen sehr wohl eine Meinung bilden – und wird erst dadurch in die Lage versetzt, bei der Wahl eine aufgeklärte Entscheidung zu treffen.

Einer der zentralen Mechanismen, durch die Demokratien Legitimität hervorbringen, ist deshalb das Wechselspiel zwischen Regierungsmehrheit und Opposition. Unabhängig davon, wie vernünftig und „gut“ eine Regierung ihre Herrschaft ausübt, wird sie mit manchen ihrer Entscheidungen immer wieder Unzufriedenheit und Frustration in Teilen der Bevölkerung auslösen. Wenn diese Unzufriedenheit kein Ventil findet, dann richtet sie sich rasch gegen das politische System als Ganzes – was unter anderem dazu führt, dass technokratisch-autoritäre Regime ihre Macht zuletzt in der Regel nur durch Repression und Gewalt erhalten können. Die Stärke einer parlamentarischen Demokratie hingegen besteht darin, dass sie Menschen, die mit der Regierung enttäuscht sind, weitere Alternativen zur Verfügung stellt, ohne dabei die Legitimität des politischen Systems insgesamt zu gefährden. Wem nicht gefällt, wie er regiert wird, kann bei der nächsten Wahl für die Opposition stimmen und dadurch einer neuen Mehrheit an die Macht verhelfen.

Damit ein Parlament funktioniert, muss es also nicht nur repräsentativ und politisch handlungsfähig sein, sondern in irgendeiner Form auch die Möglichkeit demokratischer Alternanz bieten. Voraussetzung dafür ist jedoch nicht nur, dass es überhaupt eine Opposition gibt, sondern auch, dass diese Opposition eine plausible Alternative zu der aktuellen Regierung bietet. Radikaloppositionelle Splitterparteien und fraktionslose Einzelabgeordnete mögen sich zum Sprachrohr einzelner unzufriedener Gruppen in der Gesellschaft machen oder bestimmte Sonderanliegen in die politische Debatte einschleusen. Aber da sie kaum eine Chance haben, nach einer zukünftigen Wahl ihrerseits eine Mehrheit zu stellen, tragen sie nur begrenzt zur Legitimation des politischen Systems insgesamt bei.

Die Mehrheitsbildung im Europäischen Parlament

Und genau hier liegt in meinen Augen auch die größte Schwäche des Europäischen Parlaments. Mit derzeit sieben Fraktionen und über zwei Dutzend fraktionslosen Abgeordneten ist es seit jeher eines der buntesten Parlamente des Kontinents. Es gibt darin schon heute links- wie rechtsextreme Parteien, Progressive und Reaktionäre, europäische Föderalisten und radikale Nationalisten. Doch gerade diese Vielfalt führt dazu, dass seit der Gründung des Parlaments fast alle wesentlichen Entscheidungen auf einer Einigung zwischen den beiden stärksten Fraktionen, der christdemokratischen EVP und der sozialdemokratischen S&D, beruhen. Denn natürlich ist es immer einfacher, zu einem Kompromiss zu finden, wenn dabei nicht allzu viele verschiedene Positionen unter einen Hut gebracht werden müssen. Und wegen der starken Zersplitterung sind EVP und S&D nun einmal die einzigen Fraktionen, die zu zweit eine Mehrheit im Parlament erreichen.

Daneben gab es in der Vergangenheit immer wieder auch Abstimmungen, bei denen sich entweder ein Mitte-Rechts-Bündnis (aus der christdemokratischen, der liberalen und der nationalkonservativen Fraktion) oder ein Mitte-Links-Bündnis (aus Sozialdemokraten, Liberalen, Grünen und Linken) zu einer Mehrheit zusammenfanden. Allerdings sind diese in sich so heterogen und fragil, dass sie bislang nicht als Grundlage für eine dauerhafte Zusammenarbeit taugen – ganz davon abgesehen, dass das Mitte-Rechts-Bündnis nach der kommenden Europawahl aller Voraussicht nach im Parlament keine Mehrheit mehr aufbringen wird.

Eine permanente Große Koalition verhindert demokratische Alternanz

Faktisch führt die große Zahl kleiner und kleinster Parteien im Europäischen Parlament also keineswegs dazu, dass die Bürger bei der Wahl unter einer besonders großen Vielfalt von politischen Positionen auswählen könnten. Im Gegenteil: Gerade weil das Parlament so stark zersplittert ist, dominiert darin eine permanente Große Koalition. Und auch wenn die kommenden Europawahlen voraussichtlich einen gewissen politischen Linksruck mit sich bringen werden, ist es so gut wie ausgeschlossen, dass sich an dieser Grundkonstellation in absehbarer Zeit etwas ändern wird.

Doch eine permanente Große Koalition verhindert eben auch die demokratische Alternanz. Auf nationaler Ebene sind Parlamentswahlen immer eine Richtungsentscheidung, in der über die Fortsetzung der bisherigen Politik oder ihre Ablösung durch eine neue Mehrheit mit einem anderen Programm entschieden wird. Auf europäischer Ebene aber ist es nahezu unmöglich, eine solche neue Mehrheit zu bilden. Etwas überspitzt formuliert, kann der Wähler lediglich über die Nuancen im Kräftegleichgewicht zwischen den beiden größten Fraktionen entscheiden – und darüber, wer zu ihrer Politik von den Bänken der Minderheitenfraktionen und der fraktionslosen Abgeordneten aus das Hintergrundrauschen bilden darf.

Was nun tun?

Natürlich sollte man das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht überbewerten. Das Problem der fehlenden Alternanz im Europäischen Parlament ist nichts Neues, und es wiegt viel schwerer, als dass ein paar zusätzliche fraktionslose Abgeordnete aus Deutschland hier von entscheidendem Gewicht wären. Immerhin aber waren im Parlament in den letzten Jahren einige zaghafte Fortschritte zu beobachten – vor allem, was die interne Kohärenz der Fraktionen angeht, die natürlich eine Vorbedingung dafür ist, dass es in Zukunft auch einmal ein stabiles linkes oder rechtes Mehrfraktionenbündnis jenseits der großen Koalition geben könnte. Diese Fortschritte werden durch die weitere Zersplitterung des Parlaments infolge des Urteils konterkariert.

Und was kann man tun, wenn man sich damit nicht einfach abfinden will? Ich sehe vor allem drei Handlungslinien, die der Politik jetzt offenstehen. Die erste deuten die Richter selbst gegen Ende der Entscheidung an, wo es heißt, der Gesetzgeber könne auch in Zukunft „[s]ich etwa konkret abzeichnenden Fehlentwicklungen […] Rechnung tragen“ (Rn. 82). Mit anderen Worten: Der Bundestag könnte einfach in einigen Jahren erneut die Einführung einer Sperrklausel beschließen und hoffen, dass sich das Verfassungsgericht vielleicht dann von ihrem Sinn und ihrer Rechtmäßigkeit überzeugen lässt.

Nur noch europäisch organisierte Parteien zur Wahl zulassen

Eleganter wäre eine zweite Alternative, die ich an anderer Stelle bereits vorgeschlagen habe: Im Bundestagswahlgesetz findet sich seit jeher eine Klausel, nach der sich nur in Deutschland anerkannte Parteien mit Wahllisten bewerben dürfen (§27 Abs. 1 Satz 1 BWG). Wie wäre es, eine ähnliche Klausel auch in die deutsche Europawahlordnung zu übernehmen – in dem Sinn, dass dort nur noch Organisationen zugelassen sind, die einer Partei auf europäischer Ebene angehören?

Eine solche Regelung würde die Zersplitterung des Parlaments noch effektiver bekämpfen als eine nationale Sperrklausel: All die rein nationalen Kleinparteien, die auf europäischer Ebene keinen Anknüpfungspunkt finden und nur die Reihen der Fraktionslosen füllen, würden gar nicht erst auf dem Wahlzettel stehen. Zugleich wäre das Prinzip der Wahlgleichheit, auf dem das Bundesverfassungsgericht so herumreitet, nicht gefährdet, sodass kaum rechtliche Bedenken gegen den Vorschlag bestehen dürften. Und schließlich wäre die Regelung auch kein zwingendes Hindernis für Newcomer-Parteien. Für die AfD beispielsweise dürfte es kein Problem sein, sich auf europäischer Ebene der nationalkonservativen AECR oder dem europaskeptischen MELD anzuschließen. Die neue Bestimmung würde sie lediglich dazu verpflichten, schon vor den Wahlen zu erklären, wie sie sich im Parlament positionieren wollen.

Für ein einheitliches Europawahlrecht

Vor allem aber zeigt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in meinen Augen, wie dringend wir endlich ein europaweit einheitliches Wahlrecht brauchen. Der EU-Direktwahlakt, der zwar einen allgemeinen Rahmen setzt, aber den Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung des Europawahlrechts weitgehend freie Hand lässt, ist nicht mehr zeitgemäß. Das Europäische Parlament repräsentiert nach Art. 14 EU-Vertrag nicht einzelne Staatsvölker, sondern alle Unionsbürger: Es ist deshalb nur angebracht, wenn auch die Wahl seiner Abgeordneten künftig nach gemeinsam festgelegten, einheitlichen Standards erfolgt – einschließlich einer europaweit einheitlichen Sperrklausel.

Doch leider sind auch verhältnismäßig bescheidene Vorschläge zu einer Vereinheitlichung des Europawahlrechts in der Vergangenheit immer wieder gescheitert. Die letzte derartige Initiative war vor knapp zwei Jahren der Duff-Bericht, über den ich in diesem Blog ausführlich berichtet habe. Allerdings erreichte dieser damals keine Mehrheit im Parlament, was vor allem an der Ablehnung der christdemokratischen EVP-Fraktion lag. In der neuen Wahlperiode sollte es jetzt unbedingt einen neuen Anlauf geben. Und es stünde den europäischen Parteien gut zu Gesicht, wenn sie schon vorher, im Wahlkampf, ihre Vorschläge dazu unterbreiten. Jedenfalls wäre das ein spannenderes Diskussionsthema als die Frage, was eigentlich die deutsche Familienpartei künftig mit ihrem Sitz im Europäischen Parlament anfangen will.

Bild: By Claude TRUONG-NGOC (Own work) [CC BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons.

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