- Die Schweiz will weniger Freizügigkeit im europäischen Binnenmarkt. Aber wäre es nicht demokratischer, dazu auch die anderen Binnenmarktteilnehmer um ihre Meinung zu fragen?
Inzwischen ist es fast
zwei Wochen her, dass die Schweizer Wähler mit hauchdünner Mehrheit
in einem Referendum „gegen
Masseneinwanderung“ die Einführung eines strikten
Quotensystems für jegliche Form von Zuwanderung beschlossen haben.
Doch welche Auswirkungen diese Entscheidung haben wird, ist bis heute
kaum abzusehen. Geht alles seinen normalen Gang, so steuert die Schweiz auf ein wirtschaftliches Debakel zu: Schließlich würde das
Quotensystem gegen das Freizügigkeitsabkommen
verstoßen, das das Land mit der Europäischen Union
abgeschlossen hat. Dieses Freizügigkeitsabkommen aber ist an eine
Reihe von anderen europäisch-schweizerischen Verträgen geknüpft,
die die Integration der Schweiz in den Europäischen Binnenmarkt
regeln. Nach der sogenannten „Guillotine-Klausel“ in Art. 25
des Freizügigkeitsabkommens ist es unmöglich, einen einzelnen
dieser Bilateralen Verträge zu kündigen, ohne dass auch die anderen
ihre Gültigkeit verlieren.
Sorge
vor der Isolierung
Schon vor der
Volksabstimmung warnte die Schweizer Regierung deshalb in
einem Memorandum vor den „gravierenden Konsequenzen“, die
dieser Schritt für die Schweizer Wirtschaft haben würde: Die
Schweiz würde den Zugang zu den europäischen Arbeitsmärkten
verlieren, ihre Unternehmen könnten sich nicht mehr so einfach an
europäischen Ausschreibungen beteiligen, Schweizer Exportprodukte
wären nicht mehr automatisch in der EU zugelassen, Schweizer
Transportunternehmer könnten nicht mehr ohne Weiteres in der EU
aktiv werden, und den Schweizer Forschern könnte der Zugang zu
EU-Fördermitteln versperrt werden. Umgekehrt würde natürlich auch
für Unternehmen aus der EU der Zugang zum Schweizer Markt
schwieriger. Doch die Gewichte sind dabei recht ungleich verteilt,
denn während die Schweiz deutlich
mehr als die Hälfte ihrer Exporte an die EU liefert, sind es
umgekehrt gerade
einmal acht Prozent.
Der
Schweizer Regierung liegt deshalb viel daran, die Bilateralen
Verträge zu retten, was natürlich am einfachsten dadurch ginge,
dass die EU sich auf Nachverhandlungen einlässt – etwa indem sie
die Schweizer Einwanderungsquoten hinnimmt und dafür Zugeständnisse
im Bereich Steuerdumping und Steuerflucht erhält. In den Tagen nach
dem Referendum machte die
Europäische Kommission jedoch deutlich, dass sie bei der
Freizügigkeit, einem der Grundpfeiler des Binnenmarkts, zu keinen
Kompromissen bereit ist. Bereits kurz nach dem Referendum setzte sie
Gespräche über ein neues Abkommen zur Einbindung
der Schweiz in den europäischen Strommarkt aus; wenig später
beschloss sie, die Schweizer Teilnahme an dem
Studentenaustauschprogramm Erasmus Plus und an dem
Forschungsförderprogramm Horizont 2020 (die beide gerade wegen des
neuen mehrjährigen Finanzrahmens der EU neu ausgerichtet wurden)
vorerst
nicht zu verlängern.
In
der Schweiz steigt daher die Sorge, dass es zuletzt tatsächlich zu
einer Kündigung der Bilateralen Verträge kommen könnte und das
Land damit komplett in die europäische Isolation geriete. Und
nachdem sich in einer Umfrage zuletzt rund
drei Viertel der Befragten für den Erhalt dieser Verträge
aussprachen, fordern die
Jugendorganisationen mehrerer Schweizer Parteien sowie der
Vorsitzende
der Schweizer Sozialdemokraten nun bereits ein neues Referendum,
um das Freizügigkeitsabkommen mit der EU zu retten.
Beifall aus der EU
Doch
während in der Schweiz die Politiker mit dem Ausgang der
Volksabstimmung hadern und nach Auswegen suchen, um das Auslösen der
Guillotineklausel doch noch zu verhindern, stößt das Votum der
Schweizer Bürger in der EU keineswegs überall auf Ablehnung. Kaum
zwei Monate nach der britisch-deutschen
Debatte über „Armutsmigration“ und „Sozialtourismus“
traf das Schweizer Freizügigkeitsreferendum natürlich einen
medialen Nerv. Wenig überraschend ist, dass die rechtspopulistischen
Parteien, die sich gerade für die Europawahl warmlaufen, das
Abstimmungsergebnis bejubelten. Doch auch aus
der französischen UMP (EVP) waren zustimmende Worte zu hören –
wobei der UMP-Vorsitzende Jean-François Copé erkennbar etwas
in eine Zwickmühle geriet, da er einerseits die Einführung von
Zuwanderungsbeschränkungen rechtfertigen und zugleich andererseits
als
Fürsprecher der Franzosen auftreten wollte, die regelmäßig zum
Arbeiten über die Schweizer Grenze pendeln.
Doch auch unter jenen in
Europa, die sich nicht über das Ergebnis des Schweizer Referendums
freuten, war in den letzten Tagen immer wieder ein gewisser Respekt
für die Abstimmung zu hören. Denn ist nicht auch in Deutschland,
Frankreich oder Großbritannien die europäische Freizügigkeit in
der Bevölkerung längst ein umstrittenes Feld? Und spricht es nicht
für die Schweiz, dass dort über solche Themen unmittelbar das Volk
entscheidet? Ist nicht, kurz gesagt, das ungeliebte Referendum ein
Beweis dafür, dass die Schweiz (wie der Chefredakteur der Schweizer
Zeitschrift Die Weltwoche in einem Gastartikel
für die FAZ schrieb) „die letzte unabhängige, bürgernahe und
damit echte Demokratie Europas“ ist?
Ist die Schweizer
Demokratie die beste in Europa?
Nach der Abstimmung waren
ähnliche Argumente in deutschen Medien jedenfalls durchaus
verbreitet: Es sei „faszinierend
zu beobachten, wie Schweizer Politiker die Regeln ihrer direkten
Demokratie verinnerlicht haben“, der Volksentscheid sei „vielleicht
nicht begrüßenswert, aber zumindest in
einem demokratischen Sinne legitimer als manches, was in
Deutschland an Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen
wird“, und während die Schweizer Demokratie „von
einem steten Sauerstoffstrom bürgerlicher Partizipation“ lebe,
ähnele die der Europäischen Union „Desdemona, die zwar von
Othello geliebt, am Ende jedoch mit den Worten ‚Es ist zu spät‘
von ihm erwürgt wird“.
Wie
also steht es um die demokratische Qualität des Schweizer
Referendums? Mir selbst will die Begeisterung, die sich nun in
manchen Kommentaren lesen lässt, jedenfalls nicht so ganz
einleuchten – und das gar nicht einmal wegen den altbekannten
Einwänden gegen plebiszitäre Verfahren, die nun ebenfalls immer
wieder zu lesen sind. Was mich aus einer demokratischen Sicht an
dem Schweizer Referendum irritiert, ist etwas anderes: nämlich dass
hier eine neue Politik beschlossen wurde, ohne dass diejenigen, die
davon am meisten betroffen sind – die Zuwanderer und potenziellen
Zuwanderer – irgendeine Möglichkeit hatten, sich an der
politischen Willensfindung zu beteiligen.
Demokratieprinzip und
Subsidiarität
Ich
halte Volksentscheide im Allgemeinen für eine sinnvolle Ergänzung
der parlamentarischen Gesetzgebung. Für die einen wie die andere
aber gilt, dass sie ihre demokratische Qualität nur daraus beziehen,
dass sie eine Form der kollektiven Selbstbestimmung sind, bei der
eine (staatlich organisierte) Gruppe von Menschen über ihre eigenen
gemeinsamen Angelegenheiten entscheidet. Aus demokratischer Sicht
problematisch wird es hingegen, wenn an einer Entscheidung allzu
viele Menschen teilnehmen, die davon gar nicht betroffen sind –
oder wenn allzu viele Menschen, die von einer Entscheidung betroffen
sind, nicht daran teilnehmen dürfen.
Aus
diesen Gründen ist das Demokratieprinzip in meinen Augen nicht von
dem föderalistischen Grundsatz der Subsidiarität zu trennen. Dieser
besagt, dass Entscheidungen immer auf der niedrigsten Ebene getroffen
werden sollten, auf der das sinnvoll möglich ist: An einer
Entscheidung, die nur die Bürger einer einzelnen Region betrifft,
sollte sich nicht das ganze Land beteiligen dürfen, da sonst die
legitimen Interessen der Bürger dieser Region in einer Flut von
Stimmen ertränkt würden. Wenn sich aber Entscheidungen, die in
einer Region getroffen werden, auch auf die Bürger der anderen
Regionen auswirken würden (wenn sie also, in der Sprache der
Politikwissenschaft, „externe Effekte“ hätten), dann ist es
angebracht, die Kompetenz darüber an eine höhere Ebene zu
übertragen.
Subsidiarität und
Souveränität
Nun
ist die Schweiz, was ihren internen
Föderalismus betrifft, in vieler Hinsicht ein Musterbeispiel:
Ähnlich wie Deutschland verfügt sie über ein ausgeprägtes
Mehrebenensystem, wobei jede Ebene in sich demokratisch organisiert
ist. Die Kompetenzordnung zwischen Bund und Kantonen ist durch die
Bundesverfassung geregelt, wobei das Subsidiaritätsprinzip als
Richtschnur dient. Ob die derzeitige Aufgabenverteilung noch den
Bedürfnissen der Zeit angemessen ist, ist dabei zwar regelmäßig
Thema kontroverser Debatten; insbesondere der Steuerwettbewerb
zwischen den einzelnen Kantonen sorgt immer
mal wieder für Ärger. Im Ganzen aber funktioniert der Schweizer
Föderalismus recht gut – nach innen.
Nach
außen hingegen berufen sich die Verteidiger des Schweizer
politischen Systems oft auf ein ganz anderes Prinzip, nämlich auf
die nationale Souveränität. Diese aber steht zum
Subsidiaritätsgedanken in einem logischen Widerspruch: Denn während
unter dem Blickwinkel der Subsidiarität alles dafür spricht, dass
die Angelegenheiten, die die Bürger mehrerer Staaten betreffen, auch
durch überstaatliche Organe entschieden werden, verlangt das
Souveränitätsprinzip, dass auch in grenzüberschreitenden Fragen
das Letztentscheidungsrecht immer beim Nationalstaat verbleibt. Eine
Regierung mag zwar mit den Regierungen anderer Länder
völkerrechtliche Verträge schließen. Aber dauerhaft Kompetenzen an
eine supranationale Organisation abzugeben, wie es die
Mitgliedstaaten der EU getan haben, kommt für viele Schweizer nicht
in Frage.
Wer am Binnenmarkt
teilnimmt, muss EU-Recht respektieren
Die
Geschichte der europäisch-schweizerischen Beziehungen war deshalb in
den letzten 25 Jahren stets von einer paradoxen Halbbindung geprägt.
Einerseits wollte die Schweiz Anfang der 1990er Jahre nicht außen
vor bleiben, als die Europäische Union ihren Binnenmarkt vollendete
und (durch den Beitritt Finnlands, Schweden und Österreichs sowie
die Anbindung Norwegens, Islands und Liechtensteins im Europäischen
Wirtschaftsraum) auf ganz Westeuropa erweiterte. Andererseits
scheiterte ein Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum selbst 1992
durch ein Referendum. Den Ausweg boten schließlich die Bilateralen
Verträge, in denen die Schweiz den gewünschten Zugang zum
Binnenmarkt erhielt und sich im Gegenzug verpflichtete, die
einschlägige Gesetzgebung der EU zu übernehmen, die von
fundamentalen Grundprinzipien wie der Arbeitnehmerfreizügigkeit bis
zur Bananenverordnung reicht. Der wesentliche Unterschied
besteht
lediglich darin, dass EU-Binnenmarktverordnungen in der Schweiz nicht
automatisch gelten, sondern erst, sobald der Schweizer Gesetzgeber
sie im sogenannten „autonomen Nachvollzug“ übernommen hat –
und dass bei einem Verstoß dagegen auch keine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof erhoben werden kann.
Die
Schweiz hat sich also völkerrechtlich verpflichtet, ihre
Binnenmarktgesetze jeweils an die EU anzupassen, behält
sich jedoch zugleich die Möglichkeit vor, gegen diese Verpflichtung
durch nationale Gesetze zu verstoßen. Dass diese Konstruktion aus
demokratischer Sicht kaum befriedigen kann, liegt auf der Hand:
Schließlich geht der Binnenmarkt alle Europäer an, und nicht die
Schweizer allein. Es ist deshalb kein Zufall, dass die EU seit
mehreren Jahren auf
eine umfassende Neuregelung drängt. Mit dem Konflikt über die
Freizügigkeit eskalierte nur ein bereits seit längerem schwelender
Streit, in dem es im Wesentlichen darum geht, ob die Schweiz, die
sich am Binnenmarkt der Europäischen Union beteiligen will, auch
bereit ist, die gemeinsamen Spielregeln zu akzeptieren, die sich die
Europäische Union dafür gegeben hat.
Ich
habe in diesem Blog schon öfters über
das Rodrik-Trilemma geschrieben, demzufolge es nicht möglich
ist, enge überstaatliche Wirtschaftsverflechtungen, Demokratie und
nationale Souveränität unter einen Hut zu bekommen: Je zwei davon
lassen sich kombinieren, aber nicht alle drei. Eine rein nationale
Demokratie funktioniert nur, wenn sich ein Land auch wirtschaftlich
abschottet. Will es sich dagegen an einem überstaatlichen
Binnenmarkt beteiligen, dann muss es sich entscheiden, ob es lieber
nationale Hoheitsrechte oder demokratische Prinzipien opfern will.
Eine demokratische Lösung für die Schweiz wäre es, auf ihre
Souveränität zu verzichten, der Europäischen Union beizutreten und
im Rahmen der gesamteuropäischen Demokratie an der
Binnenmarktgesetzgebung mitzuwirken. Eine andere demokratische Lösung
ist, zweifellos, die Kündigung der Bilateralen Verträge. Aber am
gemeinsamen europäischen Binnenmarkt teilzunehmen und trotzdem alle
Entscheidungen auf nationaler Ebene treffen zu wollen: Das kann,
Volksabstimmung hin oder her, nicht demokratisch sein.
Bild: By hwro [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.
Es bleibt abzuwarten wie die Auswirkungen der Freizügigkeit bei den Nachbarn ausgefallen sind um dann das Thema erneut zu diskutieren.
AntwortenLöschen