- Am Tag der offenen Tür kann jeder mal im Europäischen Parlament Platz nehmen. Nach der Europawahl braucht er dafür (in Deutschland) mindestens drei Prozent der Stimmen.
Seit vergangenen
Donnerstag hat Deutschland ein neues Europawahlgesetz. Knapp zwei
Jahre, nachdem das Bundesverfassungsgericht die Fünf-Prozent-Hürde
bei Europawahlen für grundgesetzwidrig und daher nichtig erklärt
hatte, beschloss der Bundestag (mit den Stimmen aller Fraktionen
außer der Linken/EL), stattdessen
eine Drei-Prozent-Hürde einzuführen. Umgehend kündigten
mehrere kleine Parteien, darunter die ÖDP, die Freien Wähler, die
Piraten und die NPD, neue Verfassungsklagen an. Und so werden wir in
den nächsten Monaten in Deutschland wohl wieder einmal eine hübsche
juristische Diskussion darüber haben, unter welchen Umständen eine
Sperrklausel für Kleinparteien bei Wahlen erlaubt ist und ob diese
Umstände auf europäischer Ebene vorliegen – und es ist zu
befürchten, dass darüber andere, sinnvollere Reformen des
Europawahlrechts in den Hintergrund treten werden. Aber der Reihe
nach.
Der demokratische Sinn
von Sperrklauseln
Demokratische
Politik ist der Versuch, mit einem fundamentalen Problem der
Gesellschaftsgestaltung fertig zu werden: die millionenfache Vielfalt
von einzelnen politischen Meinungen und Überzeugungen zu konkreten
Entscheidungen zu verdichten, von denen man annehmen kann, dass eine
Mehrheit der Bevölkerung sie unterstützt. Für diese Verdichtung
(oder, um mit Niklas Luhmann zu sprechen: für diese Reduktion von
Komplexität) gibt es in der repräsentativen Demokratie verschiedene
Verfahren. Das wichtigste davon ist die Wahl des Parlaments, bei der
aus den Stimmen von Millionen Bürgern die Mandate einiger hundert
Abgeordneter werden.
Doch
auch ein paar hundert Einzelstimmen sind noch allzu viele, um einen
schnellen und transparenten Entscheidungsprozess zu ermöglichen.
Eine weitere Verdichtung erfolgt deshalb durch die Fraktionen im
Parlament, die meist geschlossen abstimmen, sowie schließlich durch
das Wechselspiel zwischen einer stabilen Regierungsmehrheit und einer
Opposition. Diese Reduktion auf eine überschaubare Anzahl von
Akteuren erleichtert nicht nur die Kompromissfindung innerhalb des
politischen Systems, sondern macht sie auch für die Öffentlichkeit
verständlicher: Während kaum ein Bürger das Abstimmungsverhalten
von hunderten Einzelabgeordneten mitverfolgen könnte, kann er sich
über eine Handvoll Fraktionen sehr wohl eine Meinung bilden – und
wird erst dadurch in die Lage versetzt, bei der Wahl eine aufgeklärte
Entscheidung zu treffen.
Die
Frage, aus wie vielen Fraktionen ein Parlament optimalerweise
bestehen sollte, lässt sich dabei nicht eindeutig beantworten. So
gibt es funktionierende Zweiparteiensysteme, in denen die geringe
Zahl der Parteien allerdings in der Regel durch ihre größere
interne Heterogenität wettgemacht wird. In Mehrparteiensystemen
hingegen setzen die Parteien in ihren Programmen meist klarere
inhaltliche Akzente, was dem Bürger eine größere Wahlfreiheit
ermöglicht. Dafür werden allerdings zur Regierungsbildung mehr
Kompromisse zwischen den Parteien notwendig, über die die
Wähler kaum Kontrolle haben; zudem steigt das Risiko, dass reine
Klientelparteien als „Zünglein an der Waage“ großen politischen
Einfluss gewinnen.
Die
vielleicht größte Gefahr eines stark zersplitterten Parlaments aber
ist, dass Mehrheiten nur noch durch eine dauerhafte Zusammenarbeit
der größten Fraktionen zustande kommen. Auf die Dauer unterhöhlt
dies die Demokratie: Wenn strukturell immer dieselben Parteien
gemeinsam regieren (müssen), gibt es keine wirksame Opposition und
damit für die Bürger bei der Wahl auch keine echten Alternativen
mehr. Um dies zu verhindern, haben viele Staaten in ihren
Wahlgesetzen eine Sperrklausel etwa in Form einer Drei- oder
Fünf-Prozent-Hürde, die Kleinstparteien aus dem Parlament
ausschließt und dadurch die Bildung kleiner, stabiler Mehrheiten
unter den übrigen politischen Akteuren erleichtert.
Die Zersplitterung des
Europäischen Parlaments
Auf
EU-Ebene indessen sind die negativen Folgen einer starken
Parteienzersplitterung nur allzu gut zu beobachten. Das Problem ist
dabei allerdings nicht, das die Mitglieder des Europäischen
Parlaments aus 27 unterschiedlichen Staaten kommen: Die meisten von
ihnen haben sich längst zu europaweiten Parteien
zusammengeschlossen. Und auch die Zahl der sieben Fraktionen, aus
denen das Parlament inzwischen besteht, ist zwar recht hoch, aber
noch im Rahmen von dem, was man auch aus manchen nationalen
Parlamenten kennt.
Wirklich
ungewöhnlich aber ist, dass fast vier Prozent der Europaabgeordneten
(28 von 754) überhaupt keiner Fraktion angehören. Diese hohe
Zahl von Fraktionslosen führt dazu, dass derzeit weder der
linksliberale (GUE/NGL, Grüne/EFA, S&D, ALDE) noch der
konservative Block (EVP, ECR, EFD) im Europäischen Parlament eine
Mehrheit erreichen. Tatsächlich ist außer der „Großen Koalition“
aus EVP und S&D nur noch das liberal-konservative Bündnis aus
EVP, ALDE und ECR in der Lage, eine plausible Mehrheit mit weniger
als vier Fraktionen zu bilden. In der Praxis fallen die meisten
Entscheidungen in großen fraktionenübergreifenden Allianzen – mit
all den oben beschriebenen Problemen für die Handlungsfähigkeit des
Parlaments und für die öffentliche Debatte.
Der europäische
Direktwahlakt
Für
ein besseres Funktionieren der europäischen Demokratie wäre es also
notwendig, die Zahl der fraktionslosen Abgeordneten reduzieren. Die
effektivste Methode dafür wäre eine gesamteuropäische
Sperrklausel, die sicherstellt, dass genau diejenigen
Parteien ins Europäische Parlament einziehen, die europaweit
genügend Sitze gewonnen haben, um eine gemeinsame Fraktion zu
bilden. Doch wie so häufig in der Europapolitik sind die
realen Verhältnisse etwas komplizierter: Auch wenn Art. 223
AEU-Vertrag grundsätzlich ein einheitliches Europawahlverfahren
in Aussicht stellt, ist ein solches bis heute nie verabschiedet worden. Stattdessen setzt der europäische
Direktwahlakt
nur die Rahmenbedingungen, innerhalb derer jeder Mitgliedstaat ein
eigenes nationales Europawahlgesetz erlässt.
Ob
ein Mitgliedstaat bei der Europawahl eine Sperrklausel anwenden will
oder nicht, ist ihm also weitgehend selbst überlassen. Der
Direktwahlakt erlaubt sie ausdrücklich, wobei sie allerdings
„landesweit nicht mehr als 5 % der abgegebenen Stimmen
betragen darf“. Für sehr viele Länder ist die Frage ohnehin
weitgehend irrelevant, da sie im Europäischen Parlament nur so wenig
Sitze haben, dass eine Partei mehr als fünf Prozent der Stimmen
benötigt, um auch nur einen einzigen zu erringen. (So übertraf etwa
die slowenische Rentnerpartei DeSUS bei der Europawahl 2009 mit 7,2 %
locker die nationale Vierprozenthürde, erreichte aber dennoch keines
der sieben Mandate des Landes.) In Deutschland mit seinen 99
Europaabgeordneten hingegen ist die Sperrklausel durchaus von
Bedeutung. 2009 etwa erzielten die Freien Wähler, die Republikaner,
die Tierschutz- und die Familienpartei alle zwischen 1 und 1,7
Prozent und hätten ohne die Fünfprozenthürde in § 2 Abs. 7
des deutschen
Europawahlgesetzes je ein Mandat gewonnen – sodass das
Europaparlament heute wohl noch vier fraktionslose Abgeordnete mehr
zählen würde.
Die Sperrklausel im
deutschen Europawahlgesetz
All
diese Überlegungen kümmerten das Bundesverfassungsgericht
allerdings wenig, als es Ende 2011 die
deutsche Fünfprozenthürde kippte. Die Karlsruher Richter
erklärten damals zwar, Sperrklauseln seien grundsätzlich eine
legitime Einschränkung der Wahlgleichheit, sofern sie für eine
stabile Regierung und zuverlässige Mehrheitsbildung notwendig seien,
argumentierten dann aber recht wild drauflos, dass das für die
europäische Ebene nicht zutreffe. Das Urteil gipfelte in der
Feststellung, dass man ein handlungsfähiges Europäisches Parlament
ohnehin nicht brauche, da die nationalen Regierungen im Ministerrat
EU-Rechtsakte nach Art. 294
Abs. 7 AEUV notfalls auch allein treffen können. Die
Verachtung gegenüber der europäischen Demokratie, die aus diesen
Überlegungen sprach, stieß damals nicht nur in
diesem Blog, sondern auch
in vielen anderen Medien (sowie in einem geharnischten
Sondervotum zweier Verfassungsrichter) auf einige Kritik.
Und
auch der Bundestag ließ sich durch das Urteil nicht dauerhaft
beeindrucken und nutzte jetzt die Gelegenheit, um rechtzeitig vor der
Europawahl 2014 anstelle der alten Fünf- eine neue
Drei-Prozent-Hürde zu beschließen. In der Begründung dazu
erklärten die Abgeordneten, dass sich in den letzten anderthalb
Jahren die Verhältnisse und damit auch die verfassungsrechtliche
Bewertung der Sperrklausel geändert hätten. Insbesondere verwiesen
sie auf eine Resolution
des Europäischen Parlaments von Ende 2012, in der dieses
angesichts seiner zusätzlichen Kompetenzen durch den Vertrag von
Lissabon die Einführung von nationalen Sperrklauseln fordert, um
„verlässliche Mehrheiten im Parlament für die Stabilität der
Legislativverfahren der Union und das reibungslose Funktionieren
ihrer Exekutive“ sicherzustellen.
Ob
das genügt, um das Verfassungsgericht zu überzeugen, wird das
kommende Verfahren zeigen. Mehrere Sachverständige, die der
Innenausschuss des Bundestags dazu befragte (ja: für das
Europawahlgesetz ist im Bundestag tatsächlich der Innenausschuss
zuständig!), gingen jedenfalls davon aus, dass die Dreiprozenthürde
verfassungsrechtlich durchaus vertretbar sei – trotz gewisser
„Risiken“, die nur durch eine Änderung des Grundgesetzes selbst
zu lösen wären. Jenseits aller juristischen Finessen jedoch dürfte
wohl die Einschätzung
von Max Steinbeis im Verfassungsblog
zutreffen, dass das Bundesverfassungsgericht selbst womöglich nicht
ganz unglücklich ist, wenn es angesichts der massiven öffentlichen
Kritik an seinem letzten Urteil nun die Möglichkeit bekommt, seine
Rechtsprechung noch einmal „um den ein oder anderen Gedanken zu
‚ergänzen‘“.
Ein gesamteuropäisches Problem
Ein
Aspekt jedoch scheint mir in der ganzen deutschen Debatte über die
Verfassungsmäßigkeit der Europawahl-Sperrklausel etwas zu kurz zu
kommen: nämlich dass es sich eigentlich doch um ein
gesamteuropäisches Problem handelt. Die nationale
Dreiprozenthürde ist zwar geeignet, um die Zahl der fraktionslosen
Abgeordneten etwas zu reduzieren, aber ein zuverlässiges Instrument
dafür ist sie nicht. Zum einen kann es passieren, dass eine Partei,
die europaweit durchaus Fraktionsstärke erreicht, in einem einzelnen
Mitgliedstaat an der Sperrklausel scheitert. Und zum anderen ist es
umgekehrt möglich, dass eine Partei auf nationaler Ebene die
Sperrklausel überwindet, aber im Europäischen Parlament zuletzt
doch nur die Reihe der Fraktionslosen füllt, weil sie in anderen
Mitgliedsländern keine Verbündeten hat.
Wenigstens
dem ersten dieser beiden Punkte versuchten die Grünen (EGP) im
Bundestag mit einem eigenen
Ergänzungsantrag zu der Europawahlgesetz-Reform gerecht zu
werden, der zuletzt an der Ablehnung von CDU/CSU (EVP), FDP (ALDE)
und Linke (EL) scheiterte. Dieser Antrag sah vor, dass alle deutschen
Parteien vor der Wahl angeben sollten, ob sie auch einer
gesamteuropäischen Partei angehören. Wenn eine europäische Partei
dann bei der Wahl in anderen Ländern genügend Mandate erringen
würde, um zur Bildung einer Fraktion im Europäischen Parlament
berechtigt zu sein, sollte die Dreiprozenthürde auch für ihre
deutsche Mitgliedspartei nicht gelten. Wenn also die FDP bei einer
künftigen Europawahl nur auf zwei Prozent gekommen, die ALDE jedoch
wie bisher in Fraktionsstärke ins Parlament eingezogen wäre, so
hätten auch die deutschen Liberalen zwei Abgeordnete stellen können.
Zugehörigkeit zu einer EU-Partei als Bedingung zur Wahlteilnahme?
Auch
wenn dieser Vorschlag der Grünen recht bescheiden war (letztlich
zielte er ja nur auf eine Ausnahmeregel von der Dreiprozenthürde
ab), scheint mir ihr Ansatz, die Sperrklausel an die europäischen
statt an die nationalen Parteien zu koppeln, in die richtige Richtung
zu weisen. Konsequenter allerdings wäre es, bei den Europawahlen
gleich ganz die europäischen Parteien zu den zentralen Akteuren zu
machen: Wie wäre es denn, wenn man bei Europawahlen nur noch
Organisationen zulassen würde, die als europäische Parteien
anerkannt sind – analog zu der Regelung bei den deutschen Bundestagswahlen, wo ebenfalls nur anerkannte deutsche
Parteien Listen aufstellen dürfen?
Als erster Schritt ließe sich dies auf nationaler Ebene schon im
deutschen Europawahlgesetz umsetzen; langfristig könnte man es auch
europaweit im Direktwahlakt verankern. Im Ergebnis würde es nicht
nur die Zahl der fraktionslosen Abgeordneten schlagartig verringern
und die gesamteuropäischen Parteien stärken, sondern auch nationale
Sperrklauseln weitgehend überflüssig machen. Falls Karlsruhe also auch das
neue Europawahlgesetz für verfassungswidrig erklärt:
Hier wäre ein Plan B.
Bild: © European Union 2013 - European Parliament [CC-BY-NC-ND-2.0], via Flickr.
Seit Inkraftstreten der Lisabonvertrag (1° dez. 2009) EP vcertret nicht mehr di Voelker der Mitgliedstaaten, sondern unmitellbar die EU Buerger, So darf nicht ein Nationalstaat allein beschliessen ueber Vertretung der EUburger.
AntwortenLöschenBisher scheint darüber nur im “alles oder nichts”-Modus diskutiert zu werden. Es gibt eine bessere (d.h. rechtlich leicht durchsetzbare) Möglichkeit als die komplette Abschaffung der Sperrklausel:
AntwortenLöschenhttp://www.hauke-laging.de/ideen/abgeordnete_ohne_stimmrecht/
Ich halte die aktuelle Handhabung der Sperrklausel für offensichtlich
rechtswidrig, weil die vom BVerfG akzeptierten Gründe lediglich den
Ausschluss von Abstimmungen rechtfertigen, nicht aber den kompletten
Ausschluss von der Parlamentsarbeit, der somit aus einer ganzen Reihe
von Gründen eine *nicht gerechtfertigte* massive Verletzung der Rechte
von Wählern und Parteien darstellt (wie das BVerfG in seinen Urteilen
selber ausführt, kann man direkt zitieren).
Besonderes Augenmerk verdient dabei die Betrachtung der Wahlaussichten
bei der Folgewahl. Der gravierende Unterschied in der politischen
Arbeitsfähigkeit zwischen Parteien mit 5,0% und 4,9%, der sich aus dem
status quo ergibt, ist von großer Bedeutung für den Ausgang der
Folgewahl, was sehr problematisch ist: Parteien halten sich damit
Konkurrenz vom Hals. Der Gesetzgeber ist naturgemäß in dieser Frage
nicht neutral, was die rechtlichen Anforderungen an den
Parlamentsausschluss noch verschärft.