17 Juni 2013

Warum eine Sperrklausel nicht undemokratisch und eine nationale Drei-Prozent-Hürde bei der Europawahl trotzdem nicht die beste Lösung ist

Am Tag der offenen Tür kann jeder mal im Europäischen Parlament Platz nehmen. Nach der Europawahl braucht er dafür (in Deutschland) mindestens drei Prozent der Stimmen.
Seit vergangenen Donnerstag hat Deutschland ein neues Europawahlgesetz. Knapp zwei Jahre, nachdem das Bundesverfassungsgericht die Fünf-Prozent-Hürde bei Europawahlen für grundgesetzwidrig und daher nichtig erklärt hatte, beschloss der Bundestag (mit den Stimmen aller Fraktionen außer der Linken/EL), stattdessen eine Drei-Prozent-Hürde einzuführen. Umgehend kündigten mehrere kleine Parteien, darunter die ÖDP, die Freien Wähler, die Piraten und die NPD, neue Verfassungsklagen an. Und so werden wir in den nächsten Monaten in Deutschland wohl wieder einmal eine hübsche juristische Diskussion darüber haben, unter welchen Umständen eine Sperrklausel für Kleinparteien bei Wahlen erlaubt ist und ob diese Umstände auf europäischer Ebene vorliegen – und es ist zu befürchten, dass darüber andere, sinnvollere Reformen des Europawahlrechts in den Hintergrund treten werden. Aber der Reihe nach.

Der demokratische Sinn von Sperrklauseln

Demokratische Politik ist der Versuch, mit einem fundamentalen Problem der Gesellschaftsgestaltung fertig zu werden: die millionenfache Vielfalt von einzelnen politischen Meinungen und Überzeugungen zu konkreten Entscheidungen zu verdichten, von denen man annehmen kann, dass eine Mehrheit der Bevölkerung sie unterstützt. Für diese Verdichtung (oder, um mit Niklas Luhmann zu sprechen: für diese Reduktion von Komplexität) gibt es in der repräsentativen Demokratie verschiedene Verfahren. Das wichtigste davon ist die Wahl des Parlaments, bei der aus den Stimmen von Millionen Bürgern die Mandate einiger hundert Abgeordneter werden.

Doch auch ein paar hundert Einzelstimmen sind noch allzu viele, um einen schnellen und transparenten Entscheidungsprozess zu ermöglichen. Eine weitere Verdichtung erfolgt deshalb durch die Fraktionen im Parlament, die meist geschlossen abstimmen, sowie schließlich durch das Wechselspiel zwischen einer stabilen Regierungsmehrheit und einer Opposition. Diese Reduktion auf eine überschaubare Anzahl von Akteuren erleichtert nicht nur die Kompromissfindung innerhalb des politischen Systems, sondern macht sie auch für die Öffentlichkeit verständlicher: Während kaum ein Bürger das Abstimmungsverhalten von hunderten Einzelabgeordneten mitverfolgen könnte, kann er sich über eine Handvoll Fraktionen sehr wohl eine Meinung bilden – und wird erst dadurch in die Lage versetzt, bei der Wahl eine aufgeklärte Entscheidung zu treffen.

Die Frage, aus wie vielen Fraktionen ein Parlament optimalerweise bestehen sollte, lässt sich dabei nicht eindeutig beantworten. So gibt es funktionierende Zweiparteiensysteme, in denen die geringe Zahl der Parteien allerdings in der Regel durch ihre größere interne Heterogenität wettgemacht wird. In Mehrparteiensystemen hingegen setzen die Parteien in ihren Programmen meist klarere inhaltliche Akzente, was dem Bürger eine größere Wahlfreiheit ermöglicht. Dafür werden allerdings zur Regierungsbildung mehr Kompromisse zwischen den Parteien notwendig, über die die Wähler kaum Kontrolle haben; zudem steigt das Risiko, dass reine Klientelparteien als „Zünglein an der Waage“ großen politischen Einfluss gewinnen.

Die vielleicht größte Gefahr eines stark zersplitterten Parlaments aber ist, dass Mehrheiten nur noch durch eine dauerhafte Zusammenarbeit der größten Fraktionen zustande kommen. Auf die Dauer unterhöhlt dies die Demokratie: Wenn strukturell immer dieselben Parteien gemeinsam regieren (müssen), gibt es keine wirksame Opposition und damit für die Bürger bei der Wahl auch keine echten Alternativen mehr. Um dies zu verhindern, haben viele Staaten in ihren Wahlgesetzen eine Sperrklausel etwa in Form einer Drei- oder Fünf-Prozent-Hürde, die Kleinstparteien aus dem Parlament ausschließt und dadurch die Bildung kleiner, stabiler Mehrheiten unter den übrigen politischen Akteuren erleichtert.

Die Zersplitterung des Europäischen Parlaments

Auf EU-Ebene indessen sind die negativen Folgen einer starken Parteienzersplitterung nur allzu gut zu beobachten. Das Problem ist dabei allerdings nicht, das die Mitglieder des Europäischen Parlaments aus 27 unterschiedlichen Staaten kommen: Die meisten von ihnen haben sich längst zu europaweiten Parteien zusammengeschlossen. Und auch die Zahl der sieben Fraktionen, aus denen das Parlament inzwischen besteht, ist zwar recht hoch, aber noch im Rahmen von dem, was man auch aus manchen nationalen Parlamenten kennt.

Wirklich ungewöhnlich aber ist, dass fast vier Prozent der Europaabgeordneten (28 von 754) überhaupt keiner Fraktion angehören. Diese hohe Zahl von Fraktionslosen führt dazu, dass derzeit weder der linksliberale (GUE/NGL, Grüne/EFA, S&D, ALDE) noch der konservative Block (EVP, ECR, EFD) im Europäischen Parlament eine Mehrheit erreichen. Tatsächlich ist außer der „Großen Koalition“ aus EVP und S&D nur noch das liberal-konservative Bündnis aus EVP, ALDE und ECR in der Lage, eine plausible Mehrheit mit weniger als vier Fraktionen zu bilden. In der Praxis fallen die meisten Entscheidungen in großen fraktionenübergreifenden Allianzen – mit all den oben beschriebenen Problemen für die Handlungsfähigkeit des Parlaments und für die öffentliche Debatte.

Der europäische Direktwahlakt

Für ein besseres Funktionieren der europäischen Demokratie wäre es also notwendig, die Zahl der fraktionslosen Abgeordneten reduzieren. Die effektivste Methode dafür wäre eine gesamteuropäische Sperrklausel, die sicherstellt, dass genau diejenigen Parteien ins Europäische Parlament einziehen, die europaweit genügend Sitze gewonnen haben, um eine gemeinsame Fraktion zu bilden. Doch wie so häufig in der Europapolitik sind die realen Verhältnisse etwas komplizierter: Auch wenn Art. 223 AEU-Vertrag grundsätzlich ein einheitliches Europawahlverfahren in Aussicht stellt, ist ein solches bis heute nie verabschiedet worden. Stattdessen setzt der europäische Direktwahlakt nur die Rahmenbedingungen, innerhalb derer jeder Mitgliedstaat ein eigenes nationales Europawahlgesetz erlässt.

Ob ein Mitgliedstaat bei der Europawahl eine Sperrklausel anwenden will oder nicht, ist ihm also weitgehend selbst überlassen. Der Direktwahlakt erlaubt sie ausdrücklich, wobei sie allerdings „landesweit nicht mehr als 5 % der abgegebenen Stimmen betragen darf“. Für sehr viele Länder ist die Frage ohnehin weitgehend irrelevant, da sie im Europäischen Parlament nur so wenig Sitze haben, dass eine Partei mehr als fünf Prozent der Stimmen benötigt, um auch nur einen einzigen zu erringen. (So übertraf etwa die slowenische Rentnerpartei DeSUS bei der Europawahl 2009 mit 7,2 % locker die nationale Vierprozenthürde, erreichte aber dennoch keines der sieben Mandate des Landes.) In Deutschland mit seinen 99 Europaabgeordneten hingegen ist die Sperrklausel durchaus von Bedeutung. 2009 etwa erzielten die Freien Wähler, die Republikaner, die Tierschutz- und die Familienpartei alle zwischen 1 und 1,7 Prozent und hätten ohne die Fünfprozenthürde in § 2 Abs. 7 des deutschen Europawahlgesetzes je ein Mandat gewonnen – sodass das Europaparlament heute wohl noch vier fraktionslose Abgeordnete mehr zählen würde.

Die Sperrklausel im deutschen Europawahlgesetz

All diese Überlegungen kümmerten das Bundesverfassungsgericht allerdings wenig, als es Ende 2011 die deutsche Fünfprozenthürde kippte. Die Karlsruher Richter erklärten damals zwar, Sperrklauseln seien grundsätzlich eine legitime Einschränkung der Wahlgleichheit, sofern sie für eine stabile Regierung und zuverlässige Mehrheitsbildung notwendig seien, argumentierten dann aber recht wild drauflos, dass das für die europäische Ebene nicht zutreffe. Das Urteil gipfelte in der Feststellung, dass man ein handlungsfähiges Europäisches Parlament ohnehin nicht brauche, da die nationalen Regierungen im Ministerrat EU-Rechtsakte nach Art. 294 Abs. 7 AEUV notfalls auch allein treffen können. Die Verachtung gegenüber der europäischen Demokratie, die aus diesen Überlegungen sprach, stieß damals nicht nur in diesem Blog, sondern auch in vielen anderen Medien (sowie in einem geharnischten Sondervotum zweier Verfassungsrichter) auf einige Kritik.

Und auch der Bundestag ließ sich durch das Urteil nicht dauerhaft beeindrucken und nutzte jetzt die Gelegenheit, um rechtzeitig vor der Europawahl 2014 anstelle der alten Fünf- eine neue Drei-Prozent-Hürde zu beschließen. In der Begründung dazu erklärten die Abgeordneten, dass sich in den letzten anderthalb Jahren die Verhältnisse und damit auch die verfassungsrechtliche Bewertung der Sperrklausel geändert hätten. Insbesondere verwiesen sie auf eine Resolution des Europäischen Parlaments von Ende 2012, in der dieses angesichts seiner zusätzlichen Kompetenzen durch den Vertrag von Lissabon die Einführung von nationalen Sperrklauseln fordert, um „verlässliche Mehrheiten im Parlament für die Stabilität der Legislativverfahren der Union und das reibungslose Funktionieren ihrer Exekutive“ sicherzustellen.

Ob das genügt, um das Verfassungsgericht zu überzeugen, wird das kommende Verfahren zeigen. Mehrere Sachverständige, die der Innenausschuss des Bundestags dazu befragte (ja: für das Europawahlgesetz ist im Bundestag tatsächlich der Innenausschuss zuständig!), gingen jedenfalls davon aus, dass die Dreiprozenthürde verfassungsrechtlich durchaus vertretbar sei – trotz gewisser „Risiken“, die nur durch eine Änderung des Grundgesetzes selbst zu lösen wären. Jenseits aller juristischen Finessen jedoch dürfte wohl die Einschätzung von Max Steinbeis im Verfassungsblog zutreffen, dass das Bundesverfassungsgericht selbst womöglich nicht ganz unglücklich ist, wenn es angesichts der massiven öffentlichen Kritik an seinem letzten Urteil nun die Möglichkeit bekommt, seine Rechtsprechung noch einmal „um den ein oder anderen Gedanken zu ‚ergänzen‘“.

Ein gesamteuropäisches Problem

Ein Aspekt jedoch scheint mir in der ganzen deutschen Debatte über die Verfassungsmäßigkeit der Europawahl-Sperrklausel etwas zu kurz zu kommen: nämlich dass es sich eigentlich doch um ein gesamteuropäisches Problem handelt. Die nationale Dreiprozenthürde ist zwar geeignet, um die Zahl der fraktionslosen Abgeordneten etwas zu reduzieren, aber ein zuverlässiges Instrument dafür ist sie nicht. Zum einen kann es passieren, dass eine Partei, die europaweit durchaus Fraktionsstärke erreicht, in einem einzelnen Mitgliedstaat an der Sperrklausel scheitert. Und zum anderen ist es umgekehrt möglich, dass eine Partei auf nationaler Ebene die Sperrklausel überwindet, aber im Europäischen Parlament zuletzt doch nur die Reihe der Fraktionslosen füllt, weil sie in anderen Mitgliedsländern keine Verbündeten hat.

Wenigstens dem ersten dieser beiden Punkte versuchten die Grünen (EGP) im Bundestag mit einem eigenen Ergänzungsantrag zu der Europawahlgesetz-Reform gerecht zu werden, der zuletzt an der Ablehnung von CDU/CSU (EVP), FDP (ALDE) und Linke (EL) scheiterte. Dieser Antrag sah vor, dass alle deutschen Parteien vor der Wahl angeben sollten, ob sie auch einer gesamteuropäischen Partei angehören. Wenn eine europäische Partei dann bei der Wahl in anderen Ländern genügend Mandate erringen würde, um zur Bildung einer Fraktion im Europäischen Parlament berechtigt zu sein, sollte die Dreiprozenthürde auch für ihre deutsche Mitgliedspartei nicht gelten. Wenn also die FDP bei einer künftigen Europawahl nur auf zwei Prozent gekommen, die ALDE jedoch wie bisher in Fraktionsstärke ins Parlament eingezogen wäre, so hätten auch die deutschen Liberalen zwei Abgeordnete stellen können.

Zugehörigkeit zu einer EU-Partei als Bedingung zur Wahlteilnahme?

Auch wenn dieser Vorschlag der Grünen recht bescheiden war (letztlich zielte er ja nur auf eine Ausnahmeregel von der Dreiprozenthürde ab), scheint mir ihr Ansatz, die Sperrklausel an die europäischen statt an die nationalen Parteien zu koppeln, in die richtige Richtung zu weisen. Konsequenter allerdings wäre es, bei den Europawahlen gleich ganz die europäischen Parteien zu den zentralen Akteuren zu machen: Wie wäre es denn, wenn man bei Europawahlen nur noch Organisationen zulassen würde, die als europäische Parteien anerkannt sind – analog zu der Regelung bei den deutschen Bundestagswahlen, wo ebenfalls nur anerkannte deutsche Parteien Listen aufstellen dürfen?

Als erster Schritt ließe sich dies auf nationaler Ebene schon im deutschen Europawahlgesetz umsetzen; langfristig könnte man es auch europaweit im Direktwahlakt verankern. Im Ergebnis würde es nicht nur die Zahl der fraktionslosen Abgeordneten schlagartig verringern und die gesamteuropäischen Parteien stärken, sondern auch nationale Sperrklauseln weitgehend überflüssig machen. Falls Karlsruhe also auch das neue Europawahlgesetz für verfassungswidrig erklärt: Hier wäre ein Plan B.

Bild: © European Union 2013 - European Parliament [CC-BY-NC-ND-2.0], via Flickr.

2 Kommentare:

  1. Seit Inkraftstreten der Lisabonvertrag (1° dez. 2009) EP vcertret nicht mehr di Voelker der Mitgliedstaaten, sondern unmitellbar die EU Buerger, So darf nicht ein Nationalstaat allein beschliessen ueber Vertretung der EUburger.

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  2. Bisher scheint darüber nur im “alles oder nichts”-Modus diskutiert zu werden. Es gibt eine bessere (d.h. rechtlich leicht durchsetzbare) Möglichkeit als die komplette Abschaffung der Sperrklausel:

    http://www.hauke-laging.de/ideen/abgeordnete_ohne_stimmrecht/

    Ich halte die aktuelle Handhabung der Sperrklausel für offensichtlich
    rechtswidrig, weil die vom BVerfG akzeptierten Gründe lediglich den
    Ausschluss von Abstimmungen rechtfertigen, nicht aber den kompletten
    Ausschluss von der Parlamentsarbeit, der somit aus einer ganzen Reihe
    von Gründen eine *nicht gerechtfertigte* massive Verletzung der Rechte
    von Wählern und Parteien darstellt (wie das BVerfG in seinen Urteilen
    selber ausführt, kann man direkt zitieren).

    Besonderes Augenmerk verdient dabei die Betrachtung der Wahlaussichten
    bei der Folgewahl. Der gravierende Unterschied in der politischen
    Arbeitsfähigkeit zwischen Parteien mit 5,0% und 4,9%, der sich aus dem
    status quo ergibt, ist von großer Bedeutung für den Ausgang der
    Folgewahl, was sehr problematisch ist: Parteien halten sich damit
    Konkurrenz vom Hals. Der Gesetzgeber ist naturgemäß in dieser Frage
    nicht neutral, was die rechtlichen Anforderungen an den
    Parlamentsausschluss noch verschärft.

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