- François Hollande (PS/SPE) kämpft gegen Brüsseler Diktate. Und auch sonst haben sich die länderspezifischen Empfehlungen bislang eher nicht als Publikumserfolg erwiesen.
Als am vergangenen
Mittwoch die Europäische Kommission ihre neuesten
„länderspezifischen
Empfehlungen“ für die Wirtschafts- und Steuerpolitik der
Mitgliedstaaten vorlegte, reagierte der deutsche
Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU/EVP) spontan mit genervter Verachtung.
Die an
Deutschland gerichteten Forderungen (Wortlaut)
– unter anderem Ehegattensplitting und Betreuungsgeld
abzuschaffen, Minijobs in unbefristete Stellen umzuwandeln, Löhne zu
erhöhen, Steuern für Geringverdiener zu senken und die
Bildungsausgaben zu steigern – seien „süß,
aber mehr als süß dann auch nicht“. Am Nachmittag desselben
Tages hatte sich der Minister indessen ein besseres Argument zugelegt:
Statt die Forderungen der Kommission zurückzuweisen, ignorierte er
sie nun einfach und ließ wissen, die länderspezifischen
Empfehlungen bestätigten „wie
auch im letzten Jahr den wirtschafts- und finanzpolitischen Kurs der
Bundesregierung“.
Offener fiel die Kritik
an den länderspezifischen Empfehlungen in Frankreich aus. Dort war
es Staatspräsident François Hollande (PS/SPE) selbst, der gegen die
Forderungen aus Brüssel (unter anderem niedrigere Arbeitskosten und
eine Rentenreform) aufbegehrte: Die Kommission „hat
uns nicht zu diktieren, was wir zu machen haben“, erklärte er
und legte später noch nach, Frankreich akzeptiere zwar die
Notwendigkeit von Haushaltsdisziplin, die Ausgestaltung der Reformen
müsse aber eine nationale Angelegenheit bleiben, „sonst
gäbe es keine Souveränität“.
Die auffälligste
Reaktion auf die Brüsseler Wirtschaftspläne aber waren die
Demonstrationen am vergangenen Samstag, die zeitgleich in achtzig
europäischen Städten stattfanden – vor allem in Portugal
und Spanien, obwohl in deutschen Medien eher diejenige in
Frankfurt am Main für
Aufregung sorgte. Diese Umzüge richteten sich zwar nicht nur
gegen die Europäische Kommission, sondern allgemein gegen die
Wirtschaftspolitik der „Troika“, an der auch die Europäische
Zentralbank und der Internationale Währungsfonds beteiligt sind.
Dennoch dürfte die Terminwahl nicht zufällig auf das Wochenende
nach Veröffentlichung der Kommissionsvorschläge gefallen sein. Wie
es aussieht, gibt es derzeit kaum ein Instrument, mit dem sich die EU
in allen Mitgliedstaaten so konsequent unbeliebt macht wie mit den
länderspezifischen Empfehlungen.
Der Sinn des
europäischen Semesters
Dabei
war die Einführung der Empfehlungen vor zwei Jahren noch als großer
Erfolg im Kampf gegen die Eurokrise betrachtet worden. Sie sind ein
Kernbestandteil des „Europäischen
Semesters“, das seit 2011 die nationale Haushaltsdisziplin
sicherstellen soll: Statt dass übermäßige Budgetdefizite erst im
Nachhinein festgestellt und (vielleicht) sanktioniert werden, müssen
die Mitgliedstaaten nun ihre nationalen Haushaltspläne sowie ihre
wichtigsten wirtschaftspolitischen Vorhaben für das nächste Jahr
bereits im April in Brüssel vorlegen. Dort werden sie von der
Kommission ausgewertet, die dann zu jedem Land ein Gutachten
veröffentlicht, eben die länderspezifischen Empfehlungen. Ende Juni
oder Anfang Juli werden diese dann offiziell vom Ministerrat
verabschiedet und sollen anschließend von den nationalen Parlamenten
bei ihrer Budgetplanung berücksichtigt werden.
Das
Europäische Semester dient allerdings nicht nur zur Sicherstellung
der Haushaltsdisziplin, sondern auch zur Verbesserung der
wirtschaftspolitischen Koordinierung, um die heterogenen nationalen
Wirtschaftspolitiken zu einer gesamteuropäischen Strategie
zusammenzufügen. Wie wichtig dies ist, wurde erst jüngst von
Wolfgang Münchau in der Financial
Times hervorgehoben:
Der europäische Binnenmarkt verhält sich ökonomisch längst nicht
mehr wie viele kleine, sondern wie eine einheitliche große
Volkswirtschaft; und insbesondere die Staaten der Eurozone, die keine
eigene nationale Geldpolitik mehr betreiben können, sind deshalb in
ihren Maßnahmen aufeinander angewiesen.
Dies
zeigt sich etwa in der antizyklischen Fiskalpolitik: Üblicherweise
würde man einem Staat empfehlen, in einer Rezession die Ausgaben zu
steigern und die Nachfrage zu stimulieren, im Boom hingegen die
Steuern zu erhöhen und öffentliche Schulden abzubauen. In der
Eurozone jedoch haben Krisenländer oft zu wenig Kreditspielraum für
nationale Nachfrageprogramme – und wenn dann, wie in den letzten Jahren, auch noch die ökonomisch besser dastehenden Länder
beginnen, ihre eigenen Haushalte zu konsolidieren, würgt das die
Konjunktur in der gesamten Union ab. Um sich nicht gegenseitig zu
schaden, müssen die Mitgliedstaaten ihre Entscheidungen deshalb
nicht nur an der nationalen Wirtschaftslage, sondern an einer
gemeinsamen EU-weiten Strategie ausrichten. Und genau das soll durch
die länderspezifischen Empfehlungen sichergestellt werden.
Souveränität der
nationalen Parlamente
Zugleich
allerdings ist die Wirtschaftspolitik natürlich immer ein sehr
umstrittenes Feld. Wie viel Austerität und wie viel
Wachstumsförderung, wie viel Sparen und wie hohe Schulden in einer
bestimmten Situation sinnvoll sind, ist nicht nur eine rein
technische Frage. Vielmehr wird dabei so viel Geld umverteilt, dass
eine gute demokratische Legitimation unabdingbar ist. Nicht zufällig
gilt das Budgetrecht deshalb als ein Kernbereich der Parlamente und
ist als solche in den meisten Mitgliedstaaten auch
verfassungsrechtlich besonders abgesichert – in Deutschland etwa
durch das Lissabon-Urteil
des Bundesverfassungsgerichts, in dem „die Festlegung über
Art und Höhe der den Bürger treffenden Abgaben“ sowie über
„wesentliche Ausgaben des Staates“ als unantastbare Kompetenz des
Deutschen Bundestags festgeschrieben wurden.
Bei
der Ausgestaltung des Europäischen Semesters standen die
EU-Mitgliedstaaten vor zwei Jahren deshalb vor dem Problem, dass in
der Wirtschaftspolitik einerseits eine gesamteuropäische Strategie
nötig ist, andererseits die Verantwortung dafür aus
verfassungsrechtlichen Gründen bei den nationalen Parlamenten liegen
soll. Am Ende kam man deshalb auf die Lösung, die länderspezifischen
Empfehlungen nicht-bindend zu machen: Die EU gibt ihren Mitgliedern
zwar Handlungsvorschläge, kann sie aber (solange ein Staat nicht
gegen die harten Defizitkriterien des Stabilitätspakts
verstößt) nicht dazu verpflichten, diese auch einzuhalten. Was
bleibt, ist informeller Druck auf die „souveränen“ Parlamente –
in der Hoffnung, dass diese die Empfehlungen der Kommission
bereitwillig aufgreifen und dadurch in ihren nationalen Öffentlichkeiten
legitimieren. Kann das gut gehen? Natürlich nicht.
Nationale Regierungen
übernehmen die Deutungshoheit
Tatsächlich
lässt sich an der öffentlichen Debatte der letzten Tage beobachten,
wie aufgrund der Letztverantwortung der nationalen Parlamente die
länderspezifischen Empfehlungen nicht als Teil einer gesamteuropäischen Strategie, sondern als Fragen der nationalen
Wirtschaftspolitik wahrgenommen werden. Viele Medien griffen auf die
Metapher der „Zeugnisausgabe“
zurück – ein Bild, das der Kommission nur eine urteilende und
bewertende Rolle zuschreibt, während das Handeln und Entscheiden
weiterhin Sache der nationalen Regierungen und Parlamenten ist. Und da handelnde Akteure für die Medien immer interessanter sind als
nur urteilende, ist es kaum verwunderlich, dass die nationalen
Regierungen rasch auch die Deutungshoheit über die Vorschläge der
Kommission übernahmen.
Zugleich
aber haben die nationalen Regierungen in der Regel nur wenig
Interesse daran, die den Empfehlungen zugrunde liegende
gesamteuropäische Logik einfach in ihre nationalen Öffentlichkeiten
weiterzutragen. Schließlich verlangt die Kommission von ihnen teils
gravierende Reformen, zu denen sie nicht ohne Weiteres gewillt sind.
Betreuungsgeld oder Ehegattensplitting etwa sind bekanntermaßen
heilige Kühe für die deutschen Christsozialen, und die
Arbeitsmarktreform ein rotes Tuch für Teile der französischen
Sozialisten. Mehr noch: Die Regierungen sind ja auf nationaler Ebene
gerade dafür gewählt worden, dass sie ihr Parteiprogramm umsetzen –
sie würden also ihre eigene Akzeptanz in der Bevölkerung aufs Spiel
setzen, wenn sie der Kommission allzu leicht nachgeben würden.
Stattdessen ist es für sie politisch durchaus rational, die
Forderungen aus Brüssel in der Öffentlichkeit zu delegitimieren,
indem sie ihnen entweder (wie Schäuble) die Relevanz absprechen
oder sie (wie Hollande) als Angriff auf die nationale Souveränität
zurückweisen.
Buhmann-Spiel
Der
Kommission hingegen fällt es viel schwerer, sich in den
nationalen Öffentlichkeiten mit ihren eigenen Argumenten Gehör zu
verschaffen. Am ehesten kann sie dort auf die Unterstützung der
Regierungen anderer Mitgliedstaaten zählen: So ließen es
sich verschiedene
deutsche CDU-Abgeordnete nicht nehmen, dem Franzosen Hollande
einen Verstoß gegen „Geist und Buchstaben europäischer
Vereinbarungen“ sowie ein „Rütteln an den Grundfesten der EU“
vorzuwerfen. Umgekehrt setzt sich beispielsweise die belgische
Regierung bereits seit längerem dafür ein, dass Deutschland endlich
die Forderung
der Kommission nach höheren Löhnen und weniger Minijobs
umsetzt.
All
das aber wird in den nationalen Öffentlichkeiten eher als Einmischung von
außen wahrgenommen und führt meist weniger zu einem Sinneswandel
als zu einer Solidarisierung der Bevölkerung mit ihrer Regierung.
Das wiederum bietet den Politikern der Mitgliedstaaten eine Bühne,
um sich als Verteidiger der nationalen Interessen und
Souveränitätsansprüche aufzuspielen – und zuletzt landen wir
wieder einmal bei dem klassischen Buhmann-Spiel, bei dem die
Europäische Union in der Öffentlichkeit für alle
wirtschaftspolitischen Unannehmlichkeiten herhalten muss, während
sich die nationalen Regierungen alle Wohltaten und Erfolge selbst
anheften.
Der Fehler liegt im
System
Am
Ende bleiben die länderspezifischen Empfehlungen also nicht nur
weitgehend erfolglos (nach einer Zusammenstellung des Europäischen
Parlaments haben die Mitgliedstaaten im vergangenen Jahr lediglich
17 von über 140 Brüsseler Reformvorschlägen tatsächlich
umgesetzt), sondern wirken überdies wie ein enormer
Delegitimierungsapparat, um die EU in der Öffentlichkeit ihrer
Mitgliedstaaten unbeliebt zu machen. Doch es wäre zu kurz gedacht,
wenn man sich nun nur über einzelne populistische
Regierungspolitiker ereifern oder von den Medien eine andere Art der
Berichterstattung verlangen würde. Der Fehler liegt vielmehr im
System: Man kann von nationalen Politikern, die nur einer nationalen
Wählerschaft gegenüber verantwortlich sind, schlicht
nicht erwarten, dass sie in ihrer nationalen Öffentlichkeit für
gesamteuropäische Belange einstehen. Natürlich kommt es vor, dass
sie es aus Überzeugung dennoch tun – aber darauf allein kann man
nicht bauen, solange es an strukturellen Anreizen fehlt.
Der
Versuch, der europäischen Politik dadurch soziale Akzeptanz zu
verschaffen, dass man die Letztverantwortung bei den nationalen
Parlamenten belässt, ist deshalb zum Scheitern verurteilt. Mehr
Erfolg verspricht hingegen der genau umgekehrte Weg: Wenn man den
Einfluss der nationalen Akteure weiter reduziert und der EU allein
die Verantwortung für die Planung und Umsetzung einer
gesamteuropäischen Wirtschaftsstrategie überträgt, dann wird sich
auch die öffentliche Debatte darüber verändern. Der Adressat der
politischen Auseinandersetzung wären dann nicht mehr die nationalen
Regierungen, sondern die Europäische Kommission, die natürlich dem
demokratisch gewählten Europäischen Parlament verantwortlich sein
müsste. Gewiss, verfassungsrechtlich wäre eine solche
Komplett-Europäisierung der Wirtschaftspolitik ein großer Schritt.
Am Ende aber würde sie die gesellschaftliche Akzeptanz der
Europapolitik steigern – weil wir endlich beginnen würden, in der
Öffentlichkeit über die gemeinsame europäische
Strategie zu diskutieren, statt nur unsere nationalen Interessen gegen
die Einmischungen aus Brüssel zu verteidigen und unseren
Nachbarländern mangelndes europäisches Engagement vorzuwerfen.
Bild: By Selbymay (Own work) [CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons.
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