- Guido Westerwelle hat sich eine Idee angeeignet, die gut klingt, solange man nicht allzu viel darüber nachdenkt.
Es erscheint mehr als fraglich, ob der
derzeitige deutsche Außenminister Guido Westerwelle (FDP/ELDR) nach
2013 jemals wieder ein politisches Amt innehaben wird. Die Zeit für
seinen Eintrag in die Geschichtsbücher läuft ab, und womöglich ist
das auch die Erklärung für seinen jüngsten europapolitischen
Aktivismus. Vor etwa zwei Wochen jedenfalls machte er den Vorschlag,
eine neue „europäische Verfassung“ auszuarbeiten.
Die Idee wurde von den übrigen Ländern mit bestenfalls gemischten Reaktionen aufgenommen, und zu dem Treffen der interessierten
Außenminister, das heute in Berlin stattfinden soll, hat nicht einmal die Hälfte der übrigen Mitgliedstaaten ihr Kommen angekündigt. Erwartet werden nur
Frankreich, Italien, Polen, Spanien, Portugal, Belgien, die
Niederlande, Österreich und Dänemark.
Interessant an Westerwelles Vorschlag
ist besonders seine inhaltliche Vagheit. Außer zum
Ratifikationsverfahren (per Volksabstimmung, allerdings nur auf
nationaler, nicht europäischer Ebene) äußerte er sich bislang
lediglich zu einem einzigen Punkt, den er mit der neuen
Verfassung verwirklicht sehen wolle: nämlich die „Direktwahl
eines europäischen Präsidenten, der zuvor in ganz Europa antreten
und für sich werben müsste“.
Dieser Vorschlag ist nicht ganz
neu. Schon Joschka Fischer
(Grüne/EGP) vertrat ihn 2000 vor dem Gipfel
von Nizza, und Wolfgang Schäuble (CDU/EVP) wiederholt ihn
seit einigen Jahren wie ein Mantra. Und zunächst einmal klingt der Einfall
auch durchaus verführerisch: Vergleicht man das geringe Medieninteresse
für die Europapolitik mit der fiebrigen Aufregung, die die
US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen bereits Monate im Voraus
auslösen, so scheint es ein naheliegender Ausweg zu sein, das Modell
einfach zu importieren. Von den französischen Präsidentschaftswahlen
heißt es etwas pathetisch, sie seien „die Begegnung eines Menschen
mit einem Volk“: Wäre das nicht genau das Richtige für die
Förderung einer europäischen Identität? Und demokratisch, wie
schön, ist es irgendwie auch.
Legitimitätsüberschuss ohne
Handlungsspielraum
Doch auf den zweiten Blick wirkt der Vorschlag weitaus weniger überzeugend. Einen Präsidenten vom Volk direkt wählen zu lassen,
stattet ihn mit einer großen Portion an Legitimität aus
– mit der er nur dann sinnvoll wird umgehen können, wenn er auch
die entsprechende politische Macht dazu erhält. In der Geschichte
der europäischen Integration wurde dieser Fehler schon einmal
begangen, als man 1979 dazu überging, das Europäische Parlament
direkt wählen zu lassen, ohne ihm jedoch echte politische
Entscheidungsmacht zu geben. Das Ergebnis waren hohe Erwartungen, die
die Abgeordneten nicht einhalten konnten; das Parlament erhielt
seinen Ruf als Papiertiger, die enttäuschten Bürger blieben
späteren Europawahlen fern, und als man mit den Vertragsreformen von
Maastricht bis Lissabon endlich die Kompetenzausweitung des
Parlaments nachholte, war der Schaden bereits angerichtet: Bis heute
unterschätzt die Öffentlichkeit in der Regel den Einfluss der direkt gewählten
Volksvertreter auf die Brüsseler Politik, und
daran leidet natürlich auch deren Stand als demokratisch legitimierter
Gesetzgeber.
Wollen wir dasselbe jetzt mit dem
Kommissionspräsidenten wiederholen? (Westerwelle sprach von der
Direktwahl eines „europäischen Präsidenten“, womit aber wohl
derjenige des wichtigsten Exekutivorgans gemeint sein wird.) Die Kommission
hat schon heute einigen Einfluss in der Europapolitik – doch anders
als die US-Regierung, die vollständig dem Präsidenten untergeordnet
ist, ist sie ein Kollegialorgan, in dem Entscheidungen von
allen Mitgliedern gemeinsam getroffen werden. Ihr Präsident
besitzt dabei lediglich eine Richtlinienkompetenz. Nicht einmal seine „Minister“ kann er sich selbst
aussuchen: Vielmehr wird der Rest der Kommission auf Vorschlag des
Europäischen Rats ernannt, wobei in der Praxis jede nationale Regierung einen Kommissar nominiert – und sich oft
recht wenig darum schert,
was der Präsident davon hält.
Unter
diesen Umständen aber ist die Einführung eines direkt gewählten
Präsidenten sinnlos. Um ihm das Betätigungsfeld zu schaffen, das
er bräuchte, müsste man das politische System der Europäischen
Union fast vollständig umbauen. Man müsste die Kommission zu einem streng
hierarchischen Organ machen und Kommission, Parlament und Rat
institutionell entflechten. Etablierte Formen der Konsensfindung wie
das Komitologieverfahren würden unbrauchbar. Kurz, man müsste
Jahrzehnte der europäischen Verfassungsentwicklung umkehren – oder man hätte
nichts gewonnen als einen politischen weißen Elefanten: ein Amt mit
einem Überschuss an demokratischer Legitimität, aber viel zu wenig
Handlungsspielraum, um den damit verbundenen Erwartungen gerecht zu
werden.
Europaparlament und europäische
Parteien
Doch
die Direktwahl des Präsidenten ist nicht nur unangebracht, sie ist
auch vollkommen unnötig. Denn gerade bei der Besetzung der
Kommission fand in den letzten Jahren eine starke Entwicklung
hin zu mehr Demokratie statt – eine Entwicklung, die zur Europawahl
2014 ihre Früchte zeigen könnte. Dann nämlich wollen die europäischen Parteien erstmals die Möglichkeit nutzen, vor der
Wahl Kandidaten für das Amt zu benennen. Sie würden damit den Europäischen Rat unter Zugzwang zu setzen, der dem EU-Vertrag zufolge bei der Nominierung des Kommissionspräsidenten die Ergebnisse der Europawahl „berücksichtigen“ muss. Wenn aber die Spitzenkandidaten der Parteien schon vor der Wahl feststehen, erhalten die Bürger die Möglichkeit,
bei mit ihrer Wahlentscheidung selbst den
Kommissionspräsidenten zu bestimmen – genau wie auch über den
deutschen Bundeskanzler faktisch bei
den Bundestagswahlen entschieden wird.
Gewiss,
dieses Verfahren hat noch seine Tücken. Da die Europawahlen national
fragmentiert sind, werden die Spitzenkandidaten der europäischen
Parteien nur in jeweils einem der 28 Mitgliedstaaten auch wirklich
auf dem Wahlzettel stehen. Transnationale Listen wären hier die
Lösung, die leider zuletzt wieder weiter in die Ferne gerückt ist.
Doch auch so liegt in den Plänen der europäischen Parteien ein
enormes Potenzial. Die Spitzenkandidaten können den Europawahlen
eine höhere öffentliche Aufmerksamkeit (und damit Wahlbeteiligung)
verschaffen, während umgekehrt die Wahlen dem Kommissionspräsidenten
eine bessere demokratische Legitimität bieten werden. Die SPE
jedenfalls hat bereits ein Auswahlverfahren für ihren Spitzenkandidaten 2014 entwickelt, und auch die EVP wird wohl noch nachziehen.
Das Europäische Parlament ist also dabei, die Europawahlen mit neuem
Sinn zu füllen und die Nominierung des Kommissionspräsidenten mit
einer Intensivierung der parteipolitischen Debatte zu verbinden. Die
Einführung einer Direktwahl jedoch würde diese Bemühungen zunichte
machen – und anstelle der europäischen Parteien die Konkurrenz von
Einzelpersonen in den Vordergrund stellen.
Alternativplan aus der Kommission
Es ist
daher nicht allzu verwunderlich, dass zu Guido Westerwelles Treffen
heute keine Vertreter des Europäischen Parlaments geladen sind;
schließlich läuft sein Plan unmittelbar auf eine Schwächung der
Abgeordneten hinaus. Doch bemerkenswerterweise wird auch die
Europäische Kommission nicht dabei sein, wenn in Berlin über die
künftige europäische Verfassung gesprochen wird. Interessiert es
die Außenminister denn nicht, was die Kommissionsmitglieder selbst
zu der Idee einer Direktwahl ihres Präsidenten sagen?
Eine
von ihnen jedenfalls ist in den letzten Tagen vorgeprescht: Viviane
Reding (CSV/EVP), die für Justiz, Grundrechte und Unionsbürgerschaft
zuständige Vizepräsidentin der Kommission, hat einen eigenen Fünf-Punkte-Plan vorgelegt, wie sich
die EU bis zum Jahr 2020 institutionell entwickeln sollte. Auch dieser Entwurf enthält einige leere Rhetorik; so soll 2013
das „Europäische Jahr der Bürgerinnen und Bürger“ werden, und
man fragt sich unwillkürlich, wem denn dann wohl all die bisherigen Jahre
gehört haben. Doch an den wesentlichen Stellen ist der Vorschlag außerordentlich
konkret: Reding ist dafür, dass die Kommission samt ihrem
Präsidenten künftig ausschließlich vom Europäischen Parlament
gewählt wird. Außerdem will sie das Parlament durch ein
Initiativrecht als Gesetzgeber stärken. Umgekehrt würde der
Kommissionspräsident die Möglichkeit erhalten, das Parlament
aufzulösen und Neuwahlen auszurufen.
Auch
über den Reding-Plan wird in den nächsten Wochen und Monaten noch
zu diskutieren sein. Doch schon jetzt ist klar, dass er der
europäischen Demokratie sehr viel zuträglicher sein würde als die
vagen Vorschläge aus dem Auswärtigen Amt in Berlin. Die Vorstellung, in Europa ein Präsidialsystem nach US-amerikanischem
Vorbild aufzubauen, ist unrealistisch. Will man die EU heute
demokratisieren, so muss man einem anderen Weg folgen: nämlich dem der Parlamentarisierung und
der Stärkung der Parteien auf europäischer Ebene.
Bild: Janwikifoto [GFDL or CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons.
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