Am vergangenen
Donnerstag hat das Europäische Parlament überraschend beschlossen,
die für den 14. März geplante Plenardebatte zum Duff-Bericht über
die Reform des Europawahlrechts von der Tagesordnung zu
setzen. Damit ist nun unklar, ob überhaupt noch in dieser
Legislaturperiode über den darin enthaltenen Vorschlag entschieden
wird, das Parlament um 25 Abgeordnete zu erweitern, die auf
gesamteuropäischen Listen gewählt werden sollen. Doch die Idee ist
in der Welt und wird früher oder später auf die europäische Agenda
zurückkehren. Was ist davon zu halten? Teil 2 einer Serie (zu Teil 1).
Nationale
Sitzkontingente und degressive Proportionalität
Zu den größten
Ärgernissen des heutigen Europawahlsystems, bei dem nach
Mitgliedstaaten getrennte Wahlen über jeweils nationale Kontingente
der Parlamentssitze stattfinden, gehört das Prinzip der „degressiven
Proportionalität“. Dieses besagt, dass bevölkerungsreichere
Staaten zwar in absoluten Zahlen mehr, im Verhältnis zu ihrer
Einwohnerzahl jedoch weniger Abgeordnete stellen dürfen als
bevölkerungsärmere. Nach den derzeitigen Regelungen kommt deshalb
Deutschland mit etwas über 80 Millionen Einwohnern auf 96, Malta mit
etwas unter 70.000 Einwohnern auf 6 Sitze; etwa im Mittel liegt
Rumänien mit 21,5 Millionen Einwohnern und 33 Sitzen.
Durch
diese Regelung versucht man, den extremen Größenunterschieden
zwischen den EU-Mitgliedstaaten gerecht zu werden. Würden die
Parlamentsmandate jeweils im direkten Verhältnis zur Einwohnerzahl auf nationale Kontingente aufgeteilt, so kämen die kleinsten Länder (Malta, Luxemburg, Zypern) nicht
einmal auf einen ganzen der derzeit 751 Sitze. Alternativ müsste man, wenn man die Sitzzahl der kleinen Länder beibehalten wollte, das Parlament
auf mehrere tausend Abgeordnete erweitern. Beide Optionen funktionieren offensichtlich nicht. Schon bei der Gründung des Parlaments
entschied man sich deshalb für das Prinzip der degressiven Proportionalität – auch wenn das hieß, den Grundsatz der
Erfolgsgleichheit aller Stimmen aufzugeben.
Für eine Volksvertretung ist das zwar ungewöhnlich, aber nicht ganz einmalig; das System der spanischen Kongresswahlen etwa basiert auf einem ähnlichen Mechanismus. Und wenn man statt der nationalen Herkunft der Europaabgeordneten die parteipolitische Zusammensetzung des Parlaments betrachtet, dann bleibt die degressive Proportionalität in der Praxis sogar weitgehend folgenlos: Die Größe der Fraktionen stimmt im Verhältnis fast genau mit den europaweit für sie abgegebenen Stimmen überein. Dennoch ist die fehlende Wahlgleichheit aber natürlich ein dauerhaftes Problem für die demokratische Legitimation des Europäischen Parlaments – was gerade von Europaskeptikern immer wieder hervorgehoben wird, wenn es darum geht, den Europaabgeordneten einen größeren Einfluss auf die EU-Politik zu verweigern.
Weitere
Widersinnigkeiten des heutigen Wahlsystems
Die degressive Proportionalität ist jedoch nicht das einzige Ärgernis, das durch die Aufteilung der Europawahlen in 27 nationale Einzelwahlen entsteht. Ein weiteres Problem ist die Verzerrung, die sich durch die unterschiedlich hohe Wahlbeteiligung in den verschiedenen Mitgliedstaaten ergibt: Da die Sitzkontingente pro Land fest sind, zählen die Stimmen, die in Staaten mit hoher Wahlbeteiligung abgegeben werden, weniger als die Stimmen in Ländern, wo nur wenige Wähler an die Urnen gingen.
Und schließlich führt die trotz der degressiven Proportionalität sehr geringe Abgeordnetenzahl der kleinen Länder dazu, dass dort die kleineren und mittelgroßen Parteien kaum eine Chance haben, überhaupt ein Mandat zu erringen. So kam etwa die maltesische grüne Partei Alternattiva Demokratika (AD/EGP) bei der Europawahl 2004 auf fast 10 Prozent der Stimmen, was bei damals fünf maltesischen Abgeordneten jedoch nicht für einen Sitz genügte: Rund ein Zehntel der maltesischen Wähler musste also mit ansehen, wie ihre Stimme nutzlos verfiel. Bei der Europawahl 2009 hatten die Malteser daraus gelernt und konzentrierten ihre Stimmen auf die beiden einzigen aussichtsreichen Parteien, die Partit Laburista (PL/SPE) und die Partit Nazzjonalista (PN/EVP). Der Stimmenanteil der AD sackte auf 2,4 Prozent ab. In Luxemburg und Slowenien, wo die Wähler weniger strategisch vorgingen, verfiel bei den Europawahlen 2009 hingegen etwa jede siebte abgegebene Stimme, in Litauen beinahe jede fünfte, in Lettland fast jede vierte.
Der
Duff-Plan: Schritt in die richtige Richtung
Die
Einführung transnationaler Listen, wie sie der Duff-Bericht
vorsieht, würde all diesen Problemen abhelfen. Die degressive
Proportionalität würde für sie nicht mehr gelten, stattdessen
hätte europaweit jede Stimme denselben Erfolgswert, gleichgültig ob
sie in Deutschland oder in Luxemburg abgegeben wird. Die Malteser
Grünen-Wähler müssten nicht mehr erleben, dass ihre Stimme
wirkungslos bleibt; denn selbst wenn es für einen maltesischen
Grünen-Abgeordneten nicht reicht, könnten sie damit doch immerhin
die europäischen
Grünen unterstützen. Und auch die unterschiedlich hohe
Wahlbeteiligung in den verschiedenen Teilen Europas würde bei
gemeinsamen europäischen Listen nicht mehr zu
Verzerrungen führen.
Natürlich
sollen dem Duff-Plan zufolge nur 25 Abgeordnete nach den
transnationalen Listen gewählt werden. Da für die übrigen 751
weiterhin das Prinzip nationaler Sitzkontingente gelten würde, wären
die damit verbundenen Probleme also nicht endgültig behoben.
Immerhin aber wäre es ein Schritt in die richtige Richtung, die
Einführung eines neuen Systems, das sich in Zukunft noch ausweiten
ließe – und für die europäische Parteien eine Gelegenheit, um
Prozeduren einzuüben, wie man sich staatenübergreifend auf
gemeinsame Listen einigen kann.
Geografische Ausgewogenheit wird Aufgabe der Europaparteien
Denn
wenn das strenge Korsett der nationalen Sitzkontingente entfällt,
stünde natürlich jede politische Gruppierung vor der Frage, für
wie viel geografische Vielfalt sie auf ihrer Liste sorgen will. Der
Duff-Bericht sieht vor, dass sich auf jeder Liste Kandidaten aus
mindestens einem Drittel der Mitgliedstaaten finden müssten. Das
ließe den Parteien jedoch noch einigen Entscheidungsspielraum: Lohnt
es sich, vor allem Kandidaten aufzustellen, die in den großen
Mitgliedstaaten bekannt sind, wo es viele Stimmen zu holen gibt? Oder
sollte die Liste Politiker aus möglichst vielen verschiedenen
Ländern umfassen, um in allen Teilen Europas Wähler anzusprechen?
Bei
der Herkunft der Kandidaten eine sinnvolle Balance zwischen den
verschiedenen Ländern zu finden, würde so zu einer Aufgabe der
europäischen Parteien – und damit zu einer politischen Entscheidung,
für die sie sich vor ihrer (gesamteuropäischen) Wählerschaft zu
rechtfertigen hätten. Wir kennen das aus Deutschland, wo die CSU bei
der Zusammensetzung ihrer Wahllisten grundsätzlich auf eine
angemessene Verteilung zwischen altbayrischen, fränkischen und
schwäbischen Kandidaten achtet und wo kein Bundeskabinett
mit SPD-Beteiligung denkbar ist, in dem nicht mindestens ein nordrhein-westfälischer,
ein niedersächsischer und ein hessischer
Minister vertreten wäre.
Doch
dieser Regionalproporz ist in Deutschland nur noch ein von vielen
belächelter Bestandteil der politischen Folklore, der für die parteiinternen Machtspiele zwar wichtig sein mag, den Bürgern selbst aber eher gleichgültig ist. Und auch auf
EU-Ebene würde nach der Einführung transnationaler Wahllisten die
Herkunft der Abgeordneten wohl eine immer kleinere Rolle spielen, da
immer mehr Wählern bewusst würde, dass im Europäischen Parlament
nicht nach Staaten, sondern nach Fraktionen abgestimmt wird. Mit dem
Wahlsystem würde sich auch die Wahrnehmung der Wahlen verändern –
aber dazu das nächste Mal mehr.
Der Duff-Bericht – Überblick:
Teil 1: Auf zu einem neuen Europawahlrecht
Update: Abstimmung verschoben
Teil 2: Warum transnationale Listen?
Teil 3: Für mehr europäische Öffentlichkeit
Teil 4: Was spricht eigentlich gegen die Wahlrechtsreform?
Der Duff-Bericht – Überblick:
Teil 1: Auf zu einem neuen Europawahlrecht
Update: Abstimmung verschoben
Teil 2: Warum transnationale Listen?
Teil 3: Für mehr europäische Öffentlichkeit
Teil 4: Was spricht eigentlich gegen die Wahlrechtsreform?
Bild: By Deutsche Bundespost (scanned by NobbiP) [see page for license], via Wikimedia Commons.
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