- Manfred Weber hat gute Chancen, Spitzenkandidat der EVP zu werden. Aber hätte er auch eine Mehrheit im Parlament?
Das
Rennen ist eröffnet: Ab dem morgigen Donnerstag können sich
Mitglieder der Europäischen Volkspartei offiziell
bewerben, um am 8. November auf dem Parteikongress in Helsinki
zum EVP-Spitzenkandidaten für die kommende Europawahl nominiert zu
werden. Auch der erste Interessent für diese Rolle steht bereits
fest: Manfred Weber (CSU/EVP), derzeit Fraktionschef im Europäischen
Parlament, sicherte sich in der vergangenen Woche die
Unterstützung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP).
Er gilt damit derzeit
vielen als der Favorit, um nach der Europawahl 2019 die Nachfolge
von Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) als Präsident der Europäischen
Kommission anzutreten.
Webers
Machtbasis ist der Orbán-Flügel der EVP
Doch
Webers starke Startposition gründet sich nicht allein auf die
Unterstützung Angela Merkels, die ohnehin nicht allzu enthusiastisch
ausfiel. Seine eigentliche Machtbasis ist die Fraktion im
Europäischen Parlament – und dort speziell der rechte Flügel, der
den
ungarischen Regierungschef Viktor Orbán (Fidesz/EVP) als politisches
Vorbild für die Europäische Union sieht. Zusammen mit dem
EVP-Parteivorsitzenden Joseph Daul (LR/EVP) blockte
Weber bislang jeden Versuch, Orbáns zunehmend autoritäre Partei
aus der EVP auszuschließen, und verteidigte sowohl die
ungarische Flüchtlingspolitik als auch Orbáns Äußerung, die
Zeit der liberalen Demokratie sei vorüber. Auch dass Weber
regelmäßig
die christliche Identität Europas betont und die Position
vertritt, der
Islam habe „keinen Beitrag zu unseren Werten geleistet“,
sieht man im Orbán-Lager gern.
Wenn
es Weber im November tatsächlich gelingt, sich die
EVP-Spitzenkandidatur zu sichern, so wird er dies also wesentlich dem
rechten Flügel der Partei zu verdanken haben, zu dem neben Orbán
unter anderem auch der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz
(ÖVP/EVP), der französische Parteichef Laurent Wauquiez (LR/EVP)
und der neue spanische Parteichef Pablo Casado (PP/EVP) zählen. Auf
Gegenwehr dürfte seine Kandidatur hingegen beim gemäßigt-liberalen
Flügel stoßen, der vor allem EVP-Politiker aus den nordischen und
den Benelux-Ländern umfasst.
Ein politisches Dilemma für Sozialdemokraten und Liberale
Es
ist deshalb durchaus möglich, dass sich im November noch ein
gemäßigter Gegenkandidat gegen Weber durchsetzt. Dies könnte etwa
Michel Barnier (LR/EVP) sein, Teil der alten Garde der EVP und
derzeit Chefverhandler der EU in den Brexit-Gesprächen, der die
Frage seiner Kandidatur jüngst explizit offen hielt. Allerdings
spielt die Zeit gerade gegen Barnier, da sich die
Brexit-Verhandlungen länger hinziehen als erwartet. Das könnte
die Tür für den früheren finnischen Ministerpräsidenten Alexander
Stubb (Kok./EVP) öffnen, der für einen zentristisch-liberalen und
explizit pro-europäischen Kurs steht und zudem wie Weber einer
jüngeren Generation angehört. (Aktuelle Übersichten über weitere mögliche Spitzenkandidaten bieten Politico und Jon
Worth.)
Doch
die kombinierte Unterstützung der Merkel-CDU und des rechten Flügels
gibt Manfred Weber jedenfalls eine gute Ausgangslage für den
EVP-Parteikongress. Ihn zu schlagen wird keinem anderen Bewerber
leicht fallen. Und damit stehen auch die übrigen europäischen
Parteien, vor allem Sozialdemokraten und Liberale, vor einem
politischen Dilemma: Würden sie einen Kandidaten von Viktor Orbáns
Gnaden für das Amt des Kommissionspräsidenten unterstützen, wenn –
wie
zu erwarten ist – die Europäische Volkspartei bei der
Europawahl 2019 wieder die stärkste Fraktion wird?
Die
Herkunft des Spitzenkandidaten-Verfahrens
Um
dieses Dilemma zu verstehen, muss man an die Entstehung des
Spitzenkandidaten-Verfahrens vor fünf Jahren zurückdenken. Bis 2009
waren die Präsidenten der Europäischen Kommission stets von den
nationalen Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat
ausgewählt und dann vom Europäischen Parlament lediglich abgenickt
worden – ein intransparentes
und wenig demokratisches Verfahren, das zur Ernennung von
schwachen und uncharismatischen Präsidenten wie Romano Prodi
(Dem./ELDR) oder José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP) geführt
hatte.
Das
Spitzenkandidaten-Prinzip revolutionierte dieses Verfahren: 2014
nominierten die europäischen Parteien erstmals schon vor der
Europawahl ihre Bewerber für die Kommissionspräsidentschaft und
nahmen so dem Europäischen Rat das Heft aus der Hand. Um
sich gegen
den erwartbaren Widerstand der Staats- und Regierungschefs
durchzusetzen, mussten die großen europäischen Parteien sich
jedoch zu einem Pakt zusammenschließen. In einer gemeinsamen
Erklärung kündigten die drei größten Fraktionen (die
EVP, die
sozialdemokratische S&D und
die liberale ALDE)
vor der Europawahl 2014 an, dass sie im Europäischen Parlament
niemanden zum Kommissionspräsidenten wählen würden, der nicht
zuvor als Spitzenkandidat angetreten war. Der Kandidat der stärksten
Fraktion sollte dabei „als Erster versuchen, die nötige Mehrheit
[im Europäischen Parlament] zu bilden“.
Juncker
siegte – als „Kandidat der stärksten Fraktion“
Der
Ausgang von damals ist bekannt: Bei der Europawahl 2014 gewann
die Europäische
Volkspartei die meisten Sitze, woraufhin sich auch
die übrigen europäischen Parteien schnell
hinter dem EVP-Kandidaten Jean-Claude Juncker versammelten. Die
Staats- und Regierungschefs sträubten
sich zwar noch kurz, akzeptierten aber letztlich das Ergebnis, als sich auch Angela Merkel,
von der deutschen
Öffentlichkeit unter Druck gesetzt, hinter Juncker stellte.
Am
15. Juli 2014 wurde er zum
Kommissionspräsidenten gewählt. Das
Spitzenkandidaten-Verfahren hatte sich durchgesetzt.
Vor
allem aber setzte sich mit Junckers Erfolg auch eine bestimmte
Interpretation
dieses Verfahrens durch: nämlich
dass das Amt des Kommissionspräsidenten stets an den Kandidaten der
stärksten Fraktion gehen müsse. Schließlich
war das das Kriterium gewesen, das die drei Fraktionschefs in der
gemeinsamen Erklärung vor der Wahl formuliert hatten, und auch das
Argument, mit dem Junckers sozialdemokratischer Gegenkandidat Martin
Schulz (SPD/SPE) nach
der Wahl seine Unterstützung für Juncker erklärte.
„Demokratische
Anomalie“
Doch
ist diese Lesart wirklich zwingend? Fünf
Jahre später löst die
Aussicht auf einen möglichen Kommissionspräsidenten Weber bei
Sozialdemokraten, Liberalen und
Grünen jedenfalls starke
Ablehnung aus. Der liberale
Fraktionschef Guy Verhofstadt (Open-VLD/ALDE), der Anfang 2017 noch
eine
Art Koalitionsvertrag mit Weber unterzeichnet hatte, griff im
vergangenen April scharf
dessen Forderung nach einer europäischen Leitkultur an. Die
europapolitische Sprecherin der deutschen Grünen (EGP), Franziska Brantner, erklärte
gestern auf Twitter, ihre Partei wolle „einen progressiven
Kommissionspräsidenten“ und
werde
sicherlich nicht den Chef
einer Fraktion mitwählen,
„die immer noch Orbán willkommen heißt“.
Christophe
Castaner, Vorsitzender der französischen Regierungspartei LREM,
nutzte die Gelegenheit wiederum,
um gegen
das Spitzenkandidaten-Verfahren an
sich zu polemisieren:
Dass die stärkste Partei
auch ohne eine absolute Mehrheit grundsätzlich den
Kommissionspräsidenten stellen solle, sei eine „demokratische
Anomalie“. Und der
Sozialdemokrat Jo Leinen (SPD/SPE) hob hervor, die
Kommissionspräsidentschaft
gehe eben nicht unbedingt an
den Kandidaten der stärksten Fraktion, sondern an den,
der
„eine Mehrheit der Europaabgeordneten“ hinter sich vereine. Es
gebe deshalb „keinen
Automatismus“ zugunsten der
EVP. „Andere
Mehrheiten“ seien „möglich
und wahrscheinlich“.
Kein
Automatismus zugunsten der stärksten Fraktion …
Und
natürlich haben die Weber-Gegner im Grundsatz Recht: Eine
Regel, nach der der Kandidat
der stärksten Fraktion zwingend Kommissionspräsident würde, ist
weder rechtlich noch demokratietheoretisch zu begründen. In
einem parlamentarischen Regierungssystem braucht die Regierung eine
Mehrheit im Parlament, und wenn keine Partei diese allein gewinnt,
werden eben Koalitionen (oder Vereinbarungen zur Tolerierung einer
Minderheitsregierung) geschlossen.
Dass
dabei die größte Partei als Erste den Versuch macht, eine Regierung
zu bilden, ist bestenfalls politische Konvention, aber
kein Automatismus. Aktuell
befindet sich in acht der 28 EU-Mitgliedstaaten – Dänemark,
Estland, Lettland, Litauen,
Luxemburg, Portugal, Slowenien und
Spanien – die größte Partei im nationalen Parlament in der
Opposition.
… aber
gibt es ohne die EVP eine Mehrheit?
In
der Praxis dürften die von Jo Leinen vorausgesagten „anderen
Mehrheiten“ nach der Europawahl 2019 jedoch nur schwierig zu
erreichen sein. Das beginnt schon mit der reinen Sitze-Arithmetik:
Nach den aktuellen
Umfragen kommen die Parteien links der EVP bei der Europawahl
2019 allenfalls auf eine hauchdünne Mehrheit – und
auch das
nur,
wenn sich
alle Abgeordneten von der Linksfraktion GUE/NGL bis zur liberalen
ALDE hinter einem gemeinsamen Kandidaten versammeln. Mehr
noch: Ein solches Anti-Weber-Bündnis müsste zwingend auch die
französische LREM umfassen, die das
Spitzenkandidaten-Prinzip rundheraus ablehnt.
Und
selbst wenn die
Mitte-links-Parteien bis zur Wahl noch zulegen, sodass eine Mehrheit
ohne die EVP nicht mehr ganz so schwierig zu bilden wäre, spricht
auch die zeitliche Dynamik gegen einen solchen Versuch. Ein
entscheidender Faktor, durch den sich Jean-Claude Juncker 2014 gegen
die Widerstände der
nationalen Regierungen durchsetzen
konnte, war die öffentliche
Erwartungshaltung: Ehe der
Europäische Rat irgendeinen
Alternativnamen ins Gespräch bringen konnten, hatte sich das Europäische
Parlament schon längst hinter ihm versammelt. Den
Staats- und Regierungschefs blieb deshalb nur, seine Ernennung zu
akzeptieren oder eine institutionelle Krise vom Zaun zu brechen.
Streit
im Parlament brächte den Europäischen Rat zurück ins Spiel
Sollten
die Sozialdemokraten 2019 wirklich versuchen, eine Mehrheit ohne die
EVP zu bilden, so würde das mit
Sicherheit einige Wochen
dauern,
und man darf damit rechnen, dass die EVP in dieser Zeit ihr
Möglichstes täte, um diese Versuche ihrer Gegner in der
Öffentlichkeit zu diskreditieren. Die Frage, wer der nächste
Kommissionspräsident wird, wäre deshalb
zunächst völlig offen. Und das wiederum würde die
nationalen Staats-
und Regierungschefs wieder
ins Spiel bringen: Auf seinem
Treffen am 20./21. Juni 2019,
einen knappen Monat nach der Wahl, hätte
der Europäische
Rat die Gelegenheit, einen
ganz neuen, eigenen Kandidaten
zu präsentieren.
Tatsächlich
scheint es nicht abwegig, dass sich die deutsche Bundeskanzlerin
Angela Merkel wenigstens im Hinterkopf bereits auf ein solches
Szenario eingestellt hat. Immerhin
hatten Berliner
Regierungskreise kurz vor Merkels
Unterstützungserklärung für
Manfred Weber auch noch zwei weitere
mögliche Namen für die Kommissionspräsidentschaft lanciert:
Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU/EVP) und
Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU/EVP).
Beide
hätten wohl kaum eine Chance und auch kein Interesse, auf
dem EVP-Parteikongress zum Spitzenkandidaten
nominiert zu werden.
Sie könnten jedoch gut als
Kompromissvorschlag
dienen, falls Manfred Weber
als Spitzenkandidat
Erfolg hat,
aber
nach der Wahl von Sozialdemokraten und Liberalen im Europäischen
Parlament blockiert wird. Beide
sind wie Weber EVP-Mitglieder aus Deutschland, gehören jedoch dem
gemäßigten Parteiflügel an.
Von der Leyen könnte als
erste weibliche Präsidentin
zudem auch
noch symbolisch
für einen geschlechterpolitischen Fortschritt in der
notorisch
männerdominierten Kommission
stehen.
Ein
Triumph für die Gegner der europäischen Demokratie?
Sollte
der Europäische Rat nach der Europawahl Altmaier oder Von der Leyen
nominieren, ehe das Europäische Parlament sich auf einen anderen
Namen geeinigt hat, so läge der Ball
wieder bei den Europaabgeordneten. Würden sie wirklich eine institutionelle Krise
in Kauf nehmen, ohne selbst eine konkrete Alternative
zu haben? Der Druck, sich auf den
Kompromissvorschlag
des Europäischen Rates einzulassen, wäre hoch.
Doch
wenn es dazu käme, könnten
die Gegner einer europäischen
Parteiendemokratie einen
Triumph feiern: Das
Spitzenkandidaten-Verfahren wäre schon
beim zweiten Versuch
gescheitert, und
vor den Augen der
Öffentlichkeit hätten statt
der europäischen Parteien nur
die nationalen Staats- und
Regierungschefs ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Paradoxerweise könnte sich auch in diesem Fall Viktor Orbán als Sieger fühlen, der das Spitzenkandidaten-Verfahren seit jeher abgelehnt hat und 2014 neben dem britischen Premierminister David Cameron (Cons./AKRE) als Einziger im Europäischen Rat gegen Juncker stimmte.
Bis zur Europawahl kann noch viel geschehen
Als
eine Gruppe europäischer
Staats- und Regierungschefs Anfang dieses Jahres öffentlich ihre
Ablehnung gegen des
Spitzenkandidaten-Verfahren
erklärte, beschrieb ich
das auf diesem Blog als
ein sinnloses Rückzugsgefecht: Am
Ende würde das Europäische
Parlament wie schon 2014 auch diesmal strukturell
am längeren Hebel sitzen. Der
Rechtsruck der EVP und die Spaltungen zwischen den großen europäischen Parteien lassen
diese Prognose nun etwas zweifelhafter erscheinen.
Doch
bis zur Europawahl kann natürlich noch viel geschehen. Einstweilen lohnt es sich, den 8. November im Kalender zu markieren: Der Parteikongress in Helsinki könnte zur wichtigsten Richtungsentscheidung werden, die die Europäische Volkspartei jemals getroffen hat.
Bild: European People's Party [CC BY 2.0], via Flickr.
"Aktuell befindet sich in sieben der 28 EU-Mitgliedstaaten – Dänemark, Estland, Lettland, Litauen, Luxemburg, Slowenien und Spanien – die größte Partei im nationalen Parlament in der Opposition."
AntwortenLöschenAlso in Portugal.
Stimmt, danke für den Hinweis! Ich habe das im Text korrigiert.
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