Die Werte, auf die
sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde,
Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit […]. Diese
Werte sind allen Mitgliedstaaten […] gemeinsam […].
Jetzt also Rumänien.
Fast hatten wir uns schon daran gewöhnt, dass mit Ungarn ein
europäisches Land dabei ist, in den Autoritarismus abzugleiten, ohne
dass die Europäische Union viel dagegen tun kann. Nun aber
beobachten wir zum zweiten Mal innerhalb von zwölf Monaten, wie ein
Mitgliedstaat in eine Verfassungskrise taumelt. Und als ob wir an der Euro-Krise nicht schon genug hätten, stehen die Europäer wieder vor der Frage, welche Mittel sie eigentlich in der Hand
haben, um Rechtsstaatlichkeit und demokratische Prinzipien in der
gesamten Union zu sichern.
Eine Cohabitation
Zu den Hintergründen:
Das politische System Rumäniens ist ungefähr dem französischen
nachempfunden. Ein direkt gewählter Präsident teilt sich die
exekutive Macht mit einer Regierung, die das Vertrauen des Parlaments
benötigt. Anfang Mai dieses Jahres nun kam es zu dem, was man in
Frankreich als Cohabitation
bezeichnet: Die dem Präsidenten Trajan Băsescu nahestehende
konservative Partei PD-L (EVP) musste in die Opposition, während
ihre Konkurrenten PSD (SPE) und PNL (ELDR) eine Regierung unter dem
sozialdemokratischen Premierminister Victor Ponta bildeten.
Schon aus Frankreich weiß
man, dass eine solche Cohabitation häufig
zu politischen Blockaden führt. In Rumänien kamen dazu persönliche
Animositäten zwischen Präsident und Premier sowie eine traditionell
konflikt- und kabalenreiche politische Kultur. Ende Juni nun
eskalierten die Spannungen, als das rumänische Verfassungsgericht
entschied, dass künftig nicht mehr der Premierminister, sondern (wie
in Frankreich) der Präsident das Land bei den Gipfeltreffen des
Europäischen Rates vertreten sollte. Ponta ignorierte
diese Entscheidung nicht
nur, sondern begann zudem die Absetzung Băsescus zu betreiben.
Amtsenthebungsverfahren
und Verfassungskrise
Der
genaue Verlauf dieses Verfahrens und der damit verbundenen Intrigen ist einigermaßen verwickelt,
deshalb nur das Wichtigste in aller Kürze (eine ausführlichere
Darstellung der Entwicklungen bis letzte Woche lässt
sich zum Beispiel hier
nachlesen):
Nachdem das rumänische Parlament am 4. Juli für die Absetzung
Băsescus stimmte, wurde wie von der Verfassung vorgesehen für den
29. Juli ein Referendum angesetzt, in dem über den Amtsverbleib des
Präsidenten entschieden werden soll. Umfragen sagen dabei eine
Mehrheit gegen Băsescu voraus, wobei jedoch die Wahlberechtigung
unter 50 Prozent bleiben würde, womit das Referendum ungültig und
das Absetzungsverfahren gescheitert wäre. Die Regierung änderte
deshalb kurzerhand das Referendumsgesetz, um das 50-Prozent-Quorum
abzuschaffen. Dies wiederum wurde am 10. Juli vom Verfassungsgericht
als verfassungswidrig zurückgewiesen. So weit, so unschön, aber
doch weitgehend im Rahmen normaler parteipolitischer Aggressionen.
Dann
aber wandte die Regierung einen Trick an, der aus der politischen
eine konstitutionelle Krise machte: Außer auf regulärem Weg
verabschiedete sie die Änderung des Referendumsgesetz auch in Form
einer Notverordnung, die zwar ziemlich offensichtlich ebenfalls
verfassungswidrig war, gegen die jedoch nur der nationale Ombudsmann
eine Verfassungsklage einlegen kann. Dieser wiederum war am 3. Juli
entlassen und durch einen Vertrauten der Ponta-Regierung ersetzt
worden. Außerdem schränkte die Regierung durch ein weiteres
Notdekret die Kompetenzen des Verfassungsgerichts bei der Überprüfung
von Parlamentsentscheidungen ein und drohte recht offen damit, einen
Weg zu finden, um unliebsame Richter auszutauschen. Damit aber ist
nicht nur unklar, was passieren wird, wenn das Referendum wie
erwartet das Quorum verpasst – sondern auch die Unabhängigkeit des
Verfassungsgerichts insgesamt gefährdet.
Kein Ungarn, aber ein Anschlag auf den Rechtsstaat
Nun
sollten keine Zweifel daran aufkommen, dass die Entwicklungen in
Rumänien nicht die Ausmaße der demokratischen Krise in Ungarn
erreichen. In Ungarn wurden durch die neue Verfassung und
insbesondere durch das neue Mediengesetz die Rechte der einzelnen
Bürger, etwa die freie Meinungsäußerung und der Schutz von
Minderheiten, in sehr viel stärkerer und dauerhafterer Weise
eingeschränkt. In Rumänien dagegen handelt es sich zunächst einmal
nur um eine Krise innerhalb des politischen Systems, in der mit
harten Bandagen und schmutzigen Tricks gekämpft wird, die sich aber
nicht unmittelbar auf die einzelnen Bürger auswirkt. In Ungarn geht
es um fundamentale Grundrechte,
in Rumänien nur um das institutionelle Gleichgewicht zwischen den
Verfassungsorganen.
Dennoch
aber kann das Vorgehen der Regierung Ponta der Europäischen Union
nicht egal sein. Es ist nur zu offensichtlich, dass die Notverordnungen
und die Absetzung des Ombudsmanns darauf abzielten, die Kompetenzen des Verfassungsgerichts zu
untergraben, um für die Regierung unliebsame Entscheidungen zu
verhindern. Damit aber werden grundsätzliche rechtsstaatliche
Prinzipien verletzt, die nach Art. 2 EU-Vertrag zu den
Werten der EU gehören.
Der Schengen-Beitritt
als Druckmittel
Als Mittel gegen solche Fälle ist eigentlich Art. 7 EU-Vertrag
vorgesehen. Ihm zufolge kann einem Mitgliedstaat, der eine „schwerwiegende und
anhaltende Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte“ begeht, das
Stimmrecht im Ministerrat entzogen werden. Wie jedoch bereits Ungarn zeigte, läuft diese Bestimmung in der Praxis ins
Leere: Bedingung für eine Sanktion nämlich wäre ein
einstimmiger Beschluss aller übrigen Mitgliedstaaten, und niemand
erwartet ernsthaft, dass es einen solchen geben wird.
Die
Kommission griff deshalb, ebenfalls wie schon im Januar, zu einer
indirekten Methode: Während sie damals die ungarische Regierung bei
ihrer finanziellen Abhängigkeit von europäischen Finanzhilfen zu
packen versuchte, ist es im rumänischen Fall der Wunsch der
Regierung nach einem Beitritt zum Schengen-Raum. Dieser war
ursprünglich für 2011 vorgesehen, scheiterte seitdem jedoch immer
wieder an einem niederländischen Veto: Aufgrund der hohen Korruption
im Verwaltungssystem könne Rumänien die Sicherung der gemeinsamen
Außengrenzen nicht gewährleisten. Seitdem hängt die rumänische
Hoffnung auf einen Schengen-Beitritt an den regelmäßig von der
Kommission erstellten Fortschrittsberichten über die
Korruptionsbekämpfung. Und da der nächste dieser Berichte in dieser
Woche veröffentlicht werden soll, drohte die Kommission damit, darin auch die jüngsten
Vorfälle zu thematisieren und ein entsprechend schlechtes Zeugnis
auszustellen.
Bei
einem Treffen mit Regierungschef Ponta präsentierte
Kommissionspräsident José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP) diesem
deshalb einen Katalog mit elf recht
unverblümten Forderungen: Insbesondere solle die rumänische
Regierung die Notverordnungen wieder zurücknehmen und den früheren
Ombudsmann wieder einsetzen. Ponta versicherte zunächst, sämtliche dieser Forderungen erfüllen zu wollen,
rückte davon jedoch kurz darauf wieder ab und erklärte, er könne
keine Versprechen in Fragen geben, die nicht in die Verantwortung der
Regierung, sondern des Parlaments fielen. Parlamentspräsident Crin
Antonescu (PNL/ELDR), der bis zu dem geplanten Referendum die
Amtsgeschäfte des suspendierten Băsescu führt, ging sogar noch
einen Schritt weiter: Derartige Forderungen der Kommission könne es
gar nicht geben, da dies eine „unvorstellbare Überschreitung der Kompetenzen von Herrn Barroso“
wäre.
Die Kompetenzen der
Kommission
Und
wirklich stellt sich – wie schon im Falle Ungarns – die Frage, ob
das Vorgehen der Europäischen Kommission wirklich so eine glückliche
Lösung ist. Natürlich besteht zwischen der Korruption, die dem
Schengen-Beitritt im Wege steht, und der Verfassungskrise jetzt ein
etwas engerer Zusammenhang als zwischen den Finanzproblemen und dem
Mediengesetz in Ungarn. Doch in beiden Fällen bleibt es ein
eigentümliches Spiel über Bande, wenn Angriffe nationaler
Regierungen gegen die Grundwerte der EU nur auf so indirekte Weise
beantwortet werden können.
Denn
davon abgesehen, dass dieses Mittel immer voraussetzt, dass die
betroffene Regierung in der ein oder anderen Weise von der Kommission
abhängig ist, ist auch das Argument von Crin Antonescu nicht ganz
falsch. Gewiss, die Ernennung eines regierungstreuen neuen
Ombudsmanns war von sehr zweifelhafter Legitimität.
Aber kann es wirklich die Aufgabe der Kommission sein, der rumänischen Regierung
nun die Wiedereinsetzung seines Vorgängers vorzuschreiben und sich
damit in die nationale Personalpolitik einzumischen? Wenn
Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit nicht als solche geahndet,
sondern nur durch politischen Gegendruck bekämpft werden können,
dann überschreitet leicht auch die Kommission ihre Zuständigkeiten,
und die Grenzen der politischen Verantwortung beginnen zu
verschwimmen.
Es
wäre nützlich, wenn die supranationalen Institutionen der EU auf
Verstöße gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den
Mitgliedstaaten anders reagieren könnten. Am besten wäre es wohl,
Art. 7 EUV so zu verschärfen, dass künftig nicht mehr ein
einstimmiger Beschluss des Rates, sondern ein Urteil des Europäischen
Gerichtshofs genügt, um die „schwerwiegende und anhaltende
Verletzung“ der EU-Grundwerte durch einen Mitgliedstaat
festzustellen. Erst dadurch würde dieser Sanktionsmechanismus Zähne bekommen und die nationale Demokratie der Mitgliedstaaten auch auf europäischer Ebene abgesichert. Sich in so wichtigen Fragen wie dieser auf eine informelle Machtausübung der Kommission zu verlassen, ist hingegen auf die Dauer keine besonders tragfähige Alternative.
Und
was macht die SPE?
Eine
Institution gibt es allerdings, die gut dafür geeignet wäre,
politisch auf nationale Regierungen einzuwirken: die europäischen
politischen Parteien. Anders als die Europäische Kommission haben
sie keine formelle Macht, sodass auch nicht das Risiko einer
Kompetenzüberschreitung besteht. Dennoch stehen ihnen Mittel zur
Verfügung, um politischen Druck auszuüben, denn um europapolitisch
wirken zu können, ist jede nationale Partei auf das Netzwerk
angewiesen, das ihnen nur ihre europäische Dachorganisation bieten
kann.
Ich
habe es hier deshalb wiederholt
kritisiert, dass die
Europäische Volkspartei angesichts der Entwicklungen in Ungarn nicht nur keine klaren Worte gegenüber ihrer Mitgliedspartei Fidesz gefunden, sondern dieser auch noch Rückendeckung gegeben hat. In Rumänien nun
sind die parteipolitischen Vorzeichen umgekehrt, und so fiel es der
EVP diesmal sehr leicht, die Regierung Ponta in gleich zwei scharf
formulierten Pressemitteilungen zu kritisieren und ihr „machthungrige Absichten“ und einen
„galoppierenden Autoritarismus“
vorzuwerfen.
Wie
aber reagierten die europäischen Sozialdemokraten, zu denen Pontas PSD gehört? Kurz gesagt: leider kaum besser als die EVP
gegenüber der Fidesz. Am vergangenen Donnerstag veröffentlichte die
SPE jedenfalls eine Pressemitteilung,
in der sie der rumänischen Regierung ihre „volle Unterstützung“
versicherte, den „Opportunismus“ der EVP angriff und erklärte,
Ponta behebe lediglich die „demokratischen Ungleichgewichte“, die
die frühere konservative Regierung hinterlassen habe. Immerhin gab es gleichzeitig
mit Martin Schulz (SPD/SPE), dem Präsidenten des Europäischen
Parlaments, auch einen prominenten Sozialdemokraten, der die Vorgehensweise
Pontas
kritisierte. Aber dennoch: Es scheint, als ob auch die SPE sich sehr viel
leichter tut, den Splitter im Auge der EVP als den Balken im eigenen
zu sehen.
(Die
europäischen Liberalen, deren Mitgliedspartei PNL ja ebenfalls an
der rumänischen Regierung beteiligt ist, reagierten unterdessen eher
zurückhaltend und baten zunächst einmal in einem Brief
die
Kommission um weitere Informationen. Die Europäische Grüne Partei,
die in Rumänien nicht nennenswert vertreten ist, fand
fast ebenso scharfe Töne
wie die EVP, warnte allerdings auch davor, das Thema zu einer
„Schlammschlacht
zwischen den rechten und linken Parteienfamilien Europas ausarten“
zu lassen.)
Ponta sollte zurücktreten
Vor zwei Wochen übrigens wurden Vorwürfe gegen Victor Ponta erhoben, er habe einen Großteil seiner Dissertation plagiiert. In einem Interview mit El País kündigte er damals an, er werde zurücktreten, wenn sich die gegen ihn erhobenen Vorwürfe bewahrheiten würden. Inzwischen hat die zuständige rumänische Nationale Kommission zur Bescheinigung akademischer Titel, Diplome und Zertifikate die Vorwürfe bestätigt (wurde dann allerdings von der Regierung aufgelöst, bevor sie das Ergebnis der Untersuchung offiziell bekannt geben konnte).
Wenn die europäischen Sozialdemokraten nun einen Ausweg aus der Krise suchen, dann sollten sie am besten damit beginnen, Ponta auf diese Ankündigung hinzuweisen. Und auch Băsescu müsste sich die Frage stellen, ob er die Präsidentschaft noch sinnvoll wird ausüben können, wenn bei dem Referendum tatsächlich eine Mehrheit gegen ihn stimmt und das Amtsenthebungsverfahren lediglich am Quorum scheitert. Es wird wohl eine Weile dauern, bis die institutionellen Wunden, die die derzeitige Verfassungkrise in Rumänien aufgerissen hat, wieder verheilt sind. Auf jeden Fall aber ist es ziemlich offensichtlich, dass weder Trajan Băsescu noch Victor Ponta die richtigen Personen sind, um einen politischen Neuanfang zu machen und den demokratischen Grundkonsens im Land wiederherzustellen. Vermutlich wäre es für Rumänien das Beste, wenn sie beide ihren Rücktritt erklären würden.
Bild: By Julienbzh35 at fr.wikipedia [CC-BY-1.0], from Wikimedia Commons.
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