- Wie war das mit der „Schicksalswahl“? Hier erfahren Sie mehr!
Am
kommenden Dienstag liegt sie genau ein Jahr zurück: die Europawahl 2019, die so
bewegt war wie wenige zuvor. Ein Jahrzehnt voller Krisen und eine zunehmende
Politisierung und Polarisierung der europäischen Integration führte dazu, dass
der Wahl schon im Vorfeld hohe Bedeutung zugeschrieben wurde – als Auseinandersetzung
zwischen einem liberalen, integrationsfreundlichen Kosmopolitismus und einer
anti-supranationalistischen Rechten, als Duell Macron vs. Orbán, ja als „Schicksalswahl“, an der sich die Zukunft
der gesamten europäischen Integration entscheiden würde.
Aber
auch innerhalb des europafreundlichen Lagers der politischen Mitte rumorte es: Bereits
Ende 2016 hatte der sozialdemokratische Fraktionschef im Europäischen
Parlament, Gianni Pittella (PD/SPE), das
„Ende der Großen Koalition“ ausgerufen und eine „gesunde Polarisierung
zwischen Rechts und Links“ gefordert. Im Herbst 2018 zerstritten
sich die Parteien der Mitte dann über das Spitzenkandidaten-Verfahren:
Während die Europäische Volkspartei darauf beharrte, dass der Kandidat der
stärksten Fraktion automatisch Kommissionspräsident werden sollte, insistierten
Sozialdemokraten und Grüne, dass sie nicht jede Personalie mittragen würden. Die
europäischen Liberalen wiederum verwarfen das Spitzenkandidatenprinzip gleich
ganz, solange es nicht auch gesamteuropäische Wahllisten gäbe.
Diese
neue Polarisierung machte sich schließlich auch im Wahlkampf bemerkbar,
der in vielen Ländern engagierter und konfliktreicher ausfiel als in der
Vergangenheit. Gesamteuropäische Themen spielten eine wichtigere Rolle als in der Vergangenheit. Und
es kam, zum ersten Mal überhaupt, zu einem Anstieg der
Wahlbeteiligung: Nachdem seit der ersten Europawahl 1979 ein von Mal zu Mal kleinerer
Anteil der Wahlberechtigten seine Stimme abgegeben hatte, stieg die Beteiligung
nun von 42,6 auf 50,7 Prozent. In absoluten Zahlen nahmen so
viele Menschen an der Europawahl teil wie noch niemals zuvor.
Ein Sammelband zur
Europawahl
Das
Ergebnis
der Wahl brachte dann tatsächlich das „Ende der Großen Koalition“, wenn
auch in anderer Weise als von Gianni Pittella angekündigt: Die konservative EVP
und die sozialdemokratische S&D erreichten – ebenfalls zum ersten Mal in
der europäischen Geschichte – gemeinsam keine absolute Mehrheit mehr, während
Liberale, Grüne und Rechte dazugewannen. Allerdings blieben EVP und S&D die
stärksten Fraktionen, sodass eine Mehrheitsbildung ohne sie auch weiterhin kaum möglich ist.
Die
komplizierteren Mehrheitsverhältnisse wiederum schlugen sich nach der Wahl in
monatelangen Reibereien zwischen den Fraktionen nieder – denen zunächst alle Spitzenkandidaten im
Rennen um die Kommissionspräsidentschaft zum Opfer
fielen, und im
Herbst 2019 noch drei weitere designierte Kommissar:innen. Erst
nach und nach rauften sich die Fraktionen der Mitte wieder zusammen und
einigten sich auf gemeinsame Positionen in wichtigen Fragen, etwa zur Konferenz
über die Zukunft Europas oder zum wirtschaftlichen
Wiederaufbau nach der Corona-Krise.
Die „Schicksalswahl“ 2019, so viel ist heute deutlich, hat für die Europäische
Union nur wenig an Entscheidungen gebracht, aber einiges an Veränderung. Ihre
Facettenvielfalt wissenschaftlich zu analysieren und einzuordnen ist das Ziel
eines Sammelbands, den Michael
Kaeding (Universität Duisburg-Essen), Julia Schmälter (DLR) und ich bei Springer VS herausgegeben haben. In 33 Kapiteln gehen 55 Autor:innen auf verschiedene Einzelaspekte der
Wahl ein, wobei alle Beiträge eine gesamteuropäische oder jedenfalls länderübergreifende
Perspektive einnehmen.
Parteien und
Spitzenkandidaten
Von den sieben Teilen des Buchs ist der erste den europäischen Parteien gewidmet:
Wie erlebten sie die Europawahl, welche Ziele setzten sie sich in ihrem Programm,
wie nominierten sie ihre Kandidat:innen und welche Auswirkungen hatte das
Wahlergebnis auf ihre Position im Europäischen Parlament?
Der
zweite Teil nimmt die Entwicklung der Parteienlandschaft insgesamt in den
Blick: Wie schlagen sich europapolitische Fragen in nationalen Wahlprogrammen
nieder, wie verändern sie die nationalen Parteiensysteme? Und kann man nach
vierzig Jahren Europawahlen endlich auch von einem europäischen Parteiensystem
sprechen?
Der
dritte Teil nimmt das Spitzenkandidaten-Verfahren in den Blick: Wie viel Mühe
gaben sich die europäischen Parteien bei der Nominierung ihrer Spitzenleute,
und wie entfaltete sich die Auseinandersetzung zwischen Parlament und
Europäischem Rat? Und welche Rolle spielten eigentlich die nationalen
Spitzenkandidat:innen und Wahlkreiskönige, die es ja bei aller Europäisierung
ebenfalls noch gibt?
Öffentlichkeit und
Wahlkampf
Der
vierte Teil betrachtet die öffentliche Wahrnehmung der Europawahl: Welche
Akteure, welche Themen standen im Mittelpunkt der medialen Berichterstattung?
Kam es zu der von den EU-Institutionen im Voraus befürchteten
Desinformationskampagne? Wie unterschieden sich die verschiedenen nationalen Europawahl-„Wahlomaten“?
Und wie die zahlreichen Sitzprojektionen
für das Europäische Parlament, von denen es vor dieser Wahl so viele gab wie
nie zuvor?
Im
fünften Teil werden drei konkrete Themen betrachtet, die zu dieser Europawahl
länderübergreifend von Bedeutung waren: Welche Rolle spielten die Migrationsfrage,
die Reform der Eurozone und die europäische Klimapolitik im Wahlkampf, wie
positionierten sich die Parteien dazu, und welche Auswirkungen könnte das
Wahlergebnis auf diese Bereiche haben?
Die Wähler:innen und das
neue Parlament
Im
sechsten Teil geht es um die Wähler:innen und ihr Wahlverhalten selbst. Welche
Erwartungen hatten die Wähler:innen an das neue Parlament? Welche Faktoren
beeinflussten Sie bei der Wahlentscheidung? Und ist die gestiegene
Wahlbeteiligung auch auf den zweiten Blick noch so eindrucksvoll wie auf den
ersten?
Der
siebte Teil schließlich wirft Schlaglichter auf die Zusammensetzung und
Arbeitsweise des neu gewählten Parlaments: Wie steht es um die
Geschlechterverteilung? Wie setzen sich die neu konstituierten Ausschüsse
zusammen? Wie hat sich das Parlament durch den Austritt des Vereinigten
Königreichs verändert? Und was sagt uns Twitter über die Netzwerke im Parlament?
Der Sammelband ist seit heute als E-Book erhältlich, in Kürze auch in der
Druckversion. Für alle, die die Ent- und Verwicklungen der Europawahl 2019 besser
verstehen wollen, die sich in Wissenschaft und Politik damit auseinandersetzen
oder einfach neugierig sind: Hier ist der Link.
Michael Kaeding, Manuel Müller, Julia Schmälter (Hrsg.): Die Europawahl 2019. Ringen um die Zukunft Europas, Wiesbaden (Springer VS) 2020, 444 Seiten, E-Book: 34,99 Euro, kartoniert: 44,99 Euro. Eine Sammlung von sneak previews, in denen Autor:innen des Sammelbands ihre Kapitel in kurzen Videos vorstellen, ist hier zu finden.
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Der Rückblick auf die „Schicksalswahl“ und ihre Folgen ist auch Thema eines Online-Mittagsgesprächs des Instituts für Europäische Politik am kommenden Dienstag, 26. Mai 2020, von 14 bis 15 Uhr. Es diskutieren Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, und Michael Kaeding, Jean-Monnet-Professor an der Universität Duisburg-Essen und Mitherausgeber des Sammelbands. Zur Anmeldung geht es hier.
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