- Sanna Marin wird dem Europäischen Rat wohl nicht mehr allzu lang angehören. Aber ist auch ihre europapolitische Karriere vorbei?
Es war eine spannende Woche in der finnischen Politik: Am Donnerstag, 30. März, ratifizierte die Türkei als letzter noch fehlender Mitgliedstaat den finnischen NATO-Beitritt. Damit kam das wichtigste politische Projekt der Regierung unter Sanna Marin (SDP/SPE) zu einem erfolgreichen Abschluss. Am Sonntag, 2. April, wählte Finnland dann ein neues Parlament – und drei der fünf Regierungsparteien erlitten schwere Verluste. Marins SDP selbst legte zwar zu, landete jedoch hinter der liberalkonservativen Kokoomus („Sammlungspartei“/EVP) und den rechten Perussuomalaiset („Basisfinn:innen“, PS/ID) nur auf dem dritten Platz. Das Land steht damit vor einem Regierungswechsel. Allerdings zeichnen sich schwierige Koalitionsverhandlungen ab.
Die Ausgangslage
Das finnische Parteiensystem zeichnet sich traditionell durch eine starke Konsensorientierung und hohe Flexibilität der Parteien bei der Koalitionsbildung aus. Dabei stellt in aller Regel die stärkste Partei die Regierungschef:in. In den vergangenen Jahrzehnten waren dies stets entweder die SDP, Kokoomus oder die agrarisch-liberale Keskusta („Zentrumspartei“/RE).
Seit der Eurokrise gewannen zudem die PS an Gewicht, die sich mit typisch neu-rechten Positionen profilierten: gegen die Eurorettung, gegen Einwanderung, gegen Corona-Maßnahmen, gegen eine liberale Familienpolitik, gegen ambitionierten Klimaschutz. Eine mit Deutschland vergleichbare „Brandmauer gegen rechts“ gab es dabei nie: Bereits 2015 bildeten Keskusta und Kokoomus eine Koalition mit den PS, die sich allerdings kurz darauf spalteten und weiter radikalisierten. In den folgenden Jahren gelang es ihnen vor allem im ländlichen Raum auf Kosten der Keskusta weiter zu wachsen, bei der Wahl 2019 landeten sie knapp auf dem zweiten Platz.
Sanna Marins Fünf-Parteien-Koalition
Wahlgewinner waren 2019 die Sozialdemokrat:innen, die in einer Fünf-Parteien-Koalition mit der Keskusta, den Vihreät („Grüne“/EGP), der Vasemmistoliitto („Linksbund“/EL) sowie der kleinen Svenska Folkpartiet („Schwedische Volkspartei“, SFP/ALDE) die Regierung übernahmen. Ende 2019 wurde Marin mit 34 Jahren die jüngste finnische Regierungschef:in aller Zeiten.
Die Amtszeit der Mitte-links-Koalition war vor allem von der Covid-19-Pandemie und dem Krieg in der Ukraine geprägt. In beiden Fällen wurde der Regierung weithin erfolgreiches Krisenmanagement bescheinigt. Als junge und charismatische Frau gewann Marin zudem für finnische Politiker:innen ungewöhnlich große internationale Medienaufmerksamkeit. Mit ihrem modernen Kommunikationsstil wurde sie in Umfragen zur beliebtesten Politikerin, brach aber auch mit Konventionen der traditionell auf Zurückhaltung und Nüchternheit ausgerichteten finnischen Politik. Ihre Amtszeit war von mehreren Skandalen wie dem sogenannten „Partygate“ begleitet, die sich allerdings oft an bloßen Kleinigkeiten entzündeten und letztlich zu Sexismus-Vorwürfen gegen ihre bürgerlich-konservativen Kritiker:innen führten.
Einigkeit über den NATO-Beitritt
Im Laufe der Wahlperiode kam es immer wieder zu regierungsinternen Spannungen zwischen der kriselnden Keskusta und den übrigen Koalitionspartnern. 2021 schien dadurch kurzzeitig sogar die finnische Ratifikation des Corona-Wiederaufbauinstruments NextGenerationEU gefährdet. Unkontrovers war hingegen die Antwort auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Das 2022 eingeleitete NATO-Beitrittsverfahren erfolgte mit Unterstützung aller Regierungs- und Oppositionsparteien. Auch die traditionell NATO-skeptischsten Parteien (neben der Linken auch Grüne und PS) trugen den neuen Kurs mit.
Wahlpolitischer Gewinner des NATO-Beitritts war allerdings die liberalkonservative Kokoomus, die sich schon lange für eine Westorientierung und NATO-Annäherung Finnlands eingesetzt hatte. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine stiegen die Umfragewerte der Kokoomus deutlich an, und zu Beginn des Wahlkampfs galt ihr Spitzenkandidat Petteri Orpo als klarer Favorit für das Premierministeramt.
Streit über Wirtschafts- und Finanzpolitik
Im Wahlkampf selbst spielten außen- oder auch europapolitische Themen allerdings so gut wie gar keine Rolle. Im Mittelpunkt stand vielmehr der Umgang mit der – auch infolge der Pandemie – stark gestiegenen Staatsverschuldung. Diskutiert wurde zudem über die inflationsbedingt höheren Lebenshaltungskosten, über die Einführung einer Vier-Tage-Woche und über die Liberalisierung des staatlichen Alkohol- und Wettmonopols. Weitere Themen waren Klimaschutz und Aufforstung, Fachkräftemangel und Einwanderungspolitik sowie die Lage des renommierten finnischen Bildungssystems, das in den PISA-Tests seit einigen Jahren von den Spitzenplätzen ins obere Mittelfeld abgerutscht ist.
Für finnische Verhältnisse verliefen die Debatten ungewöhnlich angespannt. Dass Marin die PS als „offen rassistische Partei“ bezeichnete und eine Koalition mit ihnen kategorisch ausschloss, brach mit der traditionellen Bündnisoffenheit der großen finnischen Parteien. Zudem zeigten Kokoomus und SDP in der Finanz- und Wirtschaftspolitik große inhaltliche Gegensätze. Während Orpo Sozialkürzungen forderte, um das Haushaltsdefizit zu reduzieren, setzte Marin auf mehr Staatseinnahmen durch höheres Wirtschaftswachstum und das Schließen von Steuerschlupflöchern.
Das Wahlergebnis
Im Verlauf des Wahlkampfs schmolz der Vorsprung der Kokoomus vor der SDP. Auch die PS holten weiter auf. Im Ergebnis führte das dreifache Kopf-an-Kopf-Rennen um den ersten Platz zu vermehrtem taktischem Wählen, vor allem zu Lasten von Grünen und Linken. Am Ende konnten alle drei großen Parteien gegenüber der Wahl 2019 dazugewinnen, wobei Kokoomus knapp vor den PS und der SDP landete.
Die Keskusta setzte hingegen ihren Niedergang fort und liegt in ihren ländlichen Hochburgen überall hinter den PS. Unverändert blieb der Sitzanteil der kleinen Parteien, zu denen neben der Svenska Folkpartiet noch die Kristillisdemokraatit („Christdemokrat:innen“, KD/EVP) sowie die kleine liberalpopulistische Liike Nyt („Bewegung Jetzt“/–) zählen.
Koalitionsoptionen
Als Wahlsiegerin wird nun die Kokoomus um Petteri Orpo als Erste eine Koalition zu bilden versuchen. Dabei hielt sich Orpo im Wahlkampf alle Optionen offen und deutete verschiedentlich sogar eine Präferenz für ein Rechtsbündnis mit den PS an. Ein solches Bündnis würde in den Finanz- und Wirtschaftsfragen, die den Wahlkampf dominierten, leicht zu einer gemeinsamen austeritätspolitischen Linie finden, auch wenn die radikalen Forderungen der PS in der Europa- und Einwanderungspolitik für Konflikt sorgen könnten.
Allerdings bedarf es für eine Mehrheit im Parlament weiterer Koalitionspartner, und es ist unklar, welche Parteien dazu bereit sein könnten. Jede Möglichkeit ist mit eigenen Hindernissen verbunden:
- Keskusta: Die Neuauflage der Koalition von 2015 würde einen deutlichen Rechtsruck des Landes bedeuten. Allerdings ist bei der Keskusta der Appetit auf eine neue Regierungsbeteiligung gering: Nach der zweiten schweren Wahlniederlage in Folge würden viele in der Partei lieber in der Opposition das eigene Profil schärfen, statt sich mit einer Rolle als Juniorpartner abzufinden.
- Svenska Folkpartiet: Die Partei der schwedischsprachigen Minderheit ist programmatisch recht flexibel, solange ihre Kerninteressen – der Schutz der schwedischen Sprache und Kultur in Finnland – gewahrt bleiben. In der Vergangenheit diente sie deshalb schon unterschiedlichen Koalitionen als Mehrheitsbeschafferin. Der Nationalpopulismus der PS bedroht allerdings gerade jene Kerninteressen, sodass die Parteispitze die Teilnahme an einer „Regierung, die basisfinnische Politik betreibt“, im Voraus ausgeschlossen hat.
- Kristillisdemokraatit und Liike Nyt: Ein Rechtsbündnis mit den anderen Kleinparteien käme auf genau 100 der 200 Sitze im finnischen Parlament – einer zu wenig für eine Regierungsmehrheit. Der Parteichef und einzige Abgeordnete von Liike Nyt (der erst 2018 aus der Kokoomus austrat) erklärte zudem, für eine Zusammenarbeit nicht zur Verfügung zu stehen.
Mangels Alternativen im rechten Parteienspektrum könnte sich die Kokoomus deshalb letztlich doch für ein Bündnis mit der SDP entscheiden. Die beiden Parteien kämen zusammen mit den Grünen und/oder der SFP auf eine Mehrheit in Parlament; eine ähnliche Koalition gab es bereits von 2011 bis 2014. Allerdings sind die inhaltlichen Differenzen in der Finanz- und Wirtschaftspolitik heute größer als damals. Auch bei dieser Option stünden deshalb schwierige Verhandlungen bevor.
Europapolitische Implikationen
Die allgemeine Zustimmung der finnischen Bevölkerung zur Europäischen Union (EU) stieg 2022 auf ein neues Rekordhoch; in Eurobarometer-Umfragen sehen rund drei Viertel der Bevölkerung die EU-Mitgliedschaft als „etwas Gutes“ an. Anders als die Menschen in vielen anderen Mitgliedstaaten vertrauen die Finn:innen ihrem eigenen nationalen Parlament laut Eurobarometer allerdings mehr als dem Europäischen Parlament. Insgesamt wird die EU stark durch eine außen- und sicherheitspolitische Brille wahrgenommen; im Wahlkampf spielte sie kaum eine Rolle.
Auf die künftige Europapolitik Finnlands könnte der Ausgang der Koalitionsverhandlungen dennoch erhebliche Auswirkungen haben. Insbesondere die PS stehen einer weiteren europäischen Integration stark ablehnend gegenüber. In ihrem Europawahlprogramm 2019 erklärten sie sogar den EU-Austritt Finnlands zum langfristigen Ziel. Angesichts der europafreundlichen Stimmung im Land relativierte Parteichefin Riikka Purra diese Forderung im jüngsten Parlamentswahlkampf zwar etwas, nahm sie aber nicht zurück. Eine verstärkte Integration sei „nicht der richtige Weg für Finnland“, vielmehr solle das Land bei Verhandlungen in der EU mehr auf seine eigenen nationalen Interessen achten. Insbesondere in der Klima- und Migrationspolitik könnte Finnland unter einer Rechtsregierung zu einem schwierigeren Partner in der EU werden.
Koalition der drei integrationsfreundlichsten Parteien?
Eine mögliche Koalition aus Kokoomus, SDP und Grünen würde hingegen die drei integrationsfreundlichsten Parteien des Landes zusammenbringen. Fiskalpolitisch dürfte Finnland zwar weiterhin eher auf der Bremse stehen: Bereits die Marin-Regierung arbeitete eng mit den Frugal Four (Niederlande, Österreich, Schweden und Dänemark) zusammen, die eine Ausweitung des EU-Haushalts ablehnten. Die Kokoomus, die schon für Finnland selbst einen Austeritätskurs anstrebt, sieht transnationale Finanztransfers erst recht skeptisch. Einzig die Grünen sprachen sich vor der Wahl für mehr gemeinsame europäische Schulden aus.
Institutionellen Reformen wie der Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Rat dürfte eine Regierung mit Kokoomus und SDP hingegen offener gegenüberstehen. Auch die gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die Beitrittsperspektive für die Ukraine und andere Länder sowie der Schutz der Rechtsstaatlichkeit in der EU wären weiterhin wichtige Prioritäten für Finnland. Insgesamt wäre von dem frischgebackenen NATO-Mitglied in einer solchen Koalition ein höheres außen- und europapolitisches Engagement zu erwarten.
Und Sanna Marin?
Eine weitere europapolitische Nebenfolge der finnischen Wahl könnte schließlich die Person Sanna Marin betreffen: Schon in den vergangenen Wochen war diese als mögliche Spitzenkandidatin der europäischen Sozialdemokrat:innen für die Europawahl 2024 ins Gespräch gebracht worden.
Sie selbst hat sich zu diesen Spekulationen bisher nicht geäußert. Doch nach den Ergebnissen der finnischen Parlamentswahl – bei der ihre Partei auch dank ihrer persönlichen Popularität an Stimmen dazugewann, sie selbst aber aller Wahrscheinlichkeit nach den Posten als nationale Regierungschefin verlieren wird – wäre sie nun jedenfalls frei, um neue politische Ämter in den Blick zu nehmen.
Dieser Artikel ist in leicht geänderter Form zuerst beim EU-Wahlmonitor des Instituts für Europäische Politik erschienen.
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