- „Statt ein Notfallskript zu entwickeln, ist die Aufgabe, ein ‚normales‘ Regime zu entwerfen, das in der Lage ist, mit extremen Umständen umzugehen.“
Noch niemals waren die Erwartungen an die EU so hoch wie in der volatilen Welt der Gegenwart. Der französische Präsident Emmanuel Macron fordert den Aufbau einer „europäischen Souveränität“, um die europäische Identität zu bewahren, das Schicksal des Kontinents zu gestalten und der Rolle des „bloßen Zeugen bei der dramatischen Entwicklung dieser Welt“ zu entkommen. Visionen von einer selbstbewussteren und autonomeren EU gibt es auch in der Europäischen Kommission. Doch je ehrgeiziger die Ziele sind, desto wichtiger sind die Grundlagen. Verfügt die EU über legitime Institutionen und Herrschaftsgewohnheiten, um diese aktivere Rolle zu unterstützen?
Kritische Bewertungen der EU konzentrieren sich häufig auf ihre Effizienz – verständlicherweise bei einer Organisation, die zum Lösen von Problemen geschaffen wurde. Ob es um wirtschaftspolitische Maßnahmen, das Grenzmanagement, die Impfstoffbeschaffung oder die Außenpolitik geht: Diejenigen, die im Namen der EU handeln, werden nach ihrer Handlungsfähigkeit beurteilt.
Das Modell der Notstandspolitik
Doch das Risiko, etwas nur nach seinen Ergebnissen zu beurteilen, besteht darin, dass man die dazu genutzten Mittel außer Acht lässt. Ein Markenzeichen der EU-Politik des letzten Jahrzehnts war die Bereitschaft der führenden Politiker:innen, sich über rechtliche und politische Beschränkungen hinwegzusetzen, um Dinge zu erreichen. Man sieht, wie Maßnahmen, die über Normen und Regeln hinausgehen, als notwendige Reaktionen auf außergewöhnliche und dringende Bedrohungen rationalisiert werden – das Modell der Notstandspolitik. Manchmal werden dadurch Führungskräfte auf supranationaler Ebene, in den EU-Institutionen oder in Gremien wie der Troika, ermächtigt; manchmal werden staatliche Vertreter:innen in Foren wie der Eurogruppe oder dem Europäischen Rat ermächtigt.
Notmaßnahmen haben ihre Logik und können Ordnung in eine instabile Situation bringen. Aber sie werfen auch verfassungsrechtliche Fragen auf. In solchen Momenten konzentriert sich die Macht immer mehr auf die politischen und technokratischen Exekutivorgane, auf Kosten der Parlamente, Gerichte und der breiten Öffentlichkeit. Sie geht auf Schlüsselfiguren an der Spitze über, die oft informell, undurchsichtig und schnell handeln. Wer genau die Kontrolle hat und welche Kriterien sie bei der Entscheidungsfindung anwenden, ist schwer zu erkennen und anzufechten, während Entscheidungen später nur schwer revidiert werden können.
Zwei strukturelle Merkmale der EU machen sie besonders anfällig für eine solche Ausnahmepolitik. Das erste ist ihre schwache konstitutionelle Struktur. Die Koordinierungsprozesse beruhen eher auf Konventionen als auf kodifizierten Verfahren. Es gibt deshalb nur wenig, was die Exekutivorgane – einzeln oder gemeinsam – davon abhalten könnte, von der üblichen Vorgehensweise abzuweichen. Eine zweite Schwachstelle liegt in der technokratischen Tradition der EU. Für diejenigen, die von einem Problemlösungsethos beseelt sind, ist das Hauptanliegen meist das Erreichen bestimmter Ergebnisse, „whatever it takes“. Der Zweck übertrumpft in der Regel die Mittel.
Braucht die EU ein „Notfallskript“?
Da die EU derzeit auf improvisierte und irreguläre Methoden angewiesen ist, wollen einige ihre Fähigkeit zur Brandbekämpfung stärken. Was die EU nach dieser Auffassung braucht, ist ein vorab vereinbartes Paket von Verfahren für den Umgang mit Ausnahmesituationen – eine vorübergehende Erweiterung der Befugnisse ihrer Institutionen, um die öffentliche Gesundheit zu schützen, die Wirtschaft in Ordnung zu bringen oder auf eine internationale Krise zu reagieren. Die EU brauche ein Notfallskript, das es ihren Vertreter:innen ermöglicht, schnell und effizient zu handeln und gleichzeitig ihre Rechenschaftspflicht zu wahren.
Doch ein solcher Ausnahmemechanismus könnte die Lage möglicherweise noch verschlimmern. Historisch gesehen beruhen solche Regelungen auf der Vorstellung, dass Notfälle nur von kurzer Dauer sind. Die antike römische Institution der „Diktatur“, die vor allem im Zusammenhang mit Kriegen eingesetzt wurde, ging von der begrenzten Dauer der Feldzugssaison aus. Außergewöhnliche Maßnahmen waren akzeptabel, weil die Umstände, auf die sie abzielten, außergewöhnlich waren.
Notstandsbefugnisse heilen keine langfristigen Pathologien
Heutige Notstände, in der EU und ganz allgemein, entstehen hingegen in der Regel aus langfristigen Pathologien der Politik, des Kapitalismus oder des Klimas und haben deshalb ihnen einen viel längeren Zeithorizont. Wenn es keine natürliche Grenze zwischen normalen und unnormalen Zeiten gibt, besteht die Gefahr, dass man entweder zu kurz und zu oberflächlich auf tiefgreifende Probleme reagiert oder in eine permanente Politik des Notstands gerät.
Allein schon die Existenz von Notstandsbefugnissen ermutigt politische Entscheidungsträger:innen dazu, Probleme einfach laufen zu lassen. Da sie wissen, dass sie sich im Härtefall auf zusätzliche Befugnisse berufen können, haben sie weniger Anreize, unbeliebte Entscheidungen zu treffen und Reformen durchzuführen, die an den Kern der Dinge gehen. Sie haben eine Ausweichmöglichkeit, auf die sie sich verlassen können. Notstandspolitik ist in gewisser Weise immer eine Folge von politischem Versagen, und wenn dieses Versagen durch Ausnahmemaßnahmen übertüncht werden kann, ist es umso leichter, sich darauf einzulassen.
Es geht darum, ein effizientes „normales“ Regime zu entwerfen
Statt ein Notfallskript zu entwickeln, ist die Aufgabe deshalb, ein „normales“ Regime zu entwerfen, das in der Lage ist, mit extremen Umständen umzugehen – auf effiziente, aber auch akzeptable Weise. Ein Ziel sollte dabei sein, die Machtstrukturen zu vereinfachen: den Europäischen Rat, die Eurogruppe und ähnliche Gremien abzuschaffen und der Kommission die Regierungsaufgaben zu übertragen. Eine stärker integrierte transnationale Exekutive wäre weniger anfällig für Informalität und eine Ad-hoc-Konzentration von Macht. Sofern sie immer noch auf willkürliche oder nicht von der Bevölkerung gestützte Mittel zurückgreifen würde, wäre sie eine sichtbarere Zielscheibe für Kritik.
Verbunden sein müsste dies mit einer Stärkung des Europäischen Parlaments. Die Einbettung der Exekutivgewalt in ein parlamentarisches System gibt ihr eine stärkere Basis in der Öffentlichkeit. Eine der Lehren aus Covid-19 ist, dass Länder mit einem starken parlamentarischen System dazu tendierten, mindestens genauso gut zu reagieren wie die Alternativen. Der wichtigste Grundsatz für das Regieren unter extremen Umständen sollte nicht Schnelligkeit, sondern Zustimmung der Regierten sein. Das ist nicht nur demokratischer, sondern erhöht auch die Aussichten auf kurzfristige Einhaltung der Vorschriften und kann die öffentliche Unterstützung für den Strukturwandel stärken, der zur Abwehr künftiger Krisen nötig ist.
Überarbeitung der Verfassungsgrundlagen
Eine solche Umgestaltung der EU wird wahrscheinlich auf viel Widerstand stoßen. Doch anders als bei einem vermeintlich befristeten Notfallskript wäre beim Zeitpunkt ihrer Verabschiedung klar, worum es dabei geht. Sie würde nur gebilligt werden, sofern ihre Bestimmungen als dauerhafte Regelungen und nicht nur als vorübergehende Abweichungen von der Normalität akzeptiert werden.
Eine Konstitutionalisierung in diesem tieferen Sinne würde die Realität widerspiegeln, dass es sich bei den politischen Herausforderungen der Gegenwart nicht um eine Reihe vorübergehender Notfälle handelt, die kurzlebig und außergewöhnlich sind, sondern um dauerhafte Probleme in Politik, Gesellschaft, Klima und Wirtschaft, die es grundsätzlich und nachhaltig anzugehen gilt. Die jüngsten Ereignisse deuten auf eine EU hin, die danach strebt, militärisch und wirtschaftlich durchsetzungsfähiger zu werden – ein souveräner Akteur im Weltgeschehen. Dafür benötigt sie eine Überarbeitung ihrer Verfassungsgrundlagen, die diesem Anspruch gerecht wird.
Jonathan White ist Professor für Politikwissenschaft und stellvertretender Leiter des European Institute an der London School of Economics and Political Science (LSE). |
Dieser Artikel ist zuerst auf Englisch auf dem LSE-Blog EUROPP – European Politics and Policy erschienen. Weitere Informationen finden sich in dem dazugehörigen Aufsatz des Autors im Journal of Common Market Studies.
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