Die
Nominierung von Spitzenkandidaten für die Wahl des
Kommissionspräsidenten bedeutete einen Fortschritt für die
europäische Demokratie: Darin waren sich Freunde der europäischen
Integration lange Zeit einig. Entsprechend breit ist die
Zustimmung zu dem neuen Verfahren – von der Union
Europäischer Föderalisten über das Europäische
Parlament selbst bis zum Autor
dieses Blogs. Ablehnung kam 2014 hingegen vor allem
aus den Reihen jener, die das supranationale Europa ohnehin mit
Skepsis sehen, etwa David
Cameron (Cons./AKRE) oder Viktor
Orbán (Fidesz/EVP). Umso
befremdlicher war es für viele, als in den vergangenen Monaten auch
einige prominente Proeuropäer scharfe Kritik am
Spitzenkandidaten-Verfahren äußerten, etwa der französische
Präsident Emmanuel Macron (LREM/–)
und der liberale
Fraktionschef Guy Verhofstadt (Open-VLD/ALDE).
Zu diesen proeuropäischen Skeptikern gehört auch Lars Becker,
Mitglied im Bundesvorstand der Europa-Union Deutschland. Zeit für ein klärendes Gespräch.
Warum Spitzenkandidaten?
D(e)F: In einer parlamentarischen Demokratie sollte die Exekutive
vom gewählten Parlament ernannt werden, nicht diplomatisch zwischen
den Regierungen der Mitgliedstaaten ausgehandelt. Die
Spitzenkandidaten waren das Instrument, um dieses Prinzip wenigstens
für den Präsidenten der EU-Kommission durchzusetzen. Das neue
Verfahren ist nicht perfekt, aber es wieder abzuschaffen, würde
bedeuten, das Ruder wieder allein dem Europäischen Rat zu
überlassen. Welcher Teil dieser Argumentation überzeugt Dich nicht?
Lars
Becker: Um ehrlich zu sein: mehrere. Angefangen bei der
Generalisierung über den idealen Aufbau einer parlamentarischen
Demokratie – es gibt in manchen Ländern auch direkt gewählte
Staats- und Regierungschefs – über die implizite Annahme, dass das
Instrument den Zielen gerecht würde. Ich habe insbesondere in den
letzten beiden Jahren bei vielen Gesprächen festgestellt, dass es
unter Proeuropäern und Föderalisten zwar eine große Einigkeit
darin gibt, dass Spitzenkandidaten irgendwie eine gute Idee seien,
dass die Gründe hierfür aber weit auseinander gehen.
So gibt es zum Beispiel jene, die mit dem Instrument lediglich die
Hoffnung auf mehr Öffentlichkeit verbinden und die (meines Erachtens
etwas naive) Annahme haben, dass nur mangelnde Personalisierung das
Problem sei. Und es gibt jene, für die die Spitzenkandidaten auch
ein Mittel sind, um die Politisierung der Kommission voranzutreiben.
Nur ein kleiner Baustein
Bleiben
wir erst einmal bei letzterer Position: Ist es angesichts der
zunehmend politischen (und nicht nur technischen) Aufgaben der
Europäischen Kommission nicht wünschenswert, dass eine solche
Politisierung stattfindet – und dadurch die europäischen
Wählerinnen und Wähler die Möglichkeit bekommen, mit
demokratischen Verfahren auf den Kurs der EU einzuwirken?
Natürlich.
Ich teile die Sicht, dass wir eine Politisierung der Kommission
brauchen. Ich glaube aber nicht, dass uns die Spitzenkandidaten
allein dabei weiterhelfen. Sie sind ein kleiner Baustein, in einem
ganzen Set von Bausteinen, die wir bräuchten. Jean-Claude Juncker
spricht zwar oft davon, dass er eine politische Kommission führe –
aber was heißt denn das genau? Ich würde bezweifeln, dass diese
Kommission, wenn man sie nach ihrem Handeln bewertet, politischer ist
als zum Beispiele die früheren Kommissionen von Walter Hallstein
oder Jacques Delors.
Momentan
sehen wir, dass die „Politisierung“ über Spitzenkandidaten eher
Probleme verstärkt als löst. Der durchschnittliche wahlberechtigte
Bürger nimmt keine Veränderung im Politisierungsgrad der Kommission
wahr, während viele Mitgliedstaaten zunehmend argwöhnisch auf die
Kommission sehen und sich sicherlich viele Akteure schon überlegen,
was sie dieser von ihnen als Problem wahrgenommenen Politisierung
entgegenstellen.
Personalisierung allein ist nicht das Ziel
Dass
das Spitzenkandidaten-Verfahren nur ein erster Schritt sein kann, sehe
ich ebenso: Um die Kommission wirklich parlamentarisch verantwortlich
zu machen, müsste sich erstens das
Ernennungsverfahren auch für die übrigen Kommissare ändern und
zweitens die Möglichkeit eines Misstrauensvotums deutlich gestärkt
werden.
Dennoch
ist das neue Verfahren immerhin ein Anfang. Schon 2014 erfuhren die
Spitzenkandidaten insgesamt mehr mediale Aufmerksamkeit als andere
Europawahl-Kandidaten vor ihnen. Und das, obwohl 2014 ja noch eine
Art Testlauf war: Viele Journalisten und andere Beobachter glaubten
damals nicht an einen Erfolg des Verfahrens. Wenn die
Spitzenkandidaten zur Normalität werden, dürfte sich ihre
Sichtbarkeit auch in der breiten Öffentlichkeit deutlich erhöhen.
Und
auch auf die Qualität der Personalauswahl scheint das
Spitzenkandidaten-Verfahren eher einen positiven Einfluss zu haben:
Hallstein und Delors waren Ausnahmefiguren in Umbruchszeiten. Die übrigen Kommissionspräsidenten in den letzten Jahrzehnten –
Jacques Santer, Romano Prodi, José Manuel Durão Barroso – blieben in Sachen Charisma und politische Durchsetzungskraft hingegen deutlich hinter Juncker zurück.
Natürlich
erfuhren die Spitzenkandidaten mehr Aufmerksamkeit! Wenn jeder
Abgeordnete vorher im Durchschnitt 20 Interviews gegeben hat und ein
Spitzenkandidat auf einmal 500, dann ist das ein signifikanter
Anstieg, der ihnen mehr Aufmerksamkeit beschert. Aber trotz dieses
Mehr an Aufmerksamkeit für die einzelnen Kandidaten maßen die
meisten Wähler den Wahlen nicht wesentlich mehr Bedeutung bei als
zuvor. Ich habe jedenfalls keine Studien gesehen, die mich zu der
Annahme verleiten würden, dass die Spitzenkandidaten auf die
Wählerschaft eine starke Auswirkung hinsichtlich der Bedeutung der
Wahlen oder bei der Entscheidungsfindung gehabt hätten.
Personalisierung alleine ist ja nicht das Ziel. Das Ziel ist eine
Politisierung, die perspektivisch demokratische Alternanz mit klaren
politischen Richtungsentscheidungen ermöglichen soll.
Und
ja, klar: Juncker war ein Glücksfall, der durch die
Spitzenkandidaten möglich wurde. Aber das war eben nur einer von
vielen Kontextfaktoren. Der nächste Kommissionspräsident könnte
Manfred Weber sein – nicht trotz, sondern wegen des
Spitzenkandidaten-Verfahrens. Für Viktor Orbán und Co. wird das
Spitzenkandidatensystem in der jetzigen Form jedenfalls ein Grund
sein, sich einer weiteren Europäisierung der Parteien
entgegenzustellen: Mit dem jetzigen Delegiertensystem kann man
„Probleme“
wie Alex Stubb besser ausschließen, als wenn man lebendige
europäische Parteien hätte.
Machtkalküle in der Institutionendebatte
Du
siehst das Spitzenkandidaten-Verfahren als Hindernis zu einer
weiteren Europäisierung der Parteien? Gerade Orbán hat sich doch
sowohl 2014 als auch 2018 gegen das Verfahren ausgesprochen – eben
weil er es als Schritt zu mehr Supranationalität versteht.
Das
Verfahren ist natürlich nicht als Hindernis gedacht, sondern als
Baustein in einer Gesamtstrategie zur Politisierung der Kommission.
Wir erleben aber nun, dass das Spitzenkandidatensystem
institutionalisiert werden soll, während weitere Maßnahmen von
einer relevanten Zahl von Akteuren blockiert werden. Die Zahl der
Kommissare soll nicht gesenkt werden, jedes Land soll weiterhin mit
einem Kommissar vertreten sein, es soll keine transnationalen Listen
zu den Wahlen geben. Es zeichnet sich also ab, dass die weiteren
unbedingt notwendigen Schritte nicht verwirklicht werden – auch
weil über das institutionelle Setup der EU zunehmend nicht mehr
unter dem Gesichtspunkt einer sinnvollen und fairen demokratischen
Struktur entschieden wird, sondern aus machttaktischen Kalkülen.
Dass
sich dabei ausgerechnet zwischen EVP und ALDE eine Bruchlinie auftut,
ist doch kein Zufall. Warum ist die EVP für
Spitzenkandidaten und gegen transnationale Listen und Macron (mit
der ALDE) für
transnationale Listen und gegen Spitzenkandidaten? Ganz einfach:
Weil kurz- und mittelfristig der EVP vor allem die Spitzenkandidaten
nützen und Macron (und der ALDE) die transnationalen Listen. Die
unterschiedlichen Positionen haben weniger damit zu tun, welches
Setup für sinnvoll gehalten wird, sondern folgen Machtkalkülen.
Aufgrund
dieser Machtkalküle wird es dann aber auch zunehmend schwieriger,
die fehlenden Bausteine nachzuholen. Wenn die Spitzenkandidaten sich
als neue Normalität etablieren, kann die EVP es sich damit gemütlich
machen und alles andere verhindern. Das Ergebnis müsste stattdessen
eine Paketlösung sein, bei der Spitzenkandidaten und transnationale
Listen zusammen festgeschrieben werden. Langfristig sind Letztere ein
viel wichtigeres Vehikel, um das Parlament zu stärken. Die
Spitzenkandidaten hingegen haben in ihrer heutigen Form keinen großen
Mehrwert und führen momentan eher dazu, dass die machtpolitischen
Interessen einer Partei besser bedient werden als die der anderen.
Die zentrale Rolle der EVP
Dass
das Spitzenkandidaten-Verfahren einen einseitigen Vorteil für die
EVP – als auf absehbare Zeit stärkste Fraktion – darstelle, ist
auch von anderen Kritikern wie Guy Verhofstadt zu hören. Allerdings
verlangt das Spitzenkandidaten-Verfahren ja nicht zwingend, dass der
Kandidat der stärksten Fraktion gewählt wird. Es könnte sich im
Europäischen Parlament auch eine Mehrheit ohne die EVP
zusammenfinden.
Dass
das zurzeit recht unwahrscheinlich ist, liegt an der internen
Zersplitterung des Parlaments: Eine Mehrheit ohne die EVP wäre nur
unter Beteiligung von Europagegnern oder mit einem wenig
realistischen „rot-rot-grün-gelben“ Mitte-Links-Bündnis
möglich. Aber diese Zersplitterung ist nun einmal Teil der
demokratischen Realität in Europa. Muss man die zentrale Rolle der
EVP in unserem Parteiensystem nicht einfach als Folge des
Wählerwillens akzeptieren?
So einfach ist es nicht. Hierzulande wählt „die
EVP“ der Wähler, der mit den Politikangeboten der CDU/CSU etwas
anfangen kann. Über die Politikangebote der Fidesz, die ebenfalls
der EVP angehört, weiß er in der Regel nur wenig. Das Fehlen einer
europäischen Öffentlichkeit führt dazu, dass die Positionen der
Partei im eigenen Land oft übergeneralisiert und die Positionen der
anderen Mitgliedsparteien für die Wahlentscheidung nicht mit in
Betracht gezogen werden.
Die
Stärke der EVP rührt aber genau daher, dass sie extrem heterogen
ist und in ihren Reihen neben liberalen auch autoritäre,
europaskeptische Parteien hat. Auch wenn Manfred Weber das gerne
herunterspielt: Der Grund, warum die EVP Problemfälle wie die Fidesz
in den eigenen Reihen duldet, ist der Wunsch, ihre Rolle als stärkste
Kraft zu erhalten. Dieser Wunsch wird durch die Spitzenkandidaten
noch verstärkt.
Gerade
die Institutionalisierung der Spitzenkandidaten kann also dazu
beitragen, dass Personen wie Viktor Orbán Einfluss gewinnen. Das ist
ein echtes Problem, das man nicht alleine mit einer Argumentation
über „den“ Wählerwillen wegwischen kann. Denn
Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und ähnliche Dinge sind aus guten
Gründen Dinge, die normalerweise nicht über Wahlen verhandelt
werden.
Weber und Orbán
Immerhin:
Mitte September hat Manfred Weber seine
EVP-Fraktion mehrheitlich für den Sargentini-Bericht stimmen lassen,
mit dem sich das Europäische Parlament für ein Artikel-7-Verfahren
gegen die Fidesz-Regierung aussprach. Nun ist es nicht ganz abwegig,
dahinter vor allem taktische Beweggründe zu sehen – die Abstimmung
fiel genau in die Tage, in denen der
mediale Druck besonders groß war, weil Weber kurz zuvor seine
Spitzenkandidaten-Bewerbung angekündigt hatte; und als die
öffentliche Aufmerksamkeit danach wieder zurückging, blieben
jegliche Folgemaßnahmen innerhalb der EVP aus. Aber trotzdem:
Ist es nicht gut, wenn das Spitzenkandidaten-Verfahren Politikern wie
Weber größere Sichtbarkeit verschafft und sie auf diese Weise
zwingt, sich von zweifelhaften Parteifreunden wie Orbán zu
distanzieren?
Das
war aber ein Einzelfall. Das letzte Ereignis aus Ungarn, das
öffentliche Bedeutung erlangte, war wohl, dass die
Central European University aus Budapest nach Wien umziehen muss.
Weber hat diesbezüglich noch 2017 von
einer „roten Linie“ gesprochen,
die Orbán nicht überschreiten dürfe. Jetzt ist er hingegen
bemerkenswert still, oder?
Sein
Votum für den Sargentini-Bericht wirkt deshalb wie ein „Deal“,
der nur dem Wahlkampf dienen sollte. Dass das nur symbolisch war,
wurde Orbán gegenüber durch das Votum der restlichen CSU-Kollegen
unterstrichen, die
alle gegen den Bericht gestimmt haben. Ich vermute, Orbán wird
auch weiterhin regelmäßig nach Bayern eingeladen werden, und der
stellvertretende CSU-Vorsitzende Weber wird damit wohl auch in
Zukunft keine Probleme haben, sondern mit seinem positiv klingenden
Ausspruch „Ich
will Brücken bauen“ die Einbindung der autoritären Rechten
begründen. Wirkliche Distanzierung sieht anders aus.
Nicht in einer Position der Stärke
Zurück
zu der Verbindung zwischen Spitzenkandidaten und gesamteuropäischen
Listen: Verstehe ich richtig, dass Du die Spitzenkandidaten vor allem
taktisch ablehnst, solange kein Durchbruch zu einem voll
parlamentarischen Regierungssystem erreicht werden kann?
Ja.
Ich glaube, dass wir damit ein Instrument mit gutem Potenzial haben,
das aber nur im Zusammenspiel mit anderen Instrumenten wirklichen
Nutzen entfalten kann. Und die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass wir
diese Instrumente bekommen werden. Im übrigen nicht nur wegen der
EVP, sondern auch weil auch unter jenen, die nicht machttaktisch
argumentieren, manchmal nur scheinbare Einigkeit besteht. Ich habe im
Präsidium meines Verbands zum Beispiel auch schon Diskussionen
erlebt, in denen Vertreter der Grünen oder Sozialdemokraten
argumentiert haben, dass man auch in Zukunft jedem Mitgliedstaat
seinen eigenen Kommissar zubilligen müsse – obwohl das dem Ziel
einer Politisierung der Kommission entgegenläuft.
Selbst
unter Föderalisten bestehen intern also unterschiedliche
Vorstellungen, was mit den Spitzenkandidaten erreicht werden soll.
Und mein Eindruck ist, dass dabei jene, die eine echte Politisierung
der Institutionen wollen, derzeit nicht in einer Position der Stärke
sind. Das muss man berücksichtigen, bevor man jenen, die nur
Machtinteressen folgen, die von ihnen gewünschten Instrumente in die
Hand gibt.
Der Widerstand wächst
Die
„Methode der kleinen Schritte“ hat in der Geschichte der
europäischen Integration freilich eine lange Tradition: Man einigt
sich auf das Machbare, auch wenn man dabei ein System mit
Ungleichgewichten und inneren Widersprüchen produziert – in der
bis jetzt meistens zutreffenden Hoffnung, dass die dadurch
entstehenden Krisen später produktiv gelöst werden und zu weiteren
Fortschritten führen. Die Alternative wären oft nur Stagnation und
Rückschritt.
Und
ist es bei den Spitzenkandidaten nicht genauso? Sie in ihrer jetzigen
Form einfach zu verwerfen, würde wenigstens kurzfristig wohl eher
nicht zu einer großen Paketlösung führen, sondern dazu, dass das
Parlament als gescheitert gilt und der Europäische Rat die Zügel
der Kommissionswahl noch fester in der Hand hält als zuvor.
Diese
neofunktionalistische Methode der kleinen Schritte hat lange gut
funktioniert und wird in einigen Politikfeldern auch weiterhin noch
tragen. Man muss aber sehen, dass diese Theorie problematisch ist,
wenn sie zu einer handlungsleitenden Weltanschauung wird. Man landet
schnell bei einer Form der Teleologie, das heißt bei der Annahme,
dass die Integration am Ende quasi ganz von selbst zu den Vereinigten
Staaten von Europa führen würde. Ich glaube mittlerweile, wer das
glaubt, macht sich etwas vor.
In allen Politikfeldern, die bei Fragen nationaler Souveränität ans
Eingemachte gehen, sind wir nicht viel weiter als vor zwanzig Jahren.
Und da die nächsten Integrationsschritte immer dichter an diese
zentralen Politikfelder heranführen, sehen wir, dass auf Seiten eher
intergouvernementalistischer Vertreter der Widerstand gegen weitere
Integrationsmaßnahmen wächst – während umgekehrt auf Seiten der
Integrationsbefürworter die normativen Erwartungen an die EU, z.B.
an die Demokratisierung ihrer Institutionen oder an ihre Fähigkeit
zur Intervention bei nationalen Problemen mit der
Rechtsstaatlichkeit, steigen. Das ist ein Problem.
Auf
die Spitzenkandidaten gewendet bedeutet das: Wenn wir das Verfahren
in seiner heutigen Form akzeptieren, weil wir hoffen, dass es später
ein Baustein für unsere Pläne sein wird – dann akzeptieren wir
auch, dass sich die EVP ein Machtinstrument gesichert hat, während
sie andere Instrumente, die noch sinnvoller, aber ihr nicht dienlich
sind, weiter ablehnen kann. Das Ziel der Orbáns in dieser EU wird
sein, auf absehbare Zeit schwache Kommissionen zu produzieren. So
paradox es klingt: Spitzenkandidaten in der jetzigen Form können
ihnen dabei helfen.
Eine Paketlösung bis 2024
Was
wäre in Deinen Augen denn die Alternative? Wäre eine Kommission,
deren Präsident wieder vor allem durch den Europäischen Rat
ausgewählt wird, denn stärker?
Ich glaube tatsächlich, dass unter jetzigen Bedingungen im Europäischen Rat bessere
Chancen auf einen integrationsfreudigen Kommissionspräsidenten
bestünden als im Parlament. Durch die Festlegung auf einen
Spitzenkandidaten und durch die Ansage, dass nur ein Spitzenkandidat Kommissionspräsident werden darf, gibt es keine einfache Möglichkeit, „schlechte“ Kandidaten wieder abzuräumen. Eine solche blinde Festlegung haben wir bei der Wahl
unserer Bundeskanzlerinnen und Bundeskanzler ja übrigens auch nicht.
Es muss gelingen, die Debatte so zu verändern, dass die
Spitzenkandidaten nicht mehr als Selbstzweck gelten, sondern als eine
Maßnahme, die nur im Zusammenspiel mit weiteren
Integrationsschritten erstrebenswert ist. Wir sollten deshalb
deutlich machen, dass wir das Spitzenkandidaten-Verfahren für die
Zukunft nur dann unterstützen, wenn für den Anfang zumindest auch
ein paar Sitze über transnationale Listen eingeführt werden.
Damit hätte man dann gleichzeitig auch die Chance, die starke Selbstzweckorientierung der derzeitigen Debatte zu verschieben in Richtung einer Debatte über das Ziel einer demokratischen, politischen Kommission. Das Ziel muss sein, bis 2024 eine Debatte über eine Paketlösung zu bekommen, denn das könnte für längere Zeit die letzte Chance sein, dass den Spitzenkandidaten etwas folgen wird.
Das Parlament ist in der Pflicht
Und
wer hätte aus Deiner Sicht eine realistische Chance, 2019 als
Kommissionspräsident gewählt zu werden, um dann bis 2024 eine
solche Agenda voranzutreiben?
Hier
ist Personalisierung fehl am Platz: Statt auf einen
Kommissionspräsidenten zu hoffen, der diese Agenda antreibt, muss
das Parlament gestalten. Das Problem in dieser Frage war nicht die
Kommission: Juncker hätte bei transnationalen Listen problemlos
mitgemacht. Es war das
Europäische Parlament, das Fortentwicklungen verhindert hat –
und, das muss man so deutlich sagen, dort im Wesentlichen die EVP,
nicht die ALDE, die jetzt wegen der Spitzenkandidaten kritisiert
wird. Man muss in dieser Frage also die Abgeordneten in die Pflicht
nehmen und darf sie nicht aus ihrer Verantwortung entlassen.
Lars Becker ist stellvertretender Vorsitzender der Europa-Union Hamburg und Mitglied im Bundesvorstand der Europa-Union Deutschland. Die hier geäußerten Positionen geben seine persönliche Meinung wieder.
Dieses Interview wurde im Dezember 2018 als Online-Chat geführt und nachträglich redaktionell bearbeitet.
Bild: Lars Becker (alle Rechte vorbehalten).
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