19 Januar 2016

Europäische Parteien: Von der Radnabe zum Netzwerk

EVP, SPE, ALDE & Co.: Die europäischen Parteien (hier eine Übersicht) könnten der Schlüssel zu einer repräsentativen Demokratie auf europäischer Ebene sein, doch bislang hört man in der Öffentlichkeit nur selten von ihnen. Welche Rolle sollen sie in der EU in Zukunft spielen, und was ist nötig, um das zu erreichen? In einer Serie von Gastartikeln antworten hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Wissenschaft auf diese Frage. Heute: Reinhard Bütikofer. (Zum Anfang der Serie.)

„Europäische Parteien müssen beweisen, dass sie mehr zu bieten haben als die Summe ihrer Teile.“
Die Europawahl 2014 brachte für die in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannten europäischen Parteien tatsächlich einen wegweisenden politischen Durchbruch. Von den Mitgliedsländern der EU zunächst unbeachtet und sträflich unterschätzt hatten sich die Führungen der Europäischen Volkspartei, der europäischen Sozialdemokratie, der europäischen Liberalen und der europäischen Grünen weit im Vorfeld der Wahl darauf verständigt, den Wahlkampf zu einer Entscheidung über die Person des künftigen Präsidenten der Europäischen Kommission zu machen.

Diese zunächst in einem kleinen Kreis abgesprochene Strategie entwickelte, je näher der Wahltag kam, desto größere politische Dynamik und führte nach der Wahl des Europäischen Parlamentes dazu, dass sich die Mitglieder des Europäischen Rates, also die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer, diesem neuen Zug der Zeit nicht versagen konnten.

Europa ein Gesicht geben

Den vier europäischen Parteien kam zugute, dass die Idee, den Wahlkampf zu einer personalisierten Entscheidung über den künftigen Kommissionspräsident umzufunktionieren, dem weitverbreiteten Bedürfnis entgegenkam, Europa ein Gesicht zu geben. Die EVP wählte ihren Spitzenkandidaten für den Europawahlkampf, ihren Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten, unter mehreren Bewerbern auf einem europäischen Parteikongress aus. Dabei ging es durchaus um unterschiedliche Profile der EVP; erfolgreich war Jean Claude Juncker, ein erfahrener Praktiker der europäischen Integration und ein Vertreter des Konzepts des „rheinischen“ Kapitalismus.

Bei den Sozialdemokraten manövrierte der deutsche Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, so machtvoll, dass sich ihm keine Alternative entgegenstellte. Die Liberalen hatten ursprünglich zwei Bewerber, einigten sich dann aber auf den quirligen europäischen Föderalisten Guy Verhofstadt, einen ehemaligen belgischen Premierminister.

Die Europäische Grüne Partei wählte ihre zwei Spitzenkandidaten, Ska Keller und José Bové, in einem elektronischen Online-Primary aus. Auf der Strecke blieb dabei unter anderem die Vorsitzende der grünen Europafraktion, Rebecca Harms. Ska Keller entwickelte sich in den Debatten zwischen den Spitzenkandidaten der verschiedenen Parteien zu einem neuen Stern am grünen europäischen Himmel und gewann mit ihrer jugendlich-frischen und kompetenten Art ein starkes Profil. Auch die Europäische Linke schickte mit Alexis Tsipras einen Spitzenkandidaten ins Rennen.

Fortschritt der europäischen Demokratie

Die Wahrnehmung der Spitzenkandidaturen war in den verschiedenen Mitgliedsländern sehr unterschiedlich ausgeprägt. In Deutschland spielte sie durchaus eine Rolle und trug dazu bei, die Wahlbeteiligung zu stabilisieren, die befürchteten Verluste der Grünen stark zu begrenzen und das Ergebnis der Sozialdemokratie deutlich zu steigern.

Alle europäischen Parteien, die an diesem bisher einmaligen Experiment teilnahmen, haben sich seither entschlossen gezeigt, diese Praxis auch in Zukunft zu wiederholen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie dabei durchaus noch auf Gegenwehr aus den Kreisen der Staats- und Regierungschefs treffen werden. Denn diese sahen sich nach der Europawahl 2014 unter dem Eindruck des Spitzenkandidatenwahlkampfes und des den Wahltag überdauernden Konsenses der europäischen Parteien gezwungen, die Legitimität des Kandidaten Juncker zu respektieren und diesen zum Kommissionspräsidenten vorzuschlagen, obwohl das etlichen von ihnen zum Teil explizit, zum Teil implizit, nicht leicht fiel.

Für die europäischen Wählerinnen und Wähler brachte diese politische Neuerung entschiedene Vorteile. Was vorher in Hinterzimmern ausgehandelt worden war, die Entscheidung über die Kommissionsspitze, wurde nun in den öffentlichen Raum des Wahlkampfes verlegt und von der Realität parlamentarischer Mehrheiten abhängig gemacht. Das kann man gar nicht anders denn als einen Fortschritt der europäischen Demokratie bezeichnen.

Uneinigkeit bei der Wahlrechtsreform

Seit der Europawahl 2014 hat es nur in einem weiteren Fall ein gemeinsames Vorgehen europäischer Parteien gegeben: bei den Absprachen zwischen Sozialdemokratie und Christdemokratie über im Europäischen Parlament zu beantragende Veränderungen des europäischen Wahlrechts, insbesondere über die europaweite Einführung einer 3%-Hürde als Mindesterfordernis für einen Einzug ins Europaparlament.

Doch während Sozialdemokraten, Konservative und ein großer Teil der europäischen Liberalen dafür waren, widersprachen die Europäische Grüne Partei, die Linke und andere dem ausdrücklich. Es ist zu erwarten, dass die Uneinigkeit zwischen den verschiedenen europäischen Parteien es dem Ministerrat leichter machen wird, zu etlichen der vorgeschlagenen Reformen „Nein“ zu sagen.

Der Spitzenkandidatenerfolg von 2014 bleibt daher bis auf Weiteres eine Ausnahme. Das insgesamt sehr begrenzte Gewicht der europäischen Parteien in der europäischen Öffentlichkeit lässt sich auch daran ermessen, dass wohl kaum jemand eine oder einen der europäischen Parteivorsitzenden namentlich nennen könnte.

Parteigipfel werden wichtiger – und besser besucht

Auf einer anderen Ebene allerdings nehmen die europäischen Parteien an Gewicht zu: Ihre Rolle im Konzert der jeweiligen Parteifamilien wächst. Das kann man etwa an der Europäischen Grünen Partei deutlich zeigen. 2004 in Rom gegründet, verirrten sich in den ersten Jahren höchst selten politisch gewichtige Vertreter der bedeutenden nationalen Parteien auf die zweimal jährlich stattfindenden Ratstreffen.

Zu diesen „Gipfeltreffen“ kamen vorwiegend Vertreter aus der zweiten oder dritten Reihe der Mitgliedsparteien; etwaige inhaltliche Festlegungen wurden diplomatisch-vorsichtig in Konsensverfahren eingehegt; Hauptanliegen der Delegationen aus Ländern, in denen Grüne an der jeweiligen Regierung beteiligt waren, war es zumeist, dass europäische Positionsbestimmungen der heimischen Politik nicht in die Quere kommen.

Inzwischen finden unter guter Beteiligung regelmäßig Treffen mit den nationalen Parteiführungen statt. Inhaltliche Positionsbestimmungen werden im offenen demokratischen Meinungsstreit ausgetragen und entschieden. Positionen der Europäischen Grünen Partei beeinflussen nationale grüne Politik und entwickeln sogar ein Eigengewicht gegenüber der Arbeit der grünen Fraktion im Europäischen Parlament. Kandidaturen für den Vorstand der Europäischen Grünen Partei gelten mehr als früher und sind stärker umkämpft.

Mehr Gewicht gegenüber Fraktionen und nationalen Parteien

Die Europäische Grüne Partei hat 2015 zum ersten Mal außerhalb eines Wahlkampfes eine das Jahr über andauernde, mit den Mitgliedsparteien koordinierte, thematische Kampagne organisiert, die dem Klimawandel gewidmet war. In den drei gemeinsam geführten Europawahlkämpfen 2004, 2009 und 2014 stieg das Maß, in dem europäische Wahlkampfkoordination stattfand und die Arbeit der Europäischen Grünen Partei von Mitgliedsparteien genutzt wurde, jedes Mal an. Das für den Wahlkampf 2014 zusammen erarbeitete Manifest gilt weiterhin als gemeinsame Grundlage der Kooperation.

Ska Keller, MdEP, die im Europawahlkampf 2014 in insgesamt 15 europäischen Ländern öffentlich aufgetreten war, wird weiterhin von Parteien unterschiedlicher Mitgliedsländer gerne als europäisches grünes Gesicht auch für nationale Wahlkämpfe eingeladen. Die europäische Grüne Jugend (FYEG) spielt mit beachtlicher Kontinuität eine antreibende und integrative Rolle.

Von der Radnabe zum Netzwerk

Schwächen in der Arbeit der Europäischen Grünen Partei sind allerdings auch nicht zu übersehen. So gelingt es ihr bisher wenig, dafür zu sorgen, dass europapolitische und andere strategische Debatten der Mitgliedsparteien jeweils im Austausch mit Partnern aus anderen Mitgliedsländern geführt werden. Die europapolitische Gemeinsamkeit ist weitgehend eine der Parteiführungen und vielleicht der Fraktionsführungen, kaum noch ergänzt durch grenzüberschreitenden Austausch exemplarischer Erfahrungen zwischen Bürgermeistern und kommunalpolitischen Aktivisten.

Die Europäische Grüne Partei ist noch viel zu sehr ein Rad mit Brüssel als Nabe, die durch Speichen mit der Realität vor Ort verbunden ist, und viel zu wenig ein vielfältiges Netzwerk entsprechend konkreter Anlässe, viel zu selten eine Plattform für „Koalitionen der Willigen“ zwischen einzelnen Mitgliedsparteien und in nur geringem Umfang ein Angebot an europapolitisch Aktive vor Ort, sich direkt zu vernetzen und einzumischen.

Der erkennbare Fortschritt liegt aber, ironisch gesagt, darin, dass diese Schwächen inzwischen von den Mitgliedsparteien kritisch thematisiert werden. Und natürlich gibt es auch positive Beispiele, die hervorstechen: die Zahl der grünen Delegationen, die den grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg besucht haben, um Erfahrungen auszutauschen, ist Legion. Ähnlich ergeht es dem grünen Bürgermeister von Grenoble, Eric Piolle. Das grüne Netzwerk europäischer Großstädte hat inzwischen einen verlässliche Kontinuität angenommen.

Europäische Parteien müssen mehr sein als die Summe ihrer Teile

Ausschlaggebend für die Entwicklung der Bedeutung der europäischen Parteien gegenüber den Mitgliedsparteien wie allgemein in der europäischen Öffentlichkeit sind aber weniger die Strukturen. Entscheidend ist, inwiefern die Parteien in der Lage sind, konstruktive Beiträge zur Überwindung der vielfältigen europäischen Spannung und Spaltungen zu den verschiedensten Themen zu leisten.

Bei der Europäischen Grünen Partei war, strukturell ähnlich wie im Europäischen Rat, nur natürlich bei Weitem nicht so scharf, die spontane Differenz in Sachen europäische Austeritätspolitik zwischen zum Beispiel Finnen und Deutschen auf der einen Seite sowie Spaniern und Griechen auf der anderen Seite unbestreitbar. Dass es nichtsdestotrotz gelang, eine gemeinsame Position zu entwickeln, die von dem Dreiklang Solidarität, Solidität, Nachhaltigkeit geprägt wurde, demonstrierte in diesem konkreten Fall den allseitigen Nutzen des europäischen Zusammenhangs umso deutlicher.

Im Fazit kann man sagen: Europäische Parteien werden sich durchsetzen, wenn sie in der Lage sind praktisch zu beweisen, dass sie für die künftige Orientierung des europäischen Projekts mehr zu bieten haben als die bloße Addition ihrer nationalen Bestandteile.

Reinhard Bütikofer ist Mitglied des Europäischen Parlaments und Ko-Vorsitzender der Europäischen Grünen Partei.

Die Zukunft der europäischen Parteien

1: Serienauftakt
2: Europäische Parteien: Von der Radnabe zum Netzwerk ● Reinhard Bütikofer
3: Europäische Parteien: im Kommen oder im Niedergang? [DE / EN] ● Isabelle Hertner
4: Zur künftigen Rolle der europäischen Parteien [DE / EN] ● Sir Graham Watson
5: Die europäischen Parteien als Verteidiger des europäischen Gemeinwohls ● Joseph Daul
6: Cocktail-Party oder politische Partei? Zur Zukunft der gesamteuropäischen Parteien [DE / EN] ● Julie Cantalou
7: „Es ist naiv zu denken, dass die Parteispitzen allein die Debatte in Richtung mehr Europa lenken könnten“ [DE / FR] ● Gabriel Richard-Molard
8: Die europäischen Parteien und die Grenzen und Potenziale Europas [DE / ES] ● Mar Garcia Sanz
9: Europäische Parteien – reichlich untererforschte Rohdiamanten [DE / EN] ● Michael Kaeding und Niko Switek
10: Parteien derselben politischen Familie föderalisieren [DE / FR] ● Pierre Jouvenat

Bilder: Alternattiva Demokratika [CC BY-NC 2.0], via Flickr; Reinhard Bütikofer [CC BY], via reinhardbuetikofer.eu.

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