17 März 2016

Cocktail-Party oder politische Partei? Zur Zukunft der gesamteuropäischen Parteien

EVP, SPE, ALDE & Co.: Die europäischen Parteien (hier eine Übersicht) könnten der Schlüssel zu einer repräsentativen Demokratie auf europäischer Ebene sein, doch bislang hört man in der Öffentlichkeit nur selten von ihnen. Welche Rolle sollen sie in der EU in Zukunft spielen, und was ist nötig, um das zu erreichen? In einer Serie von Gastartikeln antworten hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Wissenschaft auf diese Frage. Heute: Julie Cantalou. (Zum Anfang der Serie.)

„Der erste Schritt, um von bloßen Cocktailpartys zu echten politischen Parteien zu werden, ist eine Mitgliederbasis aufzubauen.“
In einem Kontext der Politikverdrossenheit und der allgemeinen Kritik am europäischen Projekt über die Zukunft gesamteuropäischer Parteien zu sprechen, mag als ein müßiges Unterfangen gesehen werden. Doch Not macht bekanntlich erfinderisch. Warum also nicht die Zukunft der europäischen Parteien und damit auch der Europäischen Union diskutieren? Vielleicht werden die wirtschaftliche, politische und soziale Krise notwendige Änderungen sowohl des Systems als auch seiner Akteure auslösen. Vielleicht auch nicht. Ich überlasse diese Frage der Geschichte; aber darum geht es hier nicht.

Cocktail-Party oder Partei?

Die gesamteuropäischen Parteien haben in der Entwicklung der Europäischen Union bis jetzt keine signifikante Rolle gespielt. Die Mitgliedstaaten, und damit die nationalen Regierungen und Parteien, haben die aufeinander folgenden Änderungen an Verträgen und Institutionen eingeleitet, ausgehandelt und verabschiedet, einschließlich der Schaffung der gesamteuropäische Parteien. Um es ganz unverblümt zu sagen: Europäische Parteien ähneln eher einer Cocktail-Party als einer politischen Partei. Sie treten nicht zu Wahlen an, sie entwickeln nur selten Politikvorschläge und sie sind nicht mitgliederbasiert. Vor allem im Fall der großen politischen Familien wie den Christdemokraten und Sozialdemokraten dienen sie eher als Treffpunkt für Spitzenpolitiker, um Medienaufmerksamkeit auf sich zu ziehen und Deals auszuhandeln.

Die kleineren politischen Familien sind bis zu einem gewissen Grad über die Organisation von Cocktailpartys hinausgegangen, um gemeinsame Positionen und Wahlmanifeste zu entwickeln. Aber bis heute hat keine der gesamteuropäischen Parteien mit der wachsenden Rolle und Einfluss der Fraktionen im Europäischen Parlament Schritt gehalten. Der hauptsächliche Druck für Veränderung in der Funktionsweise und den Institutionen der EU kam vom Europäischen Parlament, das seine eigene Rolle zur Geltung brachte. Zum größten Teil hat das Parlament die Rolle übernommen, die traditionell von politischen Parteien ausgeübt wurde: Politik zu betreiben und die Wünsche der Menschen in Politikvorschläge umzusetzen. Auf EU-Ebene sind die Fraktionschefs oft besser bekannt und mit ihren Meinungen zu den Herausforderungen und Lösungen für das europäische Projekt präsenter als die Vorsitzenden ihrer entsprechenden Parteien. Das kommt in der nationalen Politik nur selten vor.

Was war zuerst da: die Henne oder das Ei?

Woran liegt es, dass die europäischen Parteien nicht auf die gleiche Weise arbeiten wie nationale Parteien und auch nicht die gleiche Rolle dabei spielen, die Meinungen der Bürger in Politikvorschläge umzusetzen? Um es ganz einfach zu sagen: Ich nehme an, dass sie weder den Raum noch die Anreize haben, das zu tun. Der wichtigste Mechanismus, den politische Parteien benutzen, um Politikvorschläge zu entwickeln, zu testen und zu verwirklichen, ist die Teilnahme an Wahlen. Ohne Wahlen gibt es keine echte Parteipolitik.

Politische Parteien auf europäischer Ebene wären ein wichtiger Schritt, um eine europäische „Polity“ zu errichten. Europäische Parteien könnten, wenn es gesamteuropäische Wahlen gäbe, ein großartiger Weg sein, um die Bürger zu animieren, eine echte europäische Debatte über Politikoptionen zu schaffen und Menschen zu mobilisieren, sich in die Politik auf EU-Ebene einzumischen. Gesamteuropäische Parteien zu stärken wäre auch von großem Vorteil, um der Macht der Mitgliedstaaten etwas entgegenzusetzen, um die Transparenz der Europapolitik zu erhöhen und letztlich von der bloßen Politikverwaltung zu einer wirklichen Debatte über Ideen zu gelangen.

Oder ist es doch andersherum? Sollten wir zuerst „echte“ gesamteuropäische Parteien aufbauen und erst dann mit ihnen zu gesamteuropäischen Wahlen antreten? Oder sollten wir erst die Institutionen und Verfahren ändern, um den europäischen Parteien einen politischen Handlungsraum zu geben? Ich denke, die Antwort ist: Beides zugleich. Wir müssen uns weiterhin für gesamteuropäische Wahlen einsetzen, für wenigstens einen Teil der Mitglieder des Europäischen Parlaments, während wir zugleich am Aufbau echter gesamteuropäischer Parteien arbeiten. Und wie sollten diese Parteien aussehen?

Alle Macht dem Volke

Sie mögen sich fragen, warum ich überhaupt einen Artikel über die Zukunft der europäischen Parteien schreibe, wenn mein Bild von ihnen so düster ist. Nun, das Schöne daran, etwas neues zu errichten, ist die Chance, von anderer Menschen Fehler zu lernen. Im derzeitigen Klima politischer Apathie, Verdrossenheit und vor allem wachsender (und oft berechtigter) Kritik an politischen Parteien in vielen Teilen der EU ist es nicht einfach, eine Parteistruktur aufzubauen. Jeder, der mit Parteipolitik zu tun hat, sollte sich selbst fragen: Wie kann ich eine Partei schaffen, die nicht in diese Falle tappt?

Der erste Schritt, um die europäischen Parteien von bloßen Cocktailpartys zu „echten“ politischen Parteien werden zu lassen, ist eine Mitgliederbasis aufzubauen. Die Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE-Partei) war die erste gesamteuropäische Partei, die diesen Schritt getan hat und 2011 einen Status für Individualmitglieder eingeführt hat. Seitdem sind fast 2000 Menschen von Portugal bis Estland Direktmitglieder der ALDE-Partei geworden. Über vierzig Koordinatoren mobilisieren auf dem ganzen Kontinent unsere Ideen, Initiativen und Expertise unter Führung eines Leitungskomitees (Steering Committee), dem ich seit 2014 vorsitze.

Die ALDE ist auf dem Weg zu einer wirklich gesamteuropäischen Partei noch einen Schritt weiter gegangen, als sie auf dem Parteikongress im letzten November den Delegierten der Individualmitglieder das Stimmrecht gab. Die Einrichtung und Stärkung der Individualmitgliedschaft ist ein neuartiger Weg für Bürger, sich direkt an der europäischen Politik zu beteiligen, indem wir gemeinsame Politiken entwickeln und unsere Vertreter ernennen.

In der Politik der Postmoderne ändern sich die Rolle, die Funktionsweise und die Form politischer Parteien. Jüngere Generationen suchen Parteien, die eher Graswurzelbewegungen ähneln und sich für einzelne Anliegen und Themen einsetzen statt für Ideologien. Viele enttäuschte Bürger wünschen sich, dass die Parteien transparenter wären, demokratischer und auf jeden Fall weniger hierarchisch. Lasst und nicht diese Fehler wiederholen, sondern Parteien schaffen, die den Erwartungen der Bürger entsprechen. Das ist nicht nur notwendig, um Mitglieder und Wähler zu gewinnen, es ist auch gut und richtig.

Julie Cantalou ist Vorsitzende des Leitungskomitees (Steering Committee) der Individualmitglieder der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE).

Die Zukunft der europäischen Parteien

1: Serienauftakt
2: Europäische Parteien: Von der Radnabe zum Netzwerk ● Reinhard Bütikofer
3: Europäische Parteien: im Kommen oder im Niedergang? [DE / EN] ● Isabelle Hertner
4: Zur künftigen Rolle der europäischen Parteien [DE / EN] ● Sir Graham Watson
5: Die europäischen Parteien als Verteidiger des europäischen Gemeinwohls ● Joseph Daul
6: Cocktail-Party oder politische Partei? Zur Zukunft der gesamteuropäischen Parteien [DE / EN] ● Julie Cantalou
7: „Es ist naiv zu denken, dass die Parteispitzen allein die Debatte in Richtung mehr Europa lenken könnten“ [DE / FR] ● Gabriel Richard-Molard
8: Die europäischen Parteien und die Grenzen und Potenziale Europas [DE / ES] ● Mar Garcia Sanz
9: Europäische Parteien – reichlich untererforschte Rohdiamanten [DE / EN] ● Michael Kaeding und Niko Switek
10: Parteien derselben politischen Familie föderalisieren [DE / FR] ● Pierre Jouvenat

Bilder: Nathan Forget [CC BY 2.0], via Flickr; Julie Cantalou.
Übersetzung aus dem Englischen: Manuel Müller

1 Kommentar:

  1. Sehr lesenswerter Artikel. Ich denke, daß die geringe Bedeutung Europäischer Parteien im politischen Alltag und im politischen Bewußtsein vieler Wähler auch daher rührt, daß die nationalen Parteien ganz gern und gut mit diesem Umstand leben wollen und können.

    Stichwort Europawahlen: Zumindest für Deutschland habe ich den Eindruck, daß die Europawahlen im Wahlkampf durch die konkurrierenden Parteien selbst den Anstrich bekommen, sie seien eine "Schutzwahl" gegen Europa und nicht eine Wahl um die beste Vision für Europa. Es wird hauptsächlich mit nationalen Argumenten geworben und dem Ziel sich gegen den Rest Europas zur "Wahrung der deutschen Interessen" durchsetzen zu wollen. Mir konnte zwar noch keiner so richtig erklären worin der Unterschied in den Interessen eines Brandenburger Familienvaters zu denen eines Bretonischen Familienvaters liegen soll. Aber genau dieses diffuse "National-Interesse" an dessen Vorhanden sein als eigenes Bedürfnis viele tatsächlich zu glauben scheinen, trägt zur beklagten Situation bei.

    Ein erster, kleiner Schritt, um einem Bewußtsein für die Europäischen Parteien wenigstens den Weg ebnen zu können, wäre vielleicht, den nationalen Parteibezeichnungen in den jeweiligen Ländern die entsprechende Europaparteibezeichnung hinzuzufügen, in jedem Falle aber auf dem Wahlzettel, egal um welche Wahl auf welcher Ebene es sich handelt.

    Auch das Thema der Individualmitgliedschaft halte ich für wichtig.

    Ich selbst, ein Freund des Europas der Regionen, habe für meine Ansichten in meiner Region keine parteipolitische Entsprechung. Auf europäischer Ebene wäre die EFA (EUROPEAN FREE ALLIANCE) meine politische Heimat. Leider läßt diese keine ordentliche Individualmitgliedschaft zu. Individualmitgliedschaften könnten aber helfen, das Bewußtsein für europäische Parteien zu schärfen. So werbe ich in meinem Umfeld zwar für die Ideen der EFA, allerdings können diese sich im Erfolgsfalle nicht weiter entwickeln, da mangels Mitgliedspartei in unserer Region ein symbolisch bindendes Element, wie so eine Individualmitgliedschaft nicht möglich ist. Ein gebündeltes Vorkommen von Individualmitgliedschaften in einer Region könnte im Falle der EFA helfen, "weiße Flecken" auf der europäischen Parteienlandkarte zu minimieren, da die vereinende Wirkung einer Individualmitgliedschaft durchaus auch zu Neugründungen ordentlicher Mitgliedsparteien führen könnte.

    Bei anderen Parteien kännten Individualmitgliedschaft ähnlich wirken oder auch dazu führen, daß bestehende nationale Parteien Zulauf bekämen. Dieser Zulauf allerdings - und das halte ich für sehr vorteilhaft - mit einem ausgesprochen europäischen Hintergrund sich in die Meinungsbildung der Partei einbringt, wenn man es denn zulassen möchte.

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