02 Februar 2016

Europäische Parteien: im Kommen oder im Niedergang?

EVP, SPE, ALDE & Co.: Die europäischen Parteien (hier eine Übersicht) könnten der Schlüssel zu einer repräsentativen Demokratie auf europäischer Ebene sein, doch bislang hört man in der Öffentlichkeit nur selten von ihnen. Welche Rolle sollen sie in der EU in Zukunft spielen, und was ist nötig, um das zu erreichen? In einer Serie von Gastartikeln antworten hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Wissenschaft auf diese Frage. Heute: Isabelle Hertner. (Zum Anfang der Serie.)

„Die europäischen Parteien haben einen weiten Weg zurückgelegt. Aber erfüllen sie schon die Rolle, die der Vertrag für sie vorsieht?“
Wenn ich meine Bachelor-Studenten (die größtenteils Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen studieren) frage, ob sie schon einmal von den politischen Parteien auf europäischer Ebene gehört haben, schütteln die meisten von ihnen mit dem Kopf. Nur diejenigen mit einem besonders großen Interesse für Parteien haben möglicherweise schon einmal von den beiden größten europäischen Parteien gehört, der Europäischen Volkspartei (EVP, Mitte-rechts) und der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE, Mitte-links). Im Jahr 2015 gab es ungefähr fünfzehn europäische Parteien. Die meisten Menschen, meine Studenten eingeschlossen, haben wahrscheinlich nie von ihnen gehört.

Dieser Mangel an Wissen über die europäischen Parteien mag überraschend erscheinen. Immerhin gibt es sie schon seit einer ganzen Weile. Als lose Bündnisse nationaler Parteien (und unter etwas anderen Namen) wurden die EVP, die SPE und die Liberalen (Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa, ALDE) schon in den 1970er Jahren gegründet, vor der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament 1979.

Nicht erst seit gestern

Seitdem haben sich die Anführer der europäischen Parteien für einen offizielleren Status eingesetzt, einschließlich rechtlicher Anerkennung und größerer Ressourcen. Dank dieser Bemühungen wurden die europäischen Parteien im Vertrag von Maastricht 1992 erstmals explizit erwähnt. Der sogenannte „Parteienartikel“ 138a EGV, der einem ähnlichen Artikel im deutschen Grundgesetz folgte, legte fest:
Politische Parteien auf europäischer Ebene sind wichtig als Faktor der Integration in der Union. Sie tragen dazu bei, ein europäisches Bewusstsein herauszubilden und den politischen Willen der Bürger der Union zum Ausdruck zu bringen.
Als eine Folge dieser rechtlichen Anerkennung gründeten die europäischen Parteienbündnisse sich Anfang der 1990er Jahre neu und begannen, sich selbst als Parteien zu bezeichnen. Doch in den Augen der europäischen Parteien war der Bezug im EU-Vertrag nicht genug. Die Parteieliten haben seitdem erfolgreich auf mehr Regulierung, stärkere Rechte und bessere Ressourcen gedrängt.

Geld und Personal

Vor allem erhalten die europäischen Parteien aufgrund einer EU-Verordnung seit Juli 2004 ein jährliches Budget vom Europäischen Parlament. Diese Zahlungen können sich auf bis zu 85 Prozent ihrer Ausgaben belaufen, während der Rest durch ihre eigenen Ressourcen, etwa Mitgliedsbeiträge der nationalen Parteien oder Spenden, abgedeckt werden muss. Wie viel Geld eine europäische Partei bekommt, hängt davon ab, wie viele Sitze sie bei der letzten Europawahl gewonnen hat. Beispielsweise hat die Europäische Volkspartei, die derzeit die größte Anzahl an Sitzen einnimmt, 2015 über acht Millionen Euro vom Europäischen Parlament erhalten.

Die europäischen Parteien können diese Finanzhilfe für verschiedene Arten von Ausgaben nutzen: Sitzungen und Konferenzen, Veröffentlichungen und Werbung, Verwaltungs-, Personal- und Reisekosten sowie Kosten für den Europawahlkampf. Als Ergebnis der Verordnung von 2004 haben sich die europäischen Parteien stark institutionalisiert. Sie kamen in die Lage, ihre Hauptquartiere in Brüssel mit festen Mitarbeitern auszustatten. Mehr noch, seit 2007 haben sie zudem parteinahe politische Stiftungen (Thinktanks) gegründet, die Veranstaltungen organisieren und Politikberichte veröffentlichen.

Die europäischen Parteien haben seit den frühen 1990er Jahren also einen weiten Weg zurückgelegt. Aber erfüllen sie auch die Rollen und Funktionen, die der Maastrichter Vertrag für sie vorsieht? Inwieweit tragen sie tatsächlich „dazu bei, ein europäisches Bewusstsein herauszubilden und den politischen Willen der Bürger der Union zum Ausdruck zu bringen“? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir einen genaueren Blick auf ihre jüngsten Aktivitäten und Errungenschaften werfen.

Politische Inhalte, Ämter und Stimmen?

Nationale politische Parteien werden oft als Organisationen beschrieben, die politische Inhalte, Wählerstimmen und Ämter erreichen wollen. In ihrem Versuch, „echte“ Parteien zu werden, haben die europäischen Parteien sich dasselbe Ziel gesetzt.

Als Organisationen, die politische Inhalte verfolgen, veröffentlichen sie vor jeder Europawahl immer detailliertere und besser durchdachte Wahlprogramme mit Politikversprechen. Die nationalen Mitgliedsparteien sind dabei am Schreibprozess beteiligt und müssen die europäischen Wahlprogramme auch ratifizieren. Außerdem hat die Sozialdemokratische Partei Europas 2013 ein „Grundsatzprogramm“ veröffentlicht, in dem sie ihre zentralen Werte und ihre langfristige Vision für die europäische Integration beschreibt.

Spitzenkandidaten

Wichtig ist aber, dass die europäischen Parteien in den letzten Jahren auch im Streben nach Ämtern eine Rolle spielen. In der Vergangenheit wurden Spitzenposten wie die Präsidentschaft der Europäischen Kommission von den Regierungschefs hinter den verschlossenen Türen des Europäischen Rates ausgehandelt. Im Juli 2013 jedoch forderten die europäischen Parteien diese Praxis erstmals heraus.

Eine Anzahl von Europaabgeordneten nahm eine Resolution an, die vorschlug, dass die europäischen Parteien ihre Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten deutlich vor der Europawahl 2014 ernennen sollten, sodass diese einen europaweiten Wahlkampf über europäische Themen führen könnten. Zudem schlugen die Abgeordneten vor, dass der Name und das Logo der europäischen Parteien auf dem Wahlzettel erscheinen sollten, um diese für die Wähler sichtbarer zu machen. Der Kommissionspräsidentschaftskandidat der größten Fraktion im neu gewählten Parlament sollte dann aus Sicht der Abgeordneten als Erster für das Amt in Betracht gezogen werden.

Als Nächstes wählten alle größeren europäischen Parteien ihre Kandidaten für die Kommissionspräsidentschaft aus. Diese „Spitzenkandidaten“ führten 2014 einen europaweiten Wahlkampf und erschienen zusammen in Fernsehdebatten. Dies führte dazu, dass EU-Politiker wie der Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz und der frühere Eurogruppen-Vorsitzende Jean-Claude Juncker weitaus sichtbarer wurden und EU-Themen in der Kampagne eine zentrale Rolle spielten. So diskutierten die Spitzenkandidaten zum Beispiel über Fragen wie die Eurokrise, die Zukunft des Euro oder das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP.

Nach Ämtern streben

Einige Regierungschefs, wie etwa der britische Premierminister David Cameron, lehnten das gesamte Konzept der Spitzenkandidaten ab und bezeichneten den Auswahlprozess als illegitim und EU-vertragswidrig. Trotz dieser Vorbehalte wurde Jean-Claude Juncker, der Spitzenkandidat der EVP, zum Präsidenten der Europäischen Kommission gewählt.

Das Beispiel der Europawahl 2014 zeigt also, dass die europäischen Parteien zunehmend wie klassische, nach Ämtern strebende Parteien geworden sind. Es zeigt auch, dass die europäischen Parteien beginnen, durch ihre Beteiligung am Wahlkampf einen Beitrag zur Entstehung eines „europäischen Bewusstseins“ unter Europas Bürgern zu leisten.

Doch trotz der steigenden Bemühungen der europäischen Parteien, politische Inhalte zu gestalten und Ämter zu gewinnen, sind ihnen teilweise durch ihre Mitgliedsparteien die Hände gebunden. Dies wird deutlich, wenn man die dritte Funktion von Parteien betrachtet: das Streben nach Wählerstimmen.

Nationale Parteien sitzen weiterhin am Steuer

Obwohl die Europawahl 2014 den Aufstieg der Spitzenkandidaten und der dahinterstehenden europäischen Parteien brachte, waren es weiterhin die nationalen Parteien, die die Kandidaten für das Parlament selbst auswählten. Mehr noch, die nationalen Parteien organisierten auch weiterhin ihre eigenen Wahlkampagnen und identifizierten dafür selbst die Schlüsselthemen.

Wenig überraschend nutzten die meisten nationalen Parteien im Wahlkampf ihr eigenes Wahlprogramm, nicht dasjenige der europäischen Partei. Nationale Parteien sehen es also weiterhin als ihre Aufgabe an, den „politischen Willen der Bürger der Union zum Ausdruck zu bringen“ und setzen sich der Stärkung der europäischen Parteien vehement entgegen.

Die Frage der Individualmitgliedschaft

Dieser Widerstand wird noch deutlicher, wenn wir die jüngsten Versuche der europäischen Parteien betrachten, eine Individualmitgliedschaft einzuführen. Eine „richtige“ Partei zu sein bedeutet für einige europäische Parteien, auch Individualmitglieder zu haben. Bis vor kurzem konnten nur nationale Parteien und einige angeschlossene Organisationen (etwa Frauenverbände) beitreten. Diese Situation hat sich geändert, und eine Anzahl europäischer Parteien, etwa EVP, SPE, ALDE und die Europäische Grüne Partei (EGP), erlauben nun auch Einzelpersonen den Beitritt, obwohl die Bedingungen für diese Individualmitgliedschaft je nach Partei stark variieren.

Entscheidend aber ist, dass sich bisher nur die europäischen Liberalen dazu entschieden haben, ihren Individualmitgliedern das Stimmrecht beim jährlichen Parteikongress zu geben. Dabei muss man bedenken, dass es sich hier nicht um die gesamte Individualmitgliedschaft handelt, sondern um eine Handvoll Delegierte. Pro 500 Individualmitglieder wird ein/e Delegierte/r für den Parteikongress gewählt

Die anderen europäischen Parteien laden zwar einige Individualmitglieder zur Teilnahme am Parteikongress und an bestimmten Arbeitsgruppen ein und räumen ihnen dort auch das Rederecht ein. Sie haben ihnen jedoch noch immer keine formalen Stimmrechte gegeben.

Um dies zu ändern, müssten die Satzungen der SPE, EVP und EGP umgeschrieben werden. Die meisten nationalen Parteien aber wollen das verhindern, um weiterhin selbst die Türwächter der Parteipolitik in der Europäischen Union zu bleiben. Die europäischen Parteien mögen also „im Kommen“ sein – ihre Macht aber wird nach wie vor durch ihre nationalen Mitgliedsparteien beschnitten.

Dr. Isabelle Hertner lehrt Deutsche und Europäische Politik an der Universität Birmingham. Sie ist außerdem stellvertretende Direktorin des Institute for German Studies und Direktorin des Graduate Centre for Europe. Ihr Forschungsschwerpunkt sind europäische und nationale Parteien. Derzeit schreibt sie an einem Buch über sozialdemokratische Parteien und die Europäische Union.

Die Zukunft der europäischen Parteien

1: Serienauftakt
2: Europäische Parteien: Von der Radnabe zum NetzwerkReinhard Bütikofer
3: Europäische Parteien: im Kommen oder im Niedergang? [DE / EN]Isabelle Hertner
4: Zur künftigen Rolle der europäischen Parteien [DE / EN] ● Sir Graham Watson
5: Die europäischen Parteien als Verteidiger des europäischen Gemeinwohls ● Joseph Daul
6: Cocktail-Party oder politische Partei? Zur Zukunft der gesamteuropäischen Parteien [DE / EN] ● Julie Cantalou
7: „Es ist naiv zu denken, dass die Parteispitzen allein die Debatte in Richtung mehr Europa lenken könnten“ [DE / FR] ● Gabriel Richard-Molard
8: Die europäischen Parteien und die Grenzen und Potenziale Europas [DE / ES] ● Mar Garcia Sanz
9: Europäische Parteien – reichlich untererforschte Rohdiamanten [DE / EN] ● Michael Kaeding und Niko Switek
10: Parteien derselben politischen Familie föderalisieren [DE / FR] ● Pierre Jouvenat

Übersetzung aus dem Englischen: Manuel Müller.
Bilder: European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; Isabelle Hertner.

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