18 September 2025

Nach der Zeitenwende: Deutschland und die Zukunft der Sicherheit in Europa

Von Oleksiy Kandyuk
A chess knight stands alone on the chessboard.
Kann Deutschland die Führung für eine erneuerte und widerstandsfähigere europäische Sicherheitsordnung übernehmen?

Im Jahr 2025 steht Europa an einem historischen Scheideweg. Der andauernde Krieg Russlands gegen die Ukraine, die Aushöhlung der US-Sicherheitsgarantien unter der zweiten Amtszeit von Donald Trump und die zunehmend volatile globale Sicherheitslage haben tiefgreifende Schwachstellen in der europäischen Sicherheitsarchitektur offenbart. Angesichts dieser Entwicklungen wird der Ruf nach stärkeren europäischen Verteidigungskapazitäten und einer autonomeren Führungsrolle immer lauter. Im Mittelpunkt steht dabei eine entscheidende Frage: Kann Deutschland, Europas größte Volkswirtschaft und einflussreichste politische Macht, die Führung übernehmen, um eine erneuerte und widerstandsfähigere europäische Sicherheitsordnung zu ermöglichen?

Zeitenwende

Bis vor Kurzem zögerte Deutschland, eine solche Rolle zu übernehmen. Geprägt von seiner nach 1945 entwickelten Identität als „Zivilmacht“, vermied Berlin traditionell militärisch orientierte Strategien und setzte stattdessen auf Diplomatie, Handel und multilaterale Institutionen. Diese strategische Kultur – verwurzelt in der Logik des „Wandels durch Handel“ – basierte auf der impliziten Annahme, die Vereinigten Staaten würden Europas Sicherheit auf unbestimmte Zeit immer weiter gewährleisten. Diese Annahme gilt nicht mehr.

Der aktuelle Kontext erfordert ein grundsätzliches Umdenken in der deutschen Verteidigungspolitik und außenpolitischen Doktrin. Die „Zeitenwende“ – erstmals 2022 von Bundeskanzler Olaf Scholz angekündigt – markierte einen rhetorischen Wendepunkt und erkannte an, dass Deutschland erheblicher Investitionen in die Verteidigung leisten und eine selbstbewusstere Rolle innerhalb der NATO- und EU-Strukturen übernehmen musste. Doch die Umsetzung dieser Zeitenwende wurde bisher durch Haushaltspolitik, institutionelle Trägheit und öffentliche Zögerlichkeit behindert.

Unklarheit mit Folgen

Diese Unklarheit hatte spürbare Folgen. In Abwesenheit eines konsistenten Ansatzes von Deutschland blieb auch Europas Antwort auf die wachsenden Sicherheitsherausforderungen oft fragmentiert und rein reaktiv.

Dass Deutschland sich 2023/24 trotz anhaltenden Drucks der Verbündeten weigerte, der Ukraine Taurus-Langstreckenraketen zu liefern, verschärfte die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der NATO und der EU über Militärhilfe. Verzögerungen bei der Umsetzung des 100 Milliarden Euro schweren Sonderverteidigungsfonds und die Unentschlossenheit bei der Beschaffung von F-35-Kampfflugzeugen bremsten zusätzlich den Fortschritt bei der Stärkung der europäischen kollektiven Verteidigungsfähigkeit. Dass Deutschland sich letztendlich zur Anschaffung der F-35 entschied, stellt nicht nur eine Annäherung an die USA dar, sondern ist auch ein notwendiger Schritt zur Wahrung von Interoperabilität und operativer Glaubwürdigkeit.

Im Bereich der Energiesicherheit erschwerte und verzögerte Deutschlands anfänglicher Unwille gegenüber einem umfassenden Embargo auf russische Gasimporte die gemeinsame Reaktion der EU auf den Krieg erheblich. Zwar äußerten auch mehrere andere Mitgliedstaaten, insbesondere die Slowakei, Österreich und Ungarn, aufgrund ihrer strukturellen Energieabhängigkeit Vorbehalte. Doch Deutschlands Position fiel dabei aufgrund seiner zentralen Rolle für die EU-Politik und seiner langjährigen Verflechtung mit der russischen Energieinfrastruktur, insbesondere durch Nord Stream I und II, weitaus schwerer ins Gewicht.

Deutschlands Zögern zwang andere Mitgliedstaaten zur Verabschiedung fragmentierter nationaler Energiestrategien. Diese unkoordinierte Reaktion schadete der Glaubwürdigkeit der EU als kohärenter geopolitischer Akteur und legte die strukturellen Asymmetrien in ihrer Energiearchitektur offen. Zwar hat Berlin seine Haltung inzwischen neu ausgerichtet – durch den Ausbau der LNG-Infrastruktur, die Verringerung der Importabhängigkeit und die Förderung gemeinsamer Gasbeschaffungsmechanismen –, doch seine anfängliche Ambivalenz offenbarte die anhaltenden Spannungen zwischen nationalen Wirtschaftskalkülen und den Erfordernissen kollektiver strategischer Autonomie. Deutschlands Fähigkeit, in Zukunft eine führende Rolle in der Energiesicherheit zu übernehmen, wird von seiner Bereitschaft abhängen, die geopolitischen Konsequenzen früherer politischer Entscheidungen zu verinnerlichen und entsprechend zu handeln.

Deutschlands strategische Neuausrichtung

Unter Bundeskanzler Friedrich Merz und der neuen CDU-geführten Koalition signalisiert Deutschland einen deutlicheren strategischen Wandel. Merz forderte offen eine „radikale Überholung“ des deutschen Sicherheitsapparats. In einem Moment der Offenheit räumte er die unbequeme Realität ein: „Die absolute Priorität muss jetzt darin bestehen, Europa schnell zu stärken, damit wir Schritt für Schritt von den Vereinigten Staaten unabhängig werden können.“

Diese Sichtweise, die vor einem Jahrzehnt in der etablierten deutschen Politik undenkbar gewesen wäre, spiegelt die Schwere der aktuellen Bedrohungen und die schwindende Verlässlichkeit transatlantischer Garantien wider. Sie zeugt auch von einer tieferen Erkenntnis: Deutschlands traditionell zurückhaltender Ansatz reicht nicht mehr aus. Bereits jetzt zeichnen sich spürbare Veränderungen ab. Anfang 2025 verabschiedete Deutschland eine historische Verfassungsänderung, die die Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben aufhebt. Dieser Schritt erweitert und vertieft die Zeitenwende und bringt Deutschland in neues Terrain jenseits seiner Zivilmacht-Tradition.

Auf der Suche nach einer selbstbewussteren Rolle

Deutschland strebt aktiv eine selbstbewusstere Rolle in europäischen Sicherheitsinitiativen an, insbesondere als Reaktion auf die Ungewissheit des Engagements der USA unter der Trump-Regierung. Während Initiativen wie die EU-geführte „Koalition der Willigen“ für die Ukraine vor allem von Großbritannien und Frankreich vorangetrieben werden, leistet Deutschland bedeutende Beiträge zur Stärkung seiner Position in multilateralen Verteidigungsrahmen.

So schlug Friedrich Merz im Dezember 2024 die Einrichtung einer neuen europäischen Kontaktgruppe aus Deutschland, Frankreich, Polen und Großbritannien vor. Ziel dieser Gruppe ist es, Waffenlieferungen an die Ukraine unabhängig vom US-geführten „Rammstein-Format“ zu koordinieren. Deutschland leitet zudem Gespräche mit Frankreich und Großbritannien über eine gemeinsame nukleare Abschreckung als Ergänzung zum bestehenden US-Atomschirm ein. Im Oktober 2024 unterzeichneten Deutschland und Großbritannien die Trinity-House-Vereinbarung, deren Ziel eine Vertiefung der bilateralen Verteidigungskooperation in allen Bereichen ist. Deutschland leitet zudem die im Oktober 2022 gestartete European Sky Shield Initiative, die die gemeinsame Beschaffung von Luftabwehrsystemen durch 15 europäische Länder vorsieht.

Von der Zeitenwende zum Epochenbruch

Doch es gibt weiterhin Hindernisse. Trotz der wachsenden Zustimmung zu höheren Verteidigungsausgaben (im März 2025 waren es 66 Prozent der Bevölkerung) hält Berlins strategische Kultur noch nicht vollständig Schritt. Die öffentliche Debatte ist nach wie vor von Ambivalenz gegenüber dem Einsatz von Gewalt geprägt, und bürokratische Trägheit verzögert weiterhin die mmilitärische Beschaffung und Stationierung.

Darüber hinaus verdeutlicht Deutschlands zurückhaltende Haltung bei der Lieferung moderner Offensivwaffen an die Ukraine – wie etwa die (trotz zunehmend positiver Signale von Merz) fortdauernde Weigerung, Taurus-Langstreckenraketensysteme zu liefern – die Grenzen des aktuellen strategischen Wandels. Deutschland befindet sich in vielerlei Hinsicht noch immer im Umbruch: Rhetorisch ist es zum Wandel bereit, strukturell tut es sich schwer, seinen Versprechen gerecht zu werden.

Um die Herausforderungen dieser neuen geopolitischen Ära – die der neue Bundeskanzler als „Epochenbruch“ bezeichnet hat – zu meistern, muss Deutschland seinen derzeitigen Kurs in eine nachhaltige Strategie europäischer Führung umwandeln. Folgende Schritte sind entscheidend:

1. Den strategischen Kulturwandel instiutionalisieren

Deutschland muss die Prinzipien der Zeitenwende in seinen institutionellen Rahmen integrieren. Dies bedeutet eine Straffung der militärischen Beschaffung, die Schaffung klarer operativer Mandate für Bundeswehreinsätze usw. Ein ständiger Nationaler Sicherheitsrat, der Außen-, Verteidigungs- und Wirtschaftspolitik integriert, würde helfen, um Strategien zu koordinieren und schneller umzusetzen.

Friedrich Merz hat bereits seine starke Unterstützung für eine solche Initiative zum Ausdruck gebracht und sie als Schlüsselelement seiner umfassenderen Vision einer agileren und kohärenteren nationalen Sicherheitsarchitektur dargestellt. Der Bundeskanzler betonte, dass „die Welt nicht auf uns warten wird“, und hob die Dringlichkeit hervor, von Ad-hoc-Reaktionen zu struktureller Bereitschaft überzugehen.

2. In der europäischen Verteidigungspolitik führen, nicht folgen

Deutschland sollte die Initiative ergreifen, ein ständiges EU-Gremium zur verteidigungspolitischen Koordinierung einzurichten – einen institutionellen Mechanismus, um Europas Krisenreaktionsfähigkeit deutlich zu verbessern. Ein solches Gremium, das im Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) angesiedelt oder eng mit ihm verbunden sein sollte, würde eine ständige Plattform für operative Planung, nachrichtendienstliche Koordinierung und schnelle Entscheidungsfindung zwischen Koalitionen williger Mitgliedstaaten bieten und damit über das herausgehen, was derzeit durch den EU-Militärstab oder durch Ad-hoc-Koalitionen geleistet wird.

Während die bestehenden Strukturen auf Konsens basieren und oft wenig flexibel sind, könnte dieser neue Mechanismus nach einem modularen, mandatsbasierten Modell funktionieren. Dies würde eine tiefere Integration ermöglichen und gleichzeitig in der institutionellen Architektur der EU verankert bleiben. Er würde NATO-Strukturen nicht duplizieren, sondern ergänzen, indem er auf EU-Ebene eine Koordinierungslücke schließt, die in Situationen auftritt, in denen die NATO politisch handlungsunfähig oder institutionell nicht aktiv ist. Darüber hinaus könnte das neue EU-Gremium mehrere laufende Initiativen wie die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO), den Europäischen Verteidigungsfonds (EVF) und den Strategischen Kompass in einem kohärenteren und operativ wirksameren Rahmen zusammenführen.

3. Innerhalb und außerhalb der EU-Institutionen arbeiten

Die Europäische Kommission hat durch bestehende und neue Initiativen wie den Europäischen Verteidigungsfonds, die PESCO, den Aktionsplan zur militärischen Mobilität und das Weißbuch für die europäische Verteidigung eine stärkere Rolle in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik übernommen. Diese Mechanismen haben dazu beigetragen, die gemeinsame Entwicklung von Fähigkeiten zu rationalisieren, grenzüberschreitende Truppenbewegungen zu verbessern und die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in Forschung und Entwicklung zu fördern. Doch trotz dieser Ambitionen bleibt das institutionelle Mandat der Kommission begrenzt. Ihr fehlt die rechtliche Befugnis, die Verteidigungspolitik der Mitgliedstaaten zu steuern oder gemeinsame Militäroperationen zu leiten.

Deutschlands Bemühungen um eine sicherheitspolitische Führungsrolle müssen deshalb eine aktive Zusammenarbeit mit gesamteuropäischen Initiativen sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU-Strukturen beinhalten. Deutschland muss also einen selektiven oder national fragmentierten Ansatz vermeiden und stattdessen eine Strategie umsetzen, die eine echte europäische Logik der Verteidigungsintegration widerspiegelt.

4. Strategische Rahmen mit Frankreich und Polen abstimmen

Das Weimarer Dreieck lag lange Zeit als formelles Instrument strategischer Koordinierung brach und birgt erhebliche ungenutzte Potenziale, um als ein Eckpfeiler der europäischen Verteidigungs- und Sicherheitsarchitektur zu dienen. Frankreichs langjähriges Eintreten für europäische strategische Autonomie, Polens selbstbewusste Sicherheitsorientierung an der Ostflanke und Deutschlands zentrale wirtschaftliche und logistische Rolle spiegeln eine natürliche Arbeitsteilung wider. Angesichts des zunehmenden geopolitischen Drucks und eines zerbrechenden transatlantischen Konsenses könnte die Reaktivierung dieses trilateralen Formats kritische Lücken der europäischen kollektiven Handlungsfähigkeit in den Bereichen Verteidigung, Beschaffung und Krisenreaktion schließen.

Ob das Weimarer Dreieck funktioniert, hängt jedoch von der politischen Ausrichtung seiner Mitglieder ab. Die Wiederwahl von Ministerpräsident Donald Tusk hat Polens Europapolitik vorübergehend wieder stärker auf Linie mit der strategischen Ausrichtung der EU gebracht. Es ist jedoch unsicher, ob dies über die laufende Legislaturperiode hinaus Bestand haben wird. Die langfristige Kohärenz des Dreiecks hängt davon ab, ob es gelingt, Polens Teilnahme in einem breiteren gesellschaftlichen Konsens über europäische Integration und strategische Autonomie zu verankern. Die Wiederbelebung des Dreiecks darf deshalb nicht als vollendete Tatsache angesehen werden, sondern als ein zeitkritisches Gelegenheitsfenster, das jetzt eine institutionelle Verfestigung, öffentliche Legitimität und klare Ergebnisse verlangt.

Erste ermutigende Schritte gab es bereits: Die für 2025 geplanten Militärübungen des Weimarer Dreiecks – ausgerichtet von Polen und mit Schwerpunkt auf hybriden Bedrohungen und Interoperabilität – könnten zu einem grundlegenden Muster für eine umfassendere gemeinsame Streitkräfteplanung der EU werden. Der Beitritt Frankreichs zum deutsch-polnisch-niederländischen Militärmobilitätspakt stärkt die operative Logistik für schnelle Einsätze und bietet eine Ebene praktischer Integration. Zudem zeigt die Einigkeit der Verteidigungsminister:innen über die Unterstützung der Ukraine – einschließlich harmonisierter Ausrüstungstransfers und politischer Hilfestellung für Kyjiws EU-/NATO-Kurs – einen sich abzeichnenden Konsens über zentrale strategische Prioritäten. Merz’ Entscheidung, seine ersten Auslandsbesuche nach Paris und Warschau zu machen, die Einrichtung eines deutsch-französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrats sowie ein symbolträchtiger französisch-polnischer Vertrag unterstreichen die bewussten Bemühungen um die Wiederherstellung trilateraler Glaubwürdigkeit. Dennoch bleiben weitere Institutionalisierungsschritte unerlässlich – möglicherweise durch ein ständiges Sekretariat, regelmäßige hochrangige Gipfeltreffen sowie formalisierte Mechanismen für die gemeinsame Entwicklung militärischer Fähigkeiten.

5. Politische Verantwortung annehmen

Vor allem aber muss Deutschland seine Zurückhaltung bei der Übernahme einer Führungsrolle abschütteln. Als größter Mitgliedstaat der EU hat Deutschland sowohl die Fähigkeit als auch die Verantwortung, entschlossen zu handeln. Das bedeutet, nicht nur einen finanziellen Beitrag zu leisten, sondern auch die politische Agenda zu setzen, Konsens zu schaffen und die europäischen Interessen in einer zunehmend feindseligen Welt zu verteidigen.

Deutschlands Wandel von einer zivilen Macht zu einem strategischen Akteur ist noch lange nicht abgeschlossen. Aber wenn er mit Klarheit und Entschlossenheit vorangetrieben wird, könnte er den Beginn eines autonomeren, kohärenteren und sichereren Europas markieren. In einer Welt, in der die Regeln neu geschrieben werden, kann sich das vereinte Europa kein zögerliches Deutschland leisten. Es braucht ein Deutschland, das führt.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch in der Reihe Berlin Perspectives des Instituts für Europäische Politik (IEP).


Übersetzung: Manuel Müller.
Bilder: Schachfigur: Arthur A (americanaez225) [Unsplash License], via Unsplash; Porträt Oleksiy Kandyuk: privat [alle Rechte vorbehalten].

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