Die Organe geben den Bürgerinnen und Bürgern und den repräsentativen
Verbänden in geeigneter Weise die Möglichkeit, ihre Ansichten in
allen Bereichen des Handelns der Union öffentlich bekannt zu geben
und auszutauschen.
Die große
Europa-Rede, die der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck vor zehn
Tagen gehalten hat (Wortlaut),
ist heute schon fast in Vergessenheit geraten, was wohl die Annahme bestätigt,
dass sie die europapolitische Debatte nicht
so besonders weit vorangebracht hat. Dennoch möchte ich hier
gerne noch einmal auf einen bestimmten Punkt zurückkommen, den Gauck
in seiner Ansprache hervorhob: die Idee einer „europäischen
Agora“. Diesem Konzept liegt nämlich, wie mir scheint, ein
bestimmtes Verständnis partizipativer Demokratie zugrunde, das auch
in der Europäischen Kommission verbreitet ist – und das verkennt,
wie moderne Demokratien funktionieren und worin das Akzeptanzproblem
der Europäischen Union in Wirklichkeit besteht.
Joachim Gauck und die Europäische Kommission
Wörtlich erklärte Gauck
in seiner Rede, sein „Wunschbild für das künftige Europa“ sei
eine europäische Agora, ein gemeinsamer Diskussionsraum für das demokratische Miteinander. Diese Agora wäre noch umfassender als die Schülerinnen und Schüler sie vielleicht aus dem Geschichtsbuch kennen, den im antiken Griechenland zentralen Versammlungsort, Kult- und Gerichtsplatz gleichzeitig, einen Ort des öffentlichen Disputs, wo um das geordnete Zusammenleben gerungen wurde.
Für die EU heute, so Gauck weiter, sei „ein erweitertes Modell“ dieser Agora
notwendig, wobei er insbesondere eine ausführlichere
Europa-Berichterstattung in den Medien vor Augen hatte. Die „Akteure
auf der Agora“ aber bleiben für ihn „die Bürger“, die man
„nicht als untertänig, desinteressiert und unverständig abtu[n]“
dürfe. Notwendig sei „mehr europäische Bürgergesellschaft“:
Die EU habe „es verdient, dass ihre Bürgerinnen und Bürger
Interesse zeigen und sich informieren“, und jeder Einzelne müsse
sich viel stärker einbringen, denn: „Ein besseres Europa entsteht
nicht, wenn wir die Verantwortung dafür immer nur bei anderen
sehen.“
Ich selbst habe dieses
Argument Gaucks zunächst etwas spöttisch damit abgetan, dass „die Legitimationsprobleme der
Europäischen Union womöglich doch ein bisschen tiefer gehen, als
dass man sie allein auf ignorante Medien oder faule Bürger
zurückführen könnte“. Wenige Tage nach der Rede jedoch nahm ich
an einer Veranstaltung teil, bei der über die umstrittene
EU-Konzessionsvergaberichtlinie diskutiert wurde, die in Deutschland
zu einer reichlich irrationalen Furcht vor einer Privatisierung der Wasserversorgung geführt hat. Mit dabei war auch eine Vertreterin der
Europäischen Kommission, die sehr freundlich und vernünftig
erklärte, welche Absichten ihre Institution beim Vorschlag der
Richtlinie gehabt hatte. Etwas ratlos reagierte sie jedoch auf die
Frage, was denn eigentlich schiefgegangen war, dass die Bedenken in
der Bevölkerung nicht schon viel früher in der Wahrnehmung der
europäischen Entscheidungsträger angekommen waren. Die Kommission
jedenfalls, so betonte sie glaubwürdig, nehme die Sichtweise der
europäischen Bürger immer wichtig, sie bemühe sich um maximale
Transparenz und sie könne jeden Einzelnen nur einladen, sich an den
Online-Konsultationen zu beteiligen, die regelmäßig vor wichtigen
Politikvorschlägen durchgeführt werden. Der Bundespräsident hätte es wohl kaum schöner sagen können.
Partizipative
Demokratie auf europäischer Ebene
Und
tatsächlich: Die supranationalen Organe der Europäischen Union sind
transparenter und bieten mehr Partizipationsmöglichkeiten als in so
manchem Mitgliedstaat auf nationaler Ebene üblich ist. Die
„legislative Beobachtungsstelle“ des Europäischen Parlaments ermöglicht
es, europäische Gesetzgebungsverfahren detailliert mitzuverfolgen.
Auf der Homepage des Parlaments wird jede noch so langweilige
Ausschusssitzung live als Video übertragen (natürlich simultan gedolmetscht). Schon
seit zwei Jahrzehnten haben europäische Bürger ein Petitionsrecht
sowie die Möglichkeit, sich an den Europäischen Bürgerbeauftragten zu wenden. Und dann gibt es eben noch die
erwähnten Online-Konsultationen,
die 2003 unter Kommissionspräsident Romano Prodi (Dem./ELDR)
eingeführt wurden, mit dem expliziten Ziel, dass vor wichtigen
Initiativen eine möglichst große Zahl von Betroffenen möglichst
früh ihre Meinung unterbreiten kann, sodass der Kommissionsvorschlag
bereits ein möglichst abgewogener Kompromiss zwischen möglichst
vielen Interessen ist. Entsprechend trägt die zu diesem Zweck
eingerichtete Homepage dann auch den schönen Titel „Ihre Stimme in Europa“.
Haben
wir hier also nicht unsere „europäische Agora“? Zwar vielleicht
kein Kult- und Gerichtsplatz, aber doch ein Forum, wo sich die Bürger
einbringen können, um, ganz wie Joachim Gauck es wünscht, im
öffentlichen Disput um das geordnete Zusammenleben zu ringen? Und
kann man es der Europäischen Kommission zum Vorwurf machen, dass
kaum ein Normalbürger schon von diesen Kommunikationskanälen gehört
– geschweige denn sie jemals genutzt hat? Ist es also wirklich nur
ein Mangel an Information und Gestaltungswille, der die europäischen
Bürger davon abhält, ihrer Stimme in Brüssel Gehör zu
verschaffen?
Aufmerksamkeitsökonomie
Worin
nach meinem Eindruck das Missverständnis bei den Verfechtern einer
partizipatorisch-deliberativen Demokratie auf europäischer Ebene
besteht, sind die Bedingungen, unter denen Politik in modernen
Gesellschaften betrieben wird. Diese unterscheiden sich fundamental
von jenen der altgriechischen Demokratien. Nicht nur ist unser
politisches System mit rund 500 Millionen Bürgern etwas größer als
ein Stadtstaat, in dem man sich mal eben so auf dem Marktplatz
trifft. Noch wichtiger ist, dass die allermeisten dieser Bürger auch
sehr viel weniger Gelegenheit haben, um sich mit Politik zu
beschäftigen: Denn die erwachsenen, freien Männer, die sich auf der
Agora versammelten, um über ihre gemeinsamen Angelegenheiten zu
diskutieren, hatten dafür vor allem deshalb so viel Zeit, weil sich
um die wirtschaftlichen Tätigkeiten ihre vom politischen Prozess
ausgeschlossenen Frauen und Sklaven kümmerten. Wir heute hingegen
müssen selbst arbeiten, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen, und
nur ein kleiner Teil von uns hat das Glück, sich bei seiner Arbeit
mit Europapolitik beschäftigen zu können.
Und
schließlich ist auch die Art der politischen Entscheidungen
inzwischen sehr viel komplexer, als sie in der Antike war. Das
politische System ist heute zu einer gesellschaftlichen Feinsteuerung
fähig, wie sie sich Demosthenes oder Perikles nicht im Traum hätten
vorstellen können: Unsere Gesetze unterscheiden nicht nur zwischen
Erlaubt und Verboten, sondern setzen differenzierte Anreizsysteme für
soziales Verhalten; unsere Außenpolitik besteht nicht nur aus
Frieden und Krieg, sondern aus hunderten Abstufungen der
Zusammenarbeit; und unser Umweltrecht regelt den Gebrauch von
Chemikalien, von denen nur Experten überhaupt die Namen kennen.
Wollte ein einzelner Bürger sich in alle Themen einarbeiten, von
denen er selbst betroffen ist, er käme niemals zu einem Ende.
Insofern ist es durchaus vernünftig, wenn er sparsam mit seiner
Aufmerksamkeit umgeht, einen großen Teil der Politik den Spezialisten überlässt und erst aktiv wird, wenn er einen
besonderen Anlass dafür sieht.
Stärke der
repräsentativen Demokratie
Genau hier liegt die Stärke der modernen repräsentativen
Demokratie, wie sie seit dem 18. Jahrhundert auf Ebene der
Nationalstaaten verwirklicht wurde: Sie ermöglicht es, politische
Entscheidungen an den Willen der Bürger zurückzukoppeln, ohne diese
täglich damit zu belästigen. Die gewählten Abgeordneten und
Regierungsmitglieder haben die Möglichkeit, ihre volle Arbeitskraft
der Politik zu widmen und sich thematisch zu spezialisieren;
gleichzeitig haben sie durch die Wahlen einen Anreiz, ihre
Tätigkeit an den Interessen der Bürger auszurichten. Vor allem aber
bietet die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Parteien, zwischen
Regierung und Opposition im Parlament, einen Deutungsrahmen für die öffentliche Auseinandersetzung, der die
enorme Komplexität der Politik auf ein paar einfache Gegensätze
reduziert.
Für
den Bürger bringt das eine ganze Reihe von Vorteilen: Wer sich für
familienpolitische Fragen nur am Rande interessiert, muss nicht alle
Verästelungen des Ehe-, Adoptions- und Unterhaltsrechts kennen. Dennoch kann er sich eine
Vorstellung davon machen, worin die wesentlichen Unterschiede
zwischen dem sozial- und dem christdemokratischen Familienbild liegen,
und diese in seine Wahlentscheidung mit einfließen lassen. Zudem
muss der Bürger nicht ständig selbst überprüfen, ob die Regierung
bei einer ihrer zahlreichen Initiativen womöglich gegen die
Interessen der Bevölkerung handelt, sondern kann sich darauf
verlassen, dass die Opposition schon Alarm schlagen wird, wenn sie
sich daraus Vorteile bei der Wählerschaft verspricht. Für die
Medien wiederum bietet dieser Antagonismus zwischen Regierung und
Opposition die Möglichkeit zu spannenden Geschichten: Mit einem
zünftigen parlamentarischen Streit lässt sich (anders als mit dem
Ergebnis von Online-Konsultationen) eine gewisse Einschaltquote
erzielen, sodass wenigstens die wichtigsten Auseinandersetzungen auch
beim nur mäßig interessierten Tagesschau-Konsumenten
ankommen werden.
Was die EU braucht, ist mehr Parlamentarismus
Dies bedeutet nicht, dass partizipative Elemente nicht auch ihren
Sinn im demokratischen System hätten. Denn natürlich gibt es immer
auch Bürger, die für einen bestimmten politischen Zweck mehr Zeit
und Energie aufwenden wollen, ohne deshalb gleich zum
Vollzeitpolitiker zu werden. Interessenverbände, Bürgerinitiativen
oder die Ortsvereine der Parteien können die Tätigkeiten solcher
Bürger zu sinnvollen Aktionen bündeln, und auch
Straßendemonstranten, Leserbriefschreiber und Blogger tragen
(hoffentlich) zu einer nützlichen Fortentwicklung des politischen
Diskurses bei.
Aber
es scheint mir ein Irrtum zu sein, wenn man bei der Weiterentwicklung
des europäischen politischen Systems primär auf solche
partizipativen Formen setzen wollte. Denn das schöne Wort der
„Bürgergesellschaft“ verkennt, dass sich in modernen
Gesellschaften ein großer Teil der Bevölkerung mit guten
aufmerksamkeitsökonomischen Gründen nur wenig für die Politik
interessiert. Eine massive Mobilisierung, aus der sich dann auch
unmittelbare politische Legitimität ableiten lässt, gibt es unter
solchen Umständen nur selten – nämlich wenn wirklich
entscheidende Fragen zur Entscheidung stehen, ohne dass das
politische System in der Lage ist, dafür angemessene Antworten zu
bieten. Ein Beispiel für einen solchen Fall war die friedliche
Revolution von 1989, und diese prägende Erfahrung mag auch den Fokus
in der Rede von Joachim Gauck erklären.
Die
alte Konsensmaschine EU aber wird ihre Bürger kaum durch das Angebot
von Online-Konsultationen von sich überzeugen können, und sie hat
auch keine Revolution nötig, um die Aufmerksamkeit der Bevölkerung
zu gewinnen. Was sie dafür braucht, ist vielmehr eine Stärkung der
repräsentativen Demokratie: ein wenig guter alter Parlamentarismus,
der die Komplexität des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf einen
leicht verständlichen Gegensatz von Wahlalternativen reduziert und
gerade dadurch einem großen Teil der Bevölkerung die Teilnahme an
der Politik ermöglicht.
Bild: By CherryX (Own work) [CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons.
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