Es
waren markige Worte, mit denen der bayrische Ministerpräsident
Markus Söder (CSU/EVP) am
vergangenen Donnerstag die
Forderung seiner Partei begründete, Asylbewerber, die bereits in
anderen EU-Mitgliedstaaten registriert seien, künftig durch einen
einseitigen nationalen Beschluss schon an der Grenze zurückzuweisen.
„In Europa und der Welt“, so
Söder, werde „die Zeit des geordneten Multilateralismus etwas
abgelöst von Einzelländern, die
auch Entscheidungen treffen.“ Der „Respekt vor Deutschland“
ergebe sich „auch daraus, dass wir auch in der Lage sind, unsere
Interessen selbst wahrzunehmen.“ Wenig
später legte
er noch nach: „Wir müssen auch an die einheimische Bevölkerung
denken und nicht nur immer an ganz Europa.“
In
ganz ähnlicher Form hatte CSU-Generalsekretär
Markus Blume bereits am Mittwoch erklärt, Deutschland solle
„nicht länger auf die Europäische Union warten, sondern selbst
handeln, so wie es andere europäische Staaten auch tun“.
Andere Parteisprecher,
etwa der
CSU-Ehrenvorsitzende
Edmund Stoiber,
relativierten diese
Haltung zwar etwas und
betonten, dass auch die CSU in der Asylfrage eine
„europäische Lösung“
wolle.
Die Forderung
nach einseitigen nationalen Maßnahmen zog
jedoch niemand in Zweifel:
Angesichts der
„europäischen Schwerfälligkeit“,
so Stoiber, sei es nun
erst einmal notwendig,
unilateral zu handeln.
Sogar EVP-Fraktionschef
Manfred Weber stellte
sich als Mitglied des niederbayrischen Bezirksvorstands hinter diese
Position.
Empörungsreaktionen genügen nicht
Die
Reaktionen der proeuropäischen Parteien auf diese nationale Wende
der CSU ließen nicht auf sich warten. Kathrin Göring-Eckardt,
Fraktionsvorsitzende der Grünen (EGP), sprach von einer „verrohten
Politik“, Thorsten Schäfer-Gümbel, Vizepräsident der SPD
(SPE), von dem
drohenden
„Ende
der europäischen Integration“. Sogar Annegret
Kramp-Karrenbauer, Generalsekretärin der CDU (EVP), warnte
in einem Brief an die CDU-Mitglieder vor „einem negativen
Dominoeffekt und letztlich der Infragestellung des Europäischen
Einigungswerks“. Noch drastischer fielen die Worte einiger
Medien-Kommentare aus: Die Huffington
Post
bezeichnete
Söders Formulierung als „verbalen Anschlag auf die EU“; Stefan
Ulrich nannte Söder und den CSU-Innenminister Horst Seehofer in der
Süddeutschen
Zeitung ein
„Sicherheitsrisiko für Deutschland“.
Doch
wie es so häufig ist, wenn ein politischer Akteur die Grenzen des
Sagbaren verschiebt: Es
ist
einfach, eine Äußerung als Affront zu erkennen und
sich davon abgestoßen zu fühlen. Doch
solange die Reaktion darauf sich auf bloße Empörung
beschränkt,
erlaubt das
den
verbalen Grenzverletzern unter Umständen sogar, sich als mutige
Tabubrecher zu inszenieren. Es
ist deshalb nötig, konkreter zu werden: Was
genau ist an Söders Haltung so problematisch?
Die
CSU will gegen europäisches Recht verstoßen
Eine
naheliegende Antwort auf diese Frage ist schnell gefunden: Die
Forderung der CSU, Asylbewerber schon an der Grenze abzuweisen,
würde
klar
gegen
geltendes Europarecht
verstoßen.
Die
Asylpolitik fällt nach Art.
78 AEUV in die Kompetenz
der EU, die die Frage, welcher Mitgliedstaat welchen Asylantrag
bearbeiten muss, in der sogenannten Dublin-Verordnung
geregelt hat. Zuständig
ist demnach meistens
das Land, in dem der Asylbewerber erstmals das Territorium der EU
betreten hat.
Allerdings
gibt
es eine Reihe von Vorrangregeln, durch die dieses Prinzip nicht in
allen Fällen gilt:
Beispielsweise
sollen
die Asylanträge von Familienangehörigen
möglichst in demselben Land bearbeitet werden. Deshalb muss in jedem
konkreten Fall zunächst einmal in einem eigenen Verfahren geprüft
werden, welcher Mitgliedstaat tatsächlich für den Asylantrag
zuständig ist. Diese Zuständigkeitsprüfung wiederum muss der
Mitgliedstaat vornehmen, in dem der Asylantrag tatsächlich gestellt
wurde. Würde Deutschland Asylbewerber an der Grenze abweisen,
würde es sich vor dieser Pflicht drücken und
damit gegen die Regeln der Dublin-Verordnung verstoßen.
(Einmal ganz davon abgesehen, dass die deutsche Sondergenehmigung, an seinen Schengen-Binnengrenzen Personenkontrollen durchzuführen, am 11. November 2018 ausläuft. Aber darauf scheint die CSU ohnehin nicht viel zu geben, wie die geplante Gründung einer Bayerischen Grenzpolizei zeigt.)
Angriff
auf die Rechtsgemeinschaft
Dass Söder einen solchen Rechtsverstoß explizit
damit begründet, Deutschland müsse „an die einheimische Bevölkerung
denken“ und seine „Interessen selbst wahrnehmen“, zielt auf die Wasserlinie der Europäischen Union.
Zu den Grundsätzen, auf denen der europäische Integrationsprozess basiert, gehört die Idee
der Rechtsgemeinschaft: Dass die EU trotz
ihrer schwachen zentralen Exekutive funktioniert,
liegt an dem Respekt, den die nationalen Institutionen
dem gemeinsam gesetzten Recht entgegenbringen.
Wenn
die Mitgliedstaaten jedoch beginnen, auf das Recht des Stärkeren zu
setzen und europarechtliche Bindungen einfach zu ignorieren, hat die
EU nur verhältnismäßig
wenig Zwangsmittel in der Hand. Im
Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens kann der Europäische
Gerichtshof zwar Rechtsverstöße feststellen und gegebenenfalls
Zwangsgelder verhängen. Doch
solche
Verfahren dauern lang – und auch sie beruhen letztlich auf der
Bereitschaft der Mitgliedstaaten, Urteile
des EuGH als verbindlich
zu akzeptieren. Söders
offene Absage an den „geordneten Multilateralismus“ lässt
zumindest befürchten, dass die
CSU auch
dieses Tabu zu brechen bereit wäre.
Spirale
des Misstrauens
Dagegen
ließe sich einwenden, dass andere Staaten in den letzten Jahren
ebenfalls dazu übergegangen sind, sich
in der Asylpolitik über das geltende Recht hinwegzusetzen: Wenn
Griechenland oder Italien Einwanderer
nicht registrieren, damit
sie in andere EU-Staaten weiterziehen und später nicht mehr
feststellbar ist, in welchem Land sie zum ersten Mal die EU erreicht
haben. Wenn etliche
Mitgliedstaaten
einen
Ratsbeschluss
ignorieren,
der
die
Umverteilung
von Asylbewerbern zwischen den Mitgliedstaaten vorsieht,
und
Ungarn sogar ein
EuGH-Urteil dazu zurückweist.
Wenn
Italien seine
Häfen
für Schiffe schließt,
die auf dem Mittelmeer in Seenot geratene Menschen gerettet haben.
Doch
all das macht die Haltung der CSU nicht besser, sondern nur noch
schlimmer: Denn
einzelne rogue
states
sind zwar ein Problem für die EU, gefährden sie jedoch nicht im
Kern. Wenn Rechtsbruch und Unilateralismus aber zur Norm werden, ist
bald das Vertrauen zerstört. Wer
dann noch (wie
jüngst die neue spanische Regierung unter Pedro Sánchez, PSOE/SPE)
auf Kooperation setzt, wird
leicht nur noch als naiver
Schwächling wahrgenommen. Das
aber kann eine Spirale in Gang setzen, die zuletzt tatsächlich die
Substanz der europäischen Integration gefährden
würde.
Können
unilaterale Maßnahmen die Dublin-Reform erzwingen?
Aber
nehmen wir Söders Behauptung,
Deutschland müsse sich durch einseitige Maßnahmen „Respekt“
verschaffen, einmal für bare Münze: Könnte es eine sinnvolle
Strategie sein, durch die von der CSU vorgeschlagene Abweisung von
Asylbewerbern an der deutschen Grenze Druck aufzubauen, der eine
europäische
Lösung erzwingt? Immerhin
hat die Europäische Kommission bereits vor über zwei Jahren
Vorschläge
für eine Reform der Dublin-Verordnung vorgelegt, die derzeit
aufgrund
der Uneinigkeit zwischen den nationalen Regierungen im Ministerrat
feststecken.
Könnte
Deutschland durch
eine gezielte Verletzung der derzeitigen Regeln die anderen
Mitgliedstaaten dazu bringen, dass
sie sich
in dieser Frage aufeinander zubewegen?
Das
wäre zwar immer noch rechtswidrig – aber
wenn es auf diesem Weg möglich wäre, die
Dublin-Reform zu
retten
und einen
neues,
funktionierendes
europäisches Asylsystem zu
erreichen,
könnte
es zumindest politisch zu rechtfertigen sein.
Südeuropa
gegen Visegrád-Staaten
Bei
genauem Hinsehen ist allerdings nicht wirklich zu erkennen, wie eine
solche Strategie funktionieren sollte. Denn
jenseits aller Rhetorik verläuft
die substanzielle Hauptkonfliktlinie
um die Dublin-Reform
zwischen den südeuropäischen
Staaten (Spanien,
Italien, Griechenland, Malta und Zypern) einerseits
und der
ostmitteleuropäischen
Visegrád-Gruppe
(Polen,
Tschechien, Ungarn und der
Slowakei)
andererseits.
Die
südeuropäischen Länder beklagen,
dass die derzeitigen Dublin-Regeln sie
über Gebühr benachteiligen, da die meisten Flüchtlinge Europa über das Mittelmeer erreichen.
Sie fordern deshalb ein Ende der Regel, nach der jeweils das
Erstaufnahmeland für das Asylverfahren zuständig ist, und die
automatische Umverteilung der Asylbewerber nach einer Quotenregelung
auf alle Mitgliedstaaten. Die Visegrád-Länder hingegen sind als europäische Binnenstaaten kaum von Einwanderung
aus Nicht-EU-Ländern betroffen und müssen nach den jetzigen Regeln
nahezu überhaupt keine Asylverfahren bearbeiten. Damit
das so bleibt, lehnen sie die Dublin-Reform – und speziell
eine Umverteilung nach Länderquoten – grundsätzlich
ab.
In
diesem Spannungsfeld kommt Deutschland eigentlich eine Mittelposition
zu: Als europäisches Binnenland war es seit den 1990er Jahren ein Profiteur
der Dublin-Regelungen, die Asylbewerberzahlen gingen stark nach unten. Seit
2015 ist die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland jedoch wieder deutlich gestiegen,
sodass sich die Bundesregierung in den letzten Jahren doch für eine
Umverteilungsquote eingesetzt hat. Könnte sie jetzt die Rolle eines „robusten Vermittlers“ einnehmen, der
einen Kompromiss zwischen den süd- und den ostmitteleuropäischen Ländern
erzwingt?
„Achse
Rom-Berlin-Wien“
Doch falls Söder eine solche Strategie vor Augen haben sollte, ist
jedenfalls unklar, wie er das mit den von
der CSU vorgeschlagenen Maßnahmen erreichen will.
Denn ob sich die Bundesregierung nun auf Söders Weise „Respekt“
verschafft oder nicht: Die Visegrád-Staaten, die die Dublin-Reform derzeit blockieren, geraten
schließlich gar nicht unter Druck, wenn Deutschland Flüchtlinge
an der österreichischen Grenze zurückweist. Und
mehr noch: Der wichtigste Visegrád-Hardliner, der ungarische
Premierminister Viktor Orbán (Fidesz/EVP), wird aus der CSU nicht
einmal für seine Flüchtlingspolitik kritisiert,
sondern vielmehr
als Vorbild gelobt.
Wer
hingegen tatsächlich vom CSU-Vorschlag betroffen wäre, sind
Österreich, das die an der deutschen Grenze abgewiesenen Asylbewerber
aufnehmen müsste, und Italien, falls Österreich in der Folge seinerseits dazu überginge,
die Flüchtlinge dorthin zurückzuschicken. Will die CSU also den österreichischen Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP/EVP) oder die
italienische Regierung um Giuseppe Conte (parteilos) und
Innenminister Matteo Salvini (Lega/BENF) unter Druck setzen? Das
Gegenteil ist der Fall: Erst vor wenigen Tagen sprach Kurz nach einem Gespräch mit Horst
Seehofer von
einer „Achse Rom-Berlin-Wien“,
die in der Flüchtlingspolitik eng zusammenarbeite.
Es
geht gar nicht um eine Überwindung des Quotenstreits
Letztlich gelingt der CSU also
das Kunststück, in der Flüchtlingspolitik sowohl mit Ungarn als
auch mit Italien auf gutem Fuß zu stehen – ohne aber irgendeinen Beitrag dazu zu leisten, die Konflikte zwischen
diesen Regierungen im Quotenstreit zu
überwinden. Wie aber kann es sein, dass Viktor
Orbán, Sebastian Kurz und Matteo Salvini allesamt Einigkeit
mit Horst Seehofer signalisieren und die Dublin-Reform dennoch nicht vorankommt?
Der Grund dafür dürfte sein, dass die Umverteilung der bereits abgekommenen Asylbewerber angesichts
der rapide
sinkenden Flüchtlingszahlen in Europa für sie in
Wirklichkeit gar nicht mehr im Vordergrund steht. Das
eigentliche Interesse der EVP-Rechten aus Bayern, Österreich und Ungarn sowie des BENF-Innenministers aus
Italien ist hingegen, die Ankunft
neuer Flüchtlinge in Europa zu verhindern:
Sei es durch Zäune,
durch Aufnahmezentren
in Afrika oder durch Abschreckung
im Form von schlechteren Bedingungen für Asylbewerber in Europa
selbst.
Beschwörung
des nationalen „Wir“ – auch gegen die EU
Was Horst Seehofer und Markus Söder bezwecken, ist also ziemlich sicher nicht, durch politischen
Druck einen Durchbruch in der Dublin-Reform zu erzwingen. Stattdessen
drängt sich der Eindruck auf, dass es
um etwas ganz anderes geht: nämlich
darum, auf wahlkampftaugliche Weise ein
starkes nationales „Wir“ zu beschwören, das nun endlich wieder in die Lage versetzt werden soll, über sich
selbst zu entscheiden.
Dieses
populistische Narrativ wendet sich gegen
die Flüchtlinge, die sich
als Neuankömmlinge leicht
aus dem nationalen
„Wir“ ausgrenzen lassen, aber eben auch gegen die EU,
die solch einer populistischen Stärkedemonstration im Weg stehen könnte. Der Verstoß gegen geltendes
europäisches Recht wird
dabei nicht nur in Kauf genommen, sondern erlaubt
es den Populisten, sich als Anpacker
zu inszenieren: als jemand, der sich
von rechtsstaatlichen Schranken nicht hindern lässt, die
Interessen der „einheimischen Bevölkerung“ zu
verfolgen.
Rücksichtsloser Nationalpopulismus ist, in Deutschland wie
in anderen europäischen Ländern,
nicht mehr allein Sache extremistischer Randparteien. In den nächsten Jahren muss sich zeigen, ob die
europäische Rechtsgemeinschaft diesen Angriff übersteht.
Wer jetzt für Europa auf die Straße gehen möchte: Am kommenden Samstag, 23. Juni, finden in mehreren europäischen Städten Demonstrationen für eine demokratische, solidarische und nachhaltige EU statt.
Los geht es jeweils um 11.45 Uhr: in Berlin am Bahnhof Friedrichstraße, in München am Siegestor, in Köln am Ebertplatz. Organisiert werden die Demonstrationen von einem breiten Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen unter der Koordination von The European Moment. |
Bild: By Crosa [CC BY 2.0], via Flickr; March For A New Europe.
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