Am
vergangenen Sonntag war es endlich so weit: Angela Merkel (CDU/EVP)
gab ihre lang erwartete „Antwort auf Emmanuel Macron“. In einem
Interview
mit der Frankfurter
Allgemeinen Sonntagszeitung
sprach die Bundeskanzlerin darüber,
welche europapolitischen Vorschläge
sie in den nächsten Monaten vorantreiben will – unter
anderem in Bezug auf die Reform
der Eurozone, die Asyl- und Grenzpolitik oder die Außen- und
Sicherheitspolitik.
Was ist davon zu halten? Die
Reaktionen auf Merkels Vorstöße fielen sehr widersprüchlich aus:
Während einige Kommentatoren begrüßten,
dass nun endlich Bewegung in die Debatte komme, beklagten andere,
dass Merkel durch
ihren Mangel an Ambitionen Europa im Stich lasse. In
diesem Artikel soll
es vor allem um einen Aspekt der umfangreichen EU-Reformdebatte gehen,
nämlich um Merkels Antwort auf das Problem der makroökonomischen
Stabilisierung. Diese
Frage steht seit der Eurokrise im Mittelpunkt der Debatte um die
Zukunft der europäischen Währungsunion und wurde auch in diesem Blog schon
wiederholt
thematisiert.
Asymmetrische
Schocks in der Währungsunion
Ganz kurz zusammengefasst geht es dabei
um die Frage, wie die Währungsunion
auf asymmetrische Schocks
reagieren kann, die die Konjunktur in einzelnen
Mitgliedstaaten stärker treffen als in
anderen. Bei
getrennten Währungen werden solche asymmetrischen Schocks einfach
durch Wechselkursanpassungen ausgeglichen.
In einer Währungsunion können sie hingegen zu
selbstverstärkenden Spiralen
führen, weil Kapitalanleger in die stabilen Länder flüchten, was
dort die Inflation antreibt und die
Krisenländer noch tiefer in die Rezession stürzt.
Zudem versagen die geldpolitischen Instrumente der Zentralbank,
deren Zinssatz gleichzeitig für die Krisenländer zu hoch und für
die Boomländer zu niedrig ist.
Die
Frage, wie solche asymmetrischen Schocks abgefedert werden können,
steht deshalb im Mittelpunkt der Theorie
optimaler Währungsräume. Dabei zeigte der US-amerikanische
Wirtschaftswissenschaftler Peter Kenen bereits 1969, wie
wichtig ein
gemeinsamer öffentlicher Haushalt ist, der als „automatischer
interregionaler Stabilisator“ wirkt:
Bei asymmetrischen Schocks
zahlen die Bewohner der Boomländer mehr Geld in den gemeinsamen
Haushalt ein, während die Krisenländer
höhere Auszahlungen
bekommen (z.B. in Form von Arbeitslosenhilfe).
Dadurch kommt es zu
Finanztransfers, durch
die sich die Konjunktur in
der gesamten Währungsunion
angleicht: Die
Krisenregionen erholen sich, und in den Boomländern werden
Preisblasen verhindert.
Die
Debatte in der Eurokrise
Dass
das Budget der EU nur vergleichsweise klein ist und kaum auf
konjunkturelle Schwankungen reagiert, wurde während
der
Eurokrise deshalb immer wieder als zentrale
Schwachstelle der Währungsunion identifiziert. In der Folge wurden
verschiedene Vorschläge entwickelt, um auch die Eurozone mit
automatischen interregionalen Stabilisatoren auszustatten: etwa ein
Konjunkturausgleichsfonds
(siehe hier)
oder eine gemeinsame
Versicherung für kurzfristige Arbeitslosigkeit (mehr dazu hier).
All
diesen Vorschlägen ist gemeinsam, dass es sich
um Mechanismen
für
zyklische
Finanztransfers handeln,
die auf die Konjunkturentwicklung
der Mitgliedstaaten reagieren und groß genug sind, diese ernsthaft
zu beeinflussen.
Allerdings
konnte sich der Europäische Rat während der Eurokrise zu keinem
dieser konkreten
Vorschläge
durchringen. Die
Befürworter eines Konjunkturstabilisators beschränkten sich deshalb
bald darauf, nur noch allgemein von einem eigenen „Haushalt
für die Eurozone“ zu sprechen und dessen genaue Ausgestaltung
offen zu lassen. Auch
Emmanuel
Macron forderte
ein solches Eurozonen-Budget, ohne allzu genau zu erklären, wie die
Mittel aus diesem Budget verwendet werden sollten.
Merkels
„Investivhaushalt“
Und
Angela Merkel? In
ihrem
FAS-Interview
greift die
Bundeskanzlerin zwar
Macrons
Wunsch
nach einem Eurozonen-Budget auf.
Doch
ihre Vorschläge zur konkreten Ausgestaltung machen deutlich, dass
sie dabei ganz andere Zwecke im Sinn hat als die Befürworter
automatischer Konjunkturstabilisatoren.
Denn
zum einen soll
das
Eurozone-Budget
nach
Merkels Vorstellungen nur
„im
unteren zweistelligen Milliardenbereich“ angesiedelt
sein: viel zu niedrig, um nennenswerte Konjunkturpolitik
zu
betreiben.
Und
zum anderen soll
es
sich um einen „Investivhaushalt“
handeln,
mit
dem Staaten, die „bei Wissenschaft, Technologie und Innovation
Nachholbedarf haben“, unterstützt
werden könnten.
Ob
ein Land Geld aus dem Budget erhält oder nicht, hätte mit seiner
konjunkturellen Lage also gar nichts zu tun.
Vielmehr
scheint
es, als ob Merkel im Wesentlichen eine Replik der bereits
existierenden EU-Strukturfonds anstrebt – nur eben nicht für die
gesamte EU, sondern auf die Eurozone begrenzt.
Unterlaufen
weitergehender Vorschläge
Worin
Merkel den genauen Nutzen einer solchen Kopie gegenüber einer
einfachen Aufstockung der bestehenden Strukturfonds sieht, darüber
lässt sich nur spekulieren. Dass
die Bundeskanzlerin gezielt den Spalt zwischen Euro- und
Nicht-Euro-Ländern vergrößern will, ist kaum anzunehmen.
Schon plausibler,
aber aus europafreundlicher Sicht nicht weniger besorgniserregend
ist, dass es um eine Entmachtung des Europäischen Parlaments gehen
könnte:
Merkel lässt ausdrücklich offen, „ob dieses neue Budget innerhalb
oder außerhalb des EU-Haushalts verwaltet werden soll“ –
Letzteres würde bedeuten, dass die Europaabgeordneten (anders
als bei den regulären Strukturfonds-Mitteln)
kein
Mitspracherecht über
die Verwendung hätten.
Am
wahrscheinlichsten ist aber wohl,
dass Merkel
mit
ihrem
Vorschlag eines „Investivhaushalts“ schlicht die weitergehenden
Vorschläge, die mit der Idee eines Eurozone-Budgets verbunden sind,
unterlaufen will.
Denn
die bisherigen Vorschläge für einen europäischen
Konjunkturstabilisator, insbesondere die Möglichkeit
einer
europäischen Arbeitslosenversicherung,
stießen
in
der deutschen Öffentlichkeit – und vor allem in
Teilen von Merkels eigener Partei – auf massiven Widerstand.
Irrationale Angst vor der „Transferunion“
Befürchtet
wird dabei vor allem, dass Deutschland dauerhaft für andere
Mitgliedstaaten zahlen müsste – eine weitgehend
irrationale Sorge,
da es
zur Natur eines zyklischen
Transfermechanismus
gehört, dass die zwischenstaatlichen Geldströme über den
kompletten Konjunkturzyklus hinweg weitgehend ausgeglichen wären.
Doch
allein
der Gedanke an eine europäische „Transferunion“ löst in
Deutschland seit
der Eurokrise fast
panische
Abwehrreaktionen
aus.
Hingegen
wird
die mit den Strukturfonds verbundene Grundidee einer Förderung der
strukturschwächeren Mitgliedstaaten in Deutschland
weitgehend
anerkannt,
und
das paradoxerweise
obwohl die damit verbundenen zwischenstaatlichen
Transfers
tatsächlich dauerhaft sind. Das
von Macron geforderte Eurozonen-Budget
zu einem „Investivhaushalt“ nach Vorbild der Strukturfonds
umzuinterpretieren bietet
für Merkel also den Vorteil, dass sie sich einerseits vordergründig
auf Frankreich zubewegt, andererseits aber keine neuen
Transfermechanismen
akzeptieren muss, die
der deutschen Öffentlichkeit schwer zu vermitteln sind.
Konjunkturhilfe-Kredite
des Europäischen Währungsfonds?
Doch
wenn das Eurozonen-Budget für die makroökonomische Stabilisierung
nicht verwendbar ist,
wie
soll dann das
Problem der asymmetrischen Schocks gelöst
werden? Tatsächlich
formuliert Merkel
in
ihrem Interview auch hierfür
einen
Vorschlag: Als
Instrument gegen
makroökonomische
Schwankungen
hat
sie den Europäischen
Stabilitätsmechanismus (ESM)
im
Blick,
der
schon während der Eurokrise gegründet wurde, um vom Staatsbankrott
bedrohte Euroländer mit Hilfskrediten zu unterstützen.
Künftig
soll
der ESM unter
dem Namen „Europäischer Währungsfonds“ (EWF)
firmieren
und nicht
erst in äußerster Not zum Einsatz kommen, sondern auch kurzfristige
Kredite
an Länder
vergeben können, „die durch äußere Umstände in Schwierigkeiten
geraten“.
Es
erscheint naheliegend, dass damit vor allem konjunkturelle
Schwierigkeiten gemeint sind. Offenbar strebt Merkel also an,
anstelle des Eurozonen-Budgets kurzfristige EWF-Darlehen als Konjunktur-Stabilisator zu
verwenden.
Auch das ist keine ganz neue Idee: Sowohl der EU-Haushaltskommissar
Günther Oettinger (CDU/EVP) als auch derzeitige
ESM-Geschäftsführer Klaus Regling haben in den letzten Wochen
ähnliche Vorschläge geäußert.
Aber
kann das gutgehen? Rein
kommunikationspolitisch liegen
die Vorteile
dieses Ansatzes
für
Merkel auf
der Hand: Da es
weiterhin nur um „Kredite“, nicht um „Transfers“ ginge, ist
kaum mit einem empörten Aufschrei der deutschen Medien und der CDU
zu rechnen.
Rein
makroökonomisch
wiederum
unterscheiden sich kurzfristige
Krisenkredite
nicht
allzu sehr von Zahlungen
aus einem zyklischen Konjunkturausgleichsfonds: In
beiden Fällen erhält ein
Land,
das
von
einem asymmetrischen Schock betroffen
ist,
in der Krise Geld, das es nach der Krise wieder zurückbezahlen muss.
Beide
Instrumente könnten
also grundsätzlich
eine
ähnliche Stabilisierungswirkung entfalten.
In
der Krise wäre der EWF wohl zu langsam
Was
den
EWF jedoch von automatischen
Stabilisatoren unterscheidet, ist die Art, wie im Einzelfall
Zahlungen ausgelöst werden. Bei einem automatischen Stabilisator wie
der gemeinsamen Arbeitslosenversicherung oder dem
Konjunkturausgleichsfonds ist dafür
keine
zusätzliche politische Entscheidung notwendig: Die
Auszahlung erfolgt einfach, wenn bestimmte vorher festgelegte
Kriterien erfüllt sind. Über
die EWF-Kredite müsste hingegen in
jedem Einzelfall neu
entschieden werden. Zuständig wäre dabei nach Merkels Vorstellungen
ein
zwischenstaatliches
Gremium,
wobei
wohl (schon wegen der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts) ebenso wie im heutigen ESM-Rat
die
deutsche Bundesregierung und indirekt der Deutsche Bundestag ein
Vetorecht besitzen
sollen.
Die
von
Merkel angestrebte Konstruktion wäre
also mit
einer größeren politischen Kontrolle verbunden, was
auf den ersten Blick als
ein Vorteil erscheinen mag.
Tatsächlich könnte genau dies jedoch zu einem
entscheidenden Problem
werden
– denn
bei der Bekämpfung einer Konjunkturkrise kommt es stark darauf an,
schnell zu reagieren, damit keine selbstverstärkende Effekte
einsetzen, die ein Gegensteuern erschweren. Es
ist deshalb gerade wünschenswert, dass automatische
Konjunkturstabilisatoren
von selbst
einsetzen.
Der
EWF hingegen würde erst dann tätig werden,
wenn das oft
schwerfällige politische
System das Problem erkannt
und sich zu einer Entscheidung durchgerungen hat.
Hinzu
kommt noch, dass auch
die kurzfristigen EWF-Kredite
Merkel zufolge „[i]mmer gegen Auflagen“ vergeben werden sollen.
Um Zugang dazu zu erhalten, müsste die
Regierung
eines
Krisenlandes
also wenigstens symbolische Einschränkungen ihrer
wirtschaftspolitischen Entscheidungshoheit hinnehmen. Angesichts
des damit verbundenen politischen Ansehensverlusts ist anzunehmen,
dass Regierungen lange – womöglich
zu
lange – zögern
würden, bevor sie in einem
Konjunkturabschwung von
den
Krediten
Gebrauch machen. Es
ist deshalb zu befürchten, dass die Unterstützung des EWF oft
schlicht zu
spät käme, um volle
Wirkung zu entfalten.
Mangelhafte
demokratische Legitimität
Und
noch ein Problem bliebe ungelöst, nämlich die mangelhafte
demokratische
Legitimität
des EWF.
Dass
die Geldflüsse bei automatischen Stabilisatoren ohne politische
Einzelfallentscheidung erfolgen, hat auch den Vorzug, dass alle
Staaten nach einem festgelegten Regelwerk gleich behandelt werden.
Das
Entscheidungsorgan des EWF wäre hingegen
wie jedes intergouvernementale Gremium
Schauplatz zwischenstaatlicher Machtspiele, die
in einer akuten Wirtschaftskrise, in der einzelne Staaten als
Bittsteller, andere als Geldgeber auftreten, natürlich umso heftiger
ausfallen. Welcher Regierung wird geholfen, welcher nicht? Und zu welchen Bedingungen?
Wie in der Eurokrise würden diese eminent politischen Fragen jedes Mal
neu diskutiert werden müssen,
und auch wenn es wohl nicht jedes Mal zu
einer solchen Eskalation käme
wie bei dem „Coup“ gegen Griechenland 2015,
sind hässliche zwischenstaatliche Konflikte
vorprogrammiert.
Merkel
investiert kaum politisches Kapital
Insgesamt fallen Merkels Vorschläge zur Reform der Eurozone also wenig
überzeugend aus.
Zwar ist die Bundeskanzlerin erkennbar
bestrebt, Macron nicht auflaufen zu lassen: Mit
ihrer Einwilligung in ein Eurozonen-Budget gibt sie genügend Ansätze
für deutsch-französische Formelkompromisse, die
beide Seiten als Erfolg verkaufen können.
Wirklich
politisches Kapital investieren, um trotz
der Bedenken in Teilen der CDU die
europäische Währungsunion für die nächste Krise wetterfest zu
machen, will Merkel aber offensichtlich ebenfalls nicht. Die engen
roten Linien, die sie während der Eurokrise gezogen hat, stehen
rhetorisch zwar nicht mehr im Mittelpunkt, doch
sie bleiben
für sie handlungsleitend:
Das Schreckgespenst einer „Transferunion“ zu
vermeiden wiegt noch immer stärker als der Wunsch nach einer
sinnvollen
und effizienten
makroökonomischen
Stabilisierung der Eurozone.
Und
jetzt?
Ob
damit schon das letzte Wort der deutschen Bundesregierung in dieser
Frage gesprochen ist, muss
sich allerdings erst noch zeigen.
In einem Interview
mit dem Spiegel hat sich Finanzminister Olaf Scholz (SPD/SPE) jedenfalls
gerade für eine europäische Arbeitslosigkeits-Rückversicherung
ausgesprochen, offenbar als zusätzliches Instrument der Konjunkturstabilisierung neben den
EWF-Krediten.
Ob dieser Vorstoß mit Merkel
abgesprochen war und gar zur gemeinsamen Linie der deutschen Bundesregierung
werden könnte, ist völlig unklar. Eher scheint es, als wollte Scholz nur ein Signal setzen, dass er selbst
zu weitergehenden Schritten bereit wäre, als mit der Großen Koalition zu machen sind. Aber immerhin: Mit Merkels Interview ist die Debatte über die Reform der Eurozone wieder zurück auf der Tagesordnung. Man darf gespannt sein, was die nächsten Monate noch bringen werden.
Bild: By European People's Party (EPP Summit, Brussels, March 2017) [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Kommentare sind hier herzlich willkommen und werden nach der Sichtung freigeschaltet. Auch wenn anonyme Kommentare technisch möglich sind, ist es für eine offene Diskussion hilfreich, wenn Sie Ihre Beiträge mit Ihrem Namen kennzeichnen. Um einen interessanten Gedankenaustausch zu ermöglichen, sollten sich Kommentare außerdem unmittelbar auf den Artikel beziehen und möglichst auf dessen Argumentation eingehen. Bitte haben Sie Verständnis, dass Meinungsäußerungen ohne einen klaren inhaltlichen Bezug zum Artikel hier in der Regel nicht veröffentlicht werden.