- Minna Ålander, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin
- Carmen Descamps, Deutsche Botschaft, Madrid
- Manuel Müller, Universität Duisburg-Essen / Der (europäische) Föderalist, Berlin
- Julian Plottka, Universität Passau / Universität Bonn
- Sophie Pornschlegel, European Policy Centre, Brüssel
Manuel
Bei seinem letzten Treffen vor dem Sommer erkannte der Europäische Rat am 23./24. Juni der Ukraine und Moldau den Kandidatenstatus zu – ein historischer Fortschritt für die EU-Erweiterungspolitik. Für die Freund:innen einer weiteren Vertiefung der Integration brachte der Gipfel hingegen eher Enttäuschungen: Obwohl das Europäische Parlament die Staats- und Regierungschef:innen am 9. Juni formell aufgefordert hatte, einen Konvent zur Reform der EU-Verträge einzusetzen, wurde das Thema Vertragsreform in den Schlussfolgerungen des Gipfels nicht einmal erwähnt. Insgesamt behandelte der Europäische Rat das Follow-up zur EU-Zukunftskonferenz nur in drei dünnen und weitgehend inhaltsleeren Absätzen.
Hintergrund davon ist natürlich die Uneinigkeit zwischen den Mitgliedstaaten über institutionelle Reformen, wie sie unter anderem aus den beiden entgegengesetzten Non-Papern von Mai erkennbar war, in denen sich dreizehn Länder (vor allem in Nord- und Mittel-/Osteuropa) gegen und sechs (in West- und Südeuropa) für Vertragsreformen ausgesprochen hatten. Die Einsetzung eines Konvents, für die eine einfache Mehrheit im Europäischen Rat notwendig ist, wäre deshalb, wenn überhaupt, nur in einer knappen Kampfabstimmung möglich gewesen.
Davor schreckten auch die reformwilligen Länder offenbar zurück: Kurz vor dem Gipfel erklärte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, ein Konvent sei nur „eine Möglichkeit“, neben der es noch „viele andere Vorschläge“ gebe. Ist das Thema Konvent damit gestorben?
Sophie
Um es sehr kurz zu fassen: Ich fürchte, ja. Zumindest fürs Erste. Sofern Deutschland und Frankreich den Konvent nicht viel stärker unterstützen – und es nicht zu großen Gegenwind gibt, sowohl von den Visegrád-Staaten als auch den nordischen Staaten –, wird es keine Fortschritte in diesem Bereich geben.
Carmen
Ich möchte die Konventsidee noch nicht abschreiben; auch wenn ich die Chancen darauf – wie Sophie – zunehmend schwinden sehe. Hierfür braucht es tatsächlich den entschiedenen Einsatz einiger Schlüssel-Mitgliedstaaten, denn die Verve einiger Europaabgeordneter wird leider nicht ausreichen. Das Momentum sollte also genutzt werden, und recht bald.
Büchse der Pandora?
Minna
Die nordischen Länder stehen Vertragsänderungen vor allem deshalb sehr kritisch gegenüber, weil sie den Moment für gefährlich halten: Es ist Krieg in Europa, und solch ein langwieriger institutioneller Prozess würde viel zu viele Kräfte und Aufmerksamkeit für interne Angelegenheiten der EU binden. Zudem hätte er gegebenenfalls eine spaltende Wirkung, was gerade in der besonderen Situation des Krieges fahrlässig und eine Bedrohung für die nationale Sicherheit der Staaten in Russlands Nachbarschaft wäre.
Zudem ist nicht sicher, dass alle Mitgliedstaaten am Ende den in einem Konvent vereinbarten Vertragsänderungen zustimmen würden. Vor allem wo Volksabstimmungen nötig sind, wäre die Ratifizierung ungewiss – siehe das „Trauma von Lissabon“. Aus nordischer Sicht wäre ein Vertragsänderungsprozess deshalb eine potenziell gefährliche Zeitverschwendung, weil man nicht weiß, wie viele Jahre er dauern würde und ob am Ende wirklich ein neuer Vertrag in allen Ländern herauskäme. Eine solche Büchse der Pandora will man lieber nicht öffnen.
Sophie
Für mich klingt das sehr nach einer Ausrede, weil nie der „richtige Moment“ ist. Gerade das Gegenteil ist der Fall: Mit dem Kandidatenstatus für die Ukraine und die Republik Moldau und somit einer womöglich großen EU-Erweiterung haben wir keine andere Wahl, als bald die EU-Verträge zu reformieren.
Keiner kann ernsthaft der Meinung sein, dass die EU in ihrer jetzigen institutionellen Form gut funktionieren würde, wenn man noch ein Land mit 44 Millionen Einwohner:innen integriert – man sieht ja, dass auch zu 27 Kompromisse schon fast unmöglich sind. Erweiterung ohne Reform zu fordern, ergibt nur einen Sinn, wenn man das Ziel verfolgt, die EU noch weniger handlungsfähig zu gestalten.
Carmen
Ich finde auch, dass man gerade jetzt keine Gelegenheit ungenutzt lassen sollte. Angesichts eines externen Aggressors und Krieg vor den Toren der EU kann sich auch eine Chance bieten, die Gemeinschaft durch diesen externen Schock weiter zu einen – indem man sie entsprechend reformiert und resistenter macht.
Der perfekte Zeitpunkt wird sich niemals bieten, da jede:r eine andere subjektive Vorstellung hiervon hat. Gerade daher sollte man jetzt den äußeren Angriff als Chance zur inneren Einigung und Reform nutzen.
Keine Erweiterung ohne institutionelle Reform?
Manuel
Tatsächlich haben sowohl Baerbock als auch Olaf Scholz interne Reformen wie mehr Mehrheitsentscheidungen zuletzt als Vorbedingung für die angestrebte Erweiterung der EU bezeichnet. Auf mich wirkt das, als würde hier ein aktives Reframing betrieben: Die Zukunftskonferenz und das Europäische Parlament haben institutionelle Reformen vor allem als Schritt zur weiteren Demokratisierung der EU behandelt – was manche Mitgliedstaaten als nice to have, aber nicht als notwendig oder dringend ansehen. Die Bundesregierung betont jetzt stattdessen die Handlungsfähigkeit, die auch nach der Erweiterung gewahrt bleiben müsse.
Vielleicht ist das ein Argument, mit dem man die zögerlichen Regierungen (insbesondere in den nördlichen und östlichen Mitgliedstaaten) eher überzeugen kann, die ja besonders stark auf einen schnellen ukrainischen Beitritt dringen. Gleichzeitig sehe ich aber auch ein Risiko in diesem Reframing: Handlungsfähigkeit allein ist eben nicht alles, sondern muss auch mit mehr demokratischer Legitimität der EU einhergehen.
Julian
Meiner Ansicht nach ist es der Fehler, die Diskussion so aufzuzäumen, wie wir es hier gerade machen und auch wie das Europäische Parlament es macht. Wir diskutieren über Verfahren – und natürlich ist jede:r gegen irgendwelche unnötigen Verfahren. Wenn wir die Debatte so aufzäumen, verlieren wir das eigentliche Ziel aus den Augen.
Stattdessen müssen wir über die konkreten Reformen diskutieren und zum Beispiel fragen: Wollen Polen und Finnland eine gestärkte Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik als Beitrag der EU zur NATO oder nicht? Und wenn sie sie wollen, mit welchem Verfahren lässt sich dieses Ziel am sinnvollsten umsetzen?
Bei der Menge an Herausforderungen, denen die EU gegenübersteht, bin ich der Überzeugung, dass ein Konvent die effizienteste Lösung ist. Wollen wir uns allen Ernstes noch einmal ein Durchgewurschtel wie in der Euro-Krise leisten? Dafür haben wir keine Zeit!
Sophie
Ich finde es ja wirklich spannend, dass viele EU-Regierungen denken, dass wir so weitermachen sollten, und Fortschritte blockieren – nationales Klein-Klein statt strategischem Vorgehen. Ich frage mich, warum das so ist, wenn sie doch genau wissen, dass sie von einer handlungsfähigen EU eigentlich profitieren würden.
Reformen ohne Vertragsänderung?
Minna
Ich glaube nicht, dass es für die nordöstlichen Mitgliedstaaten grundsätzlich um eine Blockade von Reformen geht. Worum es geht, ist nur jetzt gerade keine Vertragsänderungen durchzuführen, die in einen komplett neuen Vertrag münden würden – aus den von mir schon genannten Gründen.
Wenigstens aus Sicht der nordischen Staaten ist auch die Beitrittsperspektive der Ukraine nicht unbedingt mit der Notwendigkeit verbunden, die Verträge zu öffnen. Ich würde eher sagen, das eindeutige Framing in Russlands Nachbarschaft ist die Sicherheit der Staaten, die alles andere überwiegt – und das ist nicht nur eine Ausrede. Außerdem geht man davon aus, dass viele notwendige Veränderungen auch schon im Rahmen des Lissabonner Vertrags möglich wären, etwa über die Passerelle-Klausel.
Carmen
Interessant dazu: Ein Expertenteam um den Rechtswissenschaftler Alberto Alemanno schätzt, das von allen ursprünglich 178 Vorschlägen, die die Bürgerforen der EU-Zukunftskonferenz vorgelegt haben, nur zwölf Prozent Vertragsänderungen nötig machen würden. Viel sei auch mit zwischenstaatlicher Kooperation bereits zu erreichen.
Ich sehe die Antwort in der Mitte: Selbst wenn Vertragsreformen nicht unbedingt nötig sind, können sie je nach Politikfeld die optimale Lösung zur besseren Zielerreichung sein. Nichtsdestotrotz haben wir auf dem Weg dahin auch andere Instrumente.
Julian
Ja, dieses Argument ist auch in Deutschland von Regierungsvertreter:innen immer wieder zu hören. Allerdings: Erst letzte Woche habe ich miterlebt, wie jemand aus dem Auswärtigen Amt gefragt wurde, welche konkreten Reformen man denn innerhalb der Verträge oder mit der Passerelle umsetzen wollen würde. Da kam dann nichts.
Sophie
Ein Fall von „muddling through – but upwards!“ 😉
Was die Verknüpfung von Erweiterung und institutioneller Reform betrifft: Ich weiß nicht, ob ich Vertragsreformen in erster Linie aus einem geopolitischen Winkel betrachten würde. Es sind zwei verschiedene Sachen, und das Argument der nordischen Staaten, das Minna vorgebracht hat, basiert auf der Angst vor Russland und dem Glauben, dass ein Vertragsreformprozess zu einer Fragmentierung führen der EU könnte. Das ist aber eine falsche Annahme. Es funktioniert ja sowieso nicht in der EU – wir sind schon jetzt fragmentiert, und deshalb sollten wir auf keinen Fall so weitermachen wie bisher.
Im Übrigen stimme ich Manuel zu: Handlungsfähigkeit ja, aber auch demokratisch. Deshalb ist es so wichtig, dass man beides Hand in Hand betrachtet.
Geopolitik und institutionelle Fragen
Minna
Ich denke schon, dass die Kopplung der institutionellen Debatte an die geopolitische Situation sinnvoll ist. Die geopolitische Komponente zu ignorieren, war schon früher genau der blinde Fleck der EU. Hier zeigen sich sehr schön auch wieder die unterschiedlichen Sichtweisen zwischen den nordöstlichen Mitgliedstaaten aus Russlands direkter Nachbarschaft und den „westeuropäischen“ bzw. weiter von Russland entfernten Ländern.
Carmen
Ja – wichtiger Punkt!
Sophie
Mein Eindruck ist umgekehrt, dass seit dem Krieg auf einmal die geopolitische Experten-Community die EU „wiederentdeckt“ hat, aber ihnen oft die institutionelle Perspektive fehlt. Da ist der blinde Fleck!
Aber grundsätzlich stimme ich dir zu – von der „geopolitischen Kommission“ hat man wenig mitbekommen. Eine Diskussion für ein anderes Quartett! 🙂
Minna Julian
Das sollte auch nicht das Thema für ein anderes Quartett sein! Ich sehe es wie Minna – die Lösung der Reform-Frage liegt in der Zusammenführung der beiden Debatten. Solange wir sie getrennt führen, kommen wir nicht vom Fleck.
Sophie
Ich meinte nur, dass es dazu genügend Gesprächsstoff für zwei Quartette gäbe. Ein Zusammenführen der Debatten sollte definitiv stattfinden!
Julian
Mindestens für zwei. Ich dachte, Du wolltest das Thema vertagen … 😉
Die nordöstlichen Mitgliedstaaten ernst nehmen
Minna
Jedenfalls wäre es sehr gefährlich, die echten (und großen!) Sorgen und Bedenken der nord- und ostmitteleuropäischen Länder einfach als eine weitere Ausrede und generellen Unwillen gegenüber Reformen abzutun. Das Problem ist, dass die Länder sich in ihren Sicherheitsinteressen von „den Großen“ (Deutschland und Frankreich) ignoriert fühlen. Darüber haben wir ja auch schon beim letzten Mal gesprochen.
Julian
Aber das ist ja die Krux! Eine Vertragsreform wäre die beste Chance für diese Länder, ernst genommen zu werden. Im aktuellen zwischenstaatlichen Modus ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie übergangen werden, viel größer.
Manuel
Mir scheint diese Haltung auch etwas irrational. Wie Sophie schon gesagt hat, ist die Spaltung der EU über institutionelle Fragen längst da. Ein Konvent könnte eine Möglichkeit sein, um diese Spaltungen mithilfe von Paket-Deals zu überwinden. Wenn man sich hingegen davor drückt, gehen die institutionellen Fragen nicht weg, sondern bleiben als Elefant im Raum erhalten. Das kann die EU am Ende mindestens ebenso gut lahmlegen und ist für die Außen-, Sicherheits- und Erweiterungspolitik kein kleineres Risiko.
Desinformation als Gefahr?
Minna
Ein Punkt gegen Vertragsänderungen in diesem Moment ist aus nord- und ostmitteleuropäischer Sicht auch, dass Russland einen so tief in die Grundfesten der EU gehenden Prozess wie einen Vertragskonvent nutzen könnte, um durch Desinformation Einfluss zu nehmen. Und nicht alle EU-Mitglieder sind gut dagegen gewappnet.
Manuel
Das stimmt wohl. Aber wenn wir Vertragsänderungen erst durchführen wollen, wenn Russland keine Desinformationspolitik mehr betreibt, könnten wir bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten.
Und auch hier frage ich mich, ob man Desinformation nicht besser entgegentritt, wenn man die institutionellen Reformen offen mit einem Konvent angeht. Aus meiner Sicht ist die Gefahr größer, wenn diese Fragen nur als Nebenthema diskutiert werden – weil es dann leichter vorkommt, dass bestimmte Desinformationen in einzelnen Mitgliedstaaten den Diskurs beeinflussen, ohne dass die europäische Öffentlichkeit insgesamt davon Notiz nimmt und politische Akteur:innen ihnen klar entgegentreten.
Minna
Welche europäische Öffentlichkeit? 😏 (Eines der alten Probleme der EU …)
Kommt die Europäische Politische Gemeinschaft?
Sophie
Und es bleibt eben dabei, gerade im geopolitischen Kontext: Ohne Vertragsreformen sind wir in der EU nicht handlungsfähig, insbesondere solange die Einstimmigkeit erhalten bleibt. Auch die Grundwerte darf man in der Erweiterungsdebatte nicht vergessen – in der Ukraine gibt es mehr Korruption als in Rumänien oder Bulgarien, Rechtsstaatlichkeit war schon vor dem russischen Angriffskrieg ein Problem.
Und seien wir ehrlich: Die Ukraine hat jetzt zwar den Kandidatenstatus, aber wird wahrscheinlich erst in einem Jahrzehnt Mitglied, wenn überhaupt. Wenn EU-Vertragsreformen nicht möglich sind, dann sollten wir deshalb zumindest den Vorschlag von Emmanuel Macron zur Europäischen Politischen Gemeinschaft näher betrachten und versuchen, die Erweiterungspolitik zu reformieren.
Den kompletten acquis communautaire anzunehmen ist keine leichte Aufgabe. Die Frage ist auch, was für die neuen Beitrittsländer am wichtigsten ist – Teil des Binnenmarkts zu werden? Schengen? Klimapolitik? Je nachdem, sollte man versuchen, sie in bestimmten Politikfeldern einzubinden und heranzuführen. Macrons Vorschlag ist noch sehr vage und müsste ausgearbeitet werden, aber jedenfalls bietet er dafür einen neuen Ansatz.
Minna
Ich denke, bei der Europäischen Politischen Gemeinschaft ist es wichtig zu klären, inwiefern das eine verbindliche Vorstufe mit tatsächlichen Integrationsschritten wird und nicht nur ein Wartezimmer, mit der die Beitrittskandidaten weiter at arms length gehalten werden.
Manuel
Ja, diese Debatte wird uns in nächster Zeit sicher noch beschäftigen. Mir ist bis jetzt noch überhaupt nicht klar, was die Europäische Politische Gemeinschaft eigentlich sein soll – eine Alternative zur Erweiterung explizit nicht, das hat der Europäische Rat zuletzt noch einmal klargestellt. Und als Vorfeldorganisation der EU, die für die gemeinsamen demokratischen Werte steht und lockere intergouvernementale Zusammenarbeit ermöglicht, haben wir ja eigentlich schon den Europarat. Der hat nach dem Ausschluss von Russland auch ziemlich genau die Mitgliedstaaten, die für die EPG diskutiert werden.
Julian
Ich stimme zu, dass uns das Schlagwort EPG noch eine ganze Weile erhalten bleiben wird. Ob die Debatte am Ende aber zu irgendeinem konkreten Ergebnis führt, da bin ich eher skeptisch. Wahrscheinlich wird die EPG eher als zwei weitere Seiten im großen Archiv der nie realisierten Integrationsvorschläge enden.
Differenzierte Integration als Ausweg?
Manuel
Dann sprechen wir doch noch mal darüber, was passiert, wenn institutionelle Reformen aufgrund der Blockade der nördlichen und östlichen Mitgliedstaaten dauerhaft unmöglich werden. Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass die reformwilligen Länder und das Europäische Parlament sich damit einfach abfinden werden. Stattdessen könnte die Debatte über differenzierte Integration neuen Aufwind bekommen – sei es als politische Lösung (wir machen Reformen, aber eben nur mit den Willigen) oder als politisches Druckmittel (da viele nördliche und östliche Regierungen dann ja doch nicht Teil der „zweiten Reihe“ sein wollen).
Würdet ihr sagen, dass das aus Sicht der reformwilligen Länder ein plausibler und wünschenswerter Ansatz ist?
Sophie
Ja, auf jeden Fall. Ich finde, dass differenzierte Integration eine gute Methode wäre, ein bisschen ambitionierter vorzugehen. Insbesondere weil es ja – wie wir gesehen haben – große Unterschiede in der Auffassung der 27 gibt, wie es mit der EU weitergehen soll.
Minna
Einen so starken Druck aufzubauen, bis die nord- und ostmitteleuropäischen Länder „einknicken“, wäre kein wünschenswerter Ansatz. Das würde nur wieder einmal bestätigen, dass die anderen in der EU die Sicherheitslage dieser Staaten weder verstehen noch berücksichtigen.
Paketlösungen vielleicht – aber das Problem bleibt, dass die nord- und ostmitteleuropäischen Länder im Moment einfach nicht wollen, dass die EU ihre Aufmerksamkeit in einen solchen ungewissen Prozess steckt. Zumindest müsste man sich also erst einmal auf eine Prioritätenliste einigen, was unbedingt notwendig ist, und dann schauen, wie man es am besten angeht, ob durch einen Konvent oder auf anderen Weg.
Sicherheitspolitische Interessen
Sophie
Inwieweit bedeutet differenzierte Integration denn, dass die anderen EU-Länder die Sicherheitslage der nord- und ostmitteleuropäischen Staaten nicht berücksichtigen? Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU findet doch sowieso intergouvernemental und in Zusammenarbeit mit der NATO statt, oder?
Minna
Differenzierte Integration an sich ist nicht das Problem – dazu gab es letztens auch ein interessantes Paper des finnischen Thinktanks FIIA.
Eine stärkere Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik als Alternative zur NATO haben die nordischen Länder allerdings ein Stück weit aufgegeben, glaube ich. Deshalb treten Finnland und Schweden ja auch der NATO bei. Und Sicherheit ist eben komplexer als nur militärische Verteidigung.
Julian
Wenn ich mir die aktuellen Entwicklungen in den USA ansehe, dann ist der Versuch, sich sicherheitspolitisch allein auf die NATO verlassen zu wollen, genau das kurzsichtige Rumgewurschtel, das wir in der Krise in der Eurozone hatten. Das trägt bis zur nächsten Krise bzw. US-Präsidentschaftswahl, aber wahrscheinlich nicht darüber hinaus. Eine dauerhafte Lösung ist das nicht.
Der Wert der NATO
Minna
Die NATO ist ja nicht nur die USA. Für Finnland und Schweden ist besonders auch die nordische Dimension und die Zusammenarbeit innerhalb der NORDEFCO wichtig.
Julian
Aber welche Bedeutung hat die NATO noch, wenn nicht sicher ist, dass die USA dahinter stehen? Das ist dann doch nur nette Symbolpolitik.
Sophie
Ja – die NORDEFCO in allen Ehren, aber du kannst mir doch nicht erzählen, dass die Sicherheit der Europäer:innen nicht (fast) komplett von den USA abhängt. Wir sind derzeit nicht in der Lage, uns selbst zu verteidigen.
Minna
Das ist eine sehr deutsche Sicht! Finnland ist in der Tat in der Lage, sich selbst zu verteidigen.
Sophie
Die Frage ist nur, gegen wen … 😉
Julian
Der eigentliche Wert der NATO besteht doch darin, dass sich niemand anzugreifen traut, solange die USA an Bord sind. Wenn die USA wieder ein unsicherer Kantonist werden, dann wäre ich nicht mehr sicher, ob der präventive Schutzschirm noch trägt.
Sophie
Klar. Trotzdem kann man die „europäische Säule“ innerhalb der NATO stärken!
Carmen
Eben, die europäische Emanzipation in Sachen Strategie und Militärausgaben wurde ja auch wiederholt von den USA angemahnt – Stichwort Zwei-Prozent-Ziel.
Julian
Da habt ihr mich missverstanden. Das sollte ein Argument für die zwingende Notwendigkeit einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sein. (Jetzt sind wir aber ein bisschen vom Thema differenzierte Integration abgekommen …)
Kooperation unter Willigen und Exit-Option light
Carmen
Zurück zur Ausgangsfrage: Ich bin keine Expertin im Bereich Sicherheitspolitik, aber ich denke, der (zum Teil durchaus valide) Pauschalvorwurf, dass die anderen EU-Länder die Sicherheitslage der nord- und ostmitteleuropäischen Staaten nicht berücksichtigen, rechtfertigt nicht eine kategorische Ablehnung von EU-Reformen.
Zumal differenzierte Integration ja ausdrücklich variable Allianzen und damit eine an nationale Gegebenheiten angepasste Kooperation ermöglicht. Ich denke, dass beides vereinbar ist, und angesichts der sukzessiven Krisen in der EU ist es auch nötig, bevor wir ernsthaft über Erweiterung debattieren.
Julian
Ich würde Manuels Frage von oben zwei Mal mit „Ja“ antworten. Das größte Potenzial sehe ich in differenzierter Integration als politischem Druckmittel, um eine Reihe der zögerlichen Staaten an Bord zu bekommen. Gleichzeitig hat die EU inzwischen eine so große Diversität unter ihren Mitgliedstaaten erreicht, dass ein neuer Schwur auf die vertraglichen Pflichten keine schlechte Idee wäre. Differenzierte Integration bietet die Möglichkeit zu einer Exit-Option light, ohne dabei die großen Verwerfungen eines Brexit zu produzieren.
Wer dann an Bord bleibt und nicht in die zweite Reihe zurücktritt, muss aber auch alle Pflichten erfüllen. Höhere EU-Haushaltsbeiträge im Norden, Rechtsstaatlichkeit im Osten, Verteidigung in Zentraleuropa, weitere wirtschaftliche Reformen im Süden – ich glaube, das tut allen Mitgliedstaaten gleichermaßen weh, ohne irgendjemanden zu übervorteilen.
Carmen
Erscheint mir wünschenswert! Vielleicht wäre eine Kooperation unter Willigen auch eine Möglichkeit, Reformen für die nördlichen und ostmitteleuropäischen Staaten attraktiv zu machen. Wenn man nicht mit Sieben-Meilen-Stiefeln auf dem Reformweg voranschreitet, sollte man zumindest kleinere Tippelschritte nach vorne machen. Denn wie schon gesagt: Auf der Stelle zu treten können wir uns nicht leisten.
Minna
Guter Punkt (und schönes Bild) mit den Sieben-Meilen-Stiefeln! 🥾
Wie kann Differenzierung konkret gestaltet werden?
Manuel
Dann aber noch mal zur Frage, wie das konkret aussehen könnte. Ein Problem ist ja oft, dass institutionelle Reformen die Struktur der EU insgesamt betreffen – wenn man zum Beispiel das Europawahlrecht reformieren und transnationale Listen einführen will, kann man das nicht gut „differenziert“ nur für einige Mitgliedstaaten machen.
Sophie
Ich sehe vor allem eine große Herausforderung, wenn man differenzierte Integration vorantreiben möchte: Wie kann man gleichzeitig mehr Handlungsfähigkeit ermöglichen, aber auch sicherstellen, dass es demokratisch bleibt – ohne dabei die Komplexität weiter zu erhöhen in einem System, bei dem man jetzt schon schnell den Durchblick verliert?
Bei der Eurozone sehen wir, wie kompliziert es ist: Ihre Institutionen sind teilweise mit der EU verbunden, aber nicht ganz – deshalb wünschte sich Piketty ja ein Eurozonen-Parlament. Doch nur mit der Schaffung von neuen (demokratischen) Institutionen ist es nicht getan, weil man dadurch womöglich auch andere (demokratische) Institutionen aushöhlt.
Das Kerneuropa-Modell
Manuel
Julian, wie würdest du das denn bei deinem oben skizzierten Paketvorschlag Fiskalunion + Rechtsstaat + Verteidigung + Reformen lösen? Eine Kerneuropa-Union mit ganz eigenen Institutionen?
Julian
Die Antwort hängt ein wenig davon ab, welches Niveau von Rechten und Pflichten die zweite Reihe haben wollen. Wenn da einige mit der norwegischen Lösung leben können (was aus Sicht von heutigen Nicht-Mitgliedern vielleicht ökonomisch gar nicht so unattraktiv ist), dann würden die supranationalen EU-Institutionen in den Kern wandern und wir bräuchten keine Doppelstrukturen.
Wenn die zweite Reihe hingegen mehr Mitspracherechte haben soll, bräuchte es in der Tat neue Institutionen. Meiner Ansicht nach wäre es dann wichtig, dass streng nach Politikbereichen unterschieden wird, welches Organ für welchen Bereich zuständig ist. Es würde uns in arge Transparenzprobleme stürzen, wenn für einen Teil der Entscheidungen in einem Politikbereich das eine Organ und für andere Entscheidungen das andere Organ zuständig ist. Deshalb sollte man nur ganze Politikbereiche wählen oder abwählen können.
Zwei Niveaus an Rechten und Pflichten?
Manuel
Das würde aber in jedem Fall voraussetzen, dass Staaten, die jetzt Mitglieder sind, auf Mitspracherechte in den supranationalen Institutionen verzichten, oder? Im ersten Modell, indem sie formal aus der EU austreten; im zweiten Modell, indem sie die Übertragung von Kompetenzen auf die neuen „kerneuropäischen“ Organe zulassen. Warum sollte sich zum Beispiel die ungarische Regierung auf so etwas einlassen?
(Außer wenn die reformwilligen Staaten bereit wären, mit einer kompletten Umgründung zu drohen – also damit, dass sie alle aus der bestehenden EU austreten und untereinander einen Vertrag über eine neue Union abschließen. Aber das wäre dann doch ein bisschen viel hardball.)
Julian
Die Herausforderung besteht darin, zwei unterschiedliche Niveaus an Rechten und Pflichten festzulegen, mit denen die Staaten der ersten und der zweiten Reihe jeweils zufrieden sind. Wenn das gelingt, könnte es in der Tat so sein, dass der äußere Kreis bestimmte Rechte aufgibt, dafür aber auch weniger Pflichten hat.
Wäre eine Kern-EU ebenso wirksam?
Minna
Die Frage ist auch, wie man Politikbereiche sinnvoll voneinander entkoppeln kann und ob eine verkleinerte EU noch genauso wirksam wäre. Um nur einen Bereich zu nennen: Könnte zum Beispiel die EU-Klimapolitik noch ihre Ziele erreichen, wenn sich nur noch wenige Mitgliedstaaten daran beteiligen?
Carmen
Ich sehe hier ein wenig die Gefahr von Rosinenpickerei aufkommen. Aber das wäre wahrscheinlich ein unvermeidlicher Teil des Deals.
Julian
Wenn Klimapolitik nur von Kerneuropa gemacht wird, würden die Ziele eben nur für diese Länder festgelegt und von diesen umgesetzt. Einerseits lässt sich argumentieren, dass europäische Klimapolitik dann weniger Sinn macht. Aber genauso könnte man sagen, dass die EU keine Klimapolitik machen sollte, wenn nicht China und die USA mit an Bord sind.
Und andererseits lässt sich auch argumentieren, dass ambitionierte Ziele im Kern, die dann auch wirklich umgesetzt werden, mehr wert sind und mehr Effekt haben als ein halbgarer Kompromiss unter allen (heutigen) Mitgliedstaaten.
Aber in der Tat, die gegebenenfalls notwendige partielle Entflechtung von Politikbereichen könnte eine Herausforderung werden. Das Vereinigte Königreich führt das derzeit ja vor.
Das Zusatzvertrag-Modell
Manuel
Eine andere Form differenzierter institutioneller Reform könnten in meinen Augen auch Zusatzverträge sein, mit denen eine Gruppe von Mitgliedstaaten sich untereinander zu einer stärker integrativen Haltung verpflichtet – so ähnlich wie ursprünglich beim Fiskalpakt. Zum Beispiel könnte eine Gruppe von Ländern untereinander vereinbaren, bei Abstimmungen im Rat nicht mehr von der Vetomöglichkeit Gebrauch zu machen, sondern bei Entscheidungen mit Einstimmigkeitserfordernis im Sinne der Mehrheit abzustimmen oder sich zu enthalten.
Ein solches Zusatzvertrag-Modell hätte den Vorteil, dass die reformwilligen Staaten es selbst in der Hand haben und von den anderen nicht daran gehindert werden könnten. Gleichzeitig hätten die anderen vordergründig auch keinen Nachteil, da sie ja ihr Vetorecht behalten würden. Allerdings würden sie sich damit im Rat stärker als Außenseiter kennzeichnen – und es bestünde die Chance, dass nach einem künftigen Regierungswechsel die neue Regierung nachzieht und dem Zusatzvertrag doch noch beitritt.
Julian
Zumindest als politischer Hebel wären Zusatzverträge auf jeden Fall ein Modell, das konkret durchdacht werden sollte – und sei es nur, um zweifelnde Mitgliedstaaten zur Reform zu motivieren. Und wenn gar kein Kompromiss in Aussicht ist, dann ist eine solche Differenzierung allemal besser, als die Reformen weiter zu prokrastinieren.
Allerdings sollte es dann ein einzelner großer neuer Vertrag sein und kein Wust an politikfeld- oder maßnahmenspezifischen Verträgen.
Whatever works
Sophie
An sich ist das eine gute Idee – aber mich würde es sehr wundern, wenn Mitgliedsländer auch wirklich diesen Schritt gehen. Welche Regierung würde denn schon willentlich Macht abgeben, wenn nicht alle anderen mitziehen?
Aber wenn es passieren würde, wäre ich dafür. Inzwischen bin ich da auch sehr pragmatisch geworden: Whatever works. Alle Optionen, die es gibt, um die EU handlungsfähiger zu machen, ohne die (nationale und europäische) Demokratie auszuhöhlen, sind gut. Und es gibt ja schon ein schönes Beispiel, wie so ein Zusatzvertrag anschließend in die EU „integriert“ werden könnte: Auch Schengen entstand außerhalb der EU-Verträge und wurde dann erst mit dem Amsterdam-Vertrag in das reguläre Vertragswerk aufgenommen.
Carmen
Ja, whatever works ist zum neuen whatever it takes geworden.
Sophie
Nur schade, dass die Mitgliedstaaten den Whatever-it-takes-Ansatz eher nicht verfolgen, wenn es um die Handlungsfähigkeit der EU geht. So richtig motiviert sind sie ja nicht …
Minna Ålander ist Forschungsassistentin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. |
Carmen Descamps ist Stellvertretende Referatsleiterin Wirtschaft an der Deutschen Botschaft Madrid. |
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Julian Plottka ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Politik an der Universität Passau und am Lehrstuhl für Europapolitik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
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Sophie Pornschlegel ist Senior Policy Analyst am European Policy Centre in Brüssel.
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