21 April 2013

Warum Medien die deutsche Bundesregierung verantwortlich machen, wenn das Europäische Parlament gegen den Klimaschutz stimmt

Trotz Frühlingsanfang hat das Europäische Parlament zurzeit Ärger mit dem Klima. Aber ist daran wirklich schon wieder die Bundesregierung schuld?
Am vergangenen Dienstag fiel in Straßburg eine Entscheidung, die das europäische Emissionshandelssystem – das zentrale Instrument der EU beim Klimaschutz – für Jahre beschädigen dürfte. Nachdem der Preis für Emissionsrechte schon seit längerem stark gesunken war, hatte die Europäische Kommission vorgeschlagen, den Markt vorübergehend künstlich zu verknappen, um den Unternehmen wieder Anreize für Klimaschutzmaßnahmen zu setzen. Doch mit einer knappen Mehrheit lehnte das Europäische Parlament diesen Plan nun ab. Interessant daran sind aber nicht nur die Folgen für das Klima, sondern auch die Reaktionen in der (deutschen) Medien bei der Suche nach einem Verantwortlichen. Denn über die umwelt- und wirtschaftspolitische Dimension hinaus verweist die Entscheidung auch auf strukturelle Probleme der europäischen Öffentlichkeit.

Backloading

Kurz zum Hintergrund: Das 2005 eingerichtete Emissionshandelssystem der EU leidet seit 2008 unter einem stetigen Preisverfall der Emissionsrechte – von fast 30 auf unter 5 Euro pro Tonne. Dieser niedrige Preis bewirkt, dass Unternehmen derzeit kaum Anreize haben, Investitionen in den Klimaschutz durchzuführen. Wesentliche Ursache dafür ist die Eurokrise, die zu einer schrumpfenden Wirtschaft und damit auch zu weniger CO2-Emissionen führte. Diese Entwicklung ist aber nur konjunkturell: Wenn die Wirtschaft wieder anzieht, werden auch die Emissionen wieder steigen. Mittelfristig droht die EU deshalb ihr Klimaschutzziel zu verpassen.

Um also wieder einen Anreiz für Klimainvestitionen zu schaffen, schlug die Europäische Kommission vor, die Emissionsrechte während der Krise vorübergehend zu reduzieren: Zertifikate, die eigentlich für den Zeitraum 2013-2015 vorgesehen sind, sollten erst 2018-2020 vergeben werden. Dieser Plan, im Brüsseler Jargon als „Backloading“ („Nach-hinten-Verlagern“) bekannt, benötigte jedoch die Zustimmung von Ministerrat und Europaparlament. Nachdem der Umweltausschuss des Parlaments das Vorhaben bereits im Februar befürwortet hatte, stand nun eine Entscheidung im Plenum an. Unterstützt wurde das Backloading von den Umweltorganisationen, aber auch von klimafreundlichen Unternehmen, bekämpft wurde es von Wirtschaftsverbänden, die darin in der Krise ein Wachstumshemmnis sehen. Am Ende stimmte, wie gesagt, eine Mehrheit der Abgeordneten dagegen, woraufhin der Preis der Zertifikate auf ein Rekordtief von 2,63 Euro absackte – ebenso wie übrigens die Aktien der deutschen Stromversorger, die im europäischen Vergleich überdurchschnittlich stark in klimafreundliche Energien investiert haben.

Abweichler in allen Fraktionen
Keine klare Linie: Das Abstimmungsverhalten der Fraktionen zum Backloading.

Besonders spannend war daran, dass die Abstimmung mit 334 zu 315 Stimmen äußerst knapp ausfiel. Grundsätzlich verlief die Teilung dabei entlang eines Links-Rechts-Gegensatzes: Unterstützt wurde der Backloading-Plan von den Fraktionen der Linken (GUE-NGL), Grünen (G-EFA) und Sozialdemokraten (S&D), abgelehnt wurde er von Christdemokraten (EVP), Nationalkonservativen (ECR) und Rechtspopulisten (EFD). Die Liberalen (ALDE), die sonst häufig den Ausschlag zwischen linkem und rechtem Lager geben, waren selbst gespalten: 44 Abgeordnete stimmten für, 31 gegen den Plan, zwei enthielten sich.

Doch auch in den anderen Fraktionen gab es zahlreiche Abweichler. In der EVP etwa stimmte fast ein Drittel nicht mit der Mehrheit; und die S&D zählte bei 122 Befürwortern immerhin 24 Gegner und 28 Enthaltungen – vor allem von ost- und südeuropäischen Abgeordneten, denen in der Krise Wachstum vor Klimaschutz geht. Nicht einmal die grüne Fraktion trat vollkommen geschlossen auf. Zwar stimmten alle grünen Abgeordneten für den Plan, doch in der Europäischen Freien Allianz, einem Bündnis von Regionalparteien, das mit den Grünen eine gemeinsame Fraktion bildet, stimmte ein Mitglied dagegen, ein weiteres enthielt sich.

Zuletzt war die Abstimmung derartig eng, dass die 28 Stimmen der fraktionslosen Abgeordneten den Ausschlag gaben – darunter etliche Rechtsextreme aus verschiedenen Ländern, die nahezu geschlossen gegen den Plan votierten. Insgesamt folgten nur 73 Prozent aller Europaabgeordneten ihrer jeweiligen Fraktionslinie, während sonst die Kohäsion der Fraktionen in Umweltfragen bei über 85 Prozent liegt.

Wer ist für das Scheitern verantwortlich?

Sucht man nach Verantwortlichen für das Scheitern des Plans, so könnte man sich also an ganz unterschiedliche Politiker wenden: etwa an die Klimakommissarin Connie Hedegaard (K/EVP), die den Vorschlag entworfen hatte und dann ihre eigene Fraktion nicht davon überzeugen konnte. Oder an die Liberalen, bei denen sich der Backloading-freundliche linke Flügel (vor allem die britischen LibDem) nicht mit den Backloading-Gegnern auf dem rechten (vor allem der deutschen FDP) einig wurde. Man könnte fragen, wie es um die Autorität des S&D-Vorsitzenden Hannes Swoboda steht; immerhin hätte der Plan ohne die Abweichler aus seiner Fraktion eine Mehrheit gefunden. Oder man könnte beklagen, dass die gemäßigt konservativen Kräfte im Parlament offenbar kein Problem damit haben, sich von Rechtspopulisten und Rechtsextremen zu einer Mehrheit verhelfen zu lassen.

Doch nichts von alledem war in den letzten Tagen in den großen deutschsprachigen Medien zu lesen. Wie knapp das Votum in Straßburg ausgefallen war, interessierte beispielsweise den Focus überhaupt erst, als einige Europaabgeordnete erklärten, dass sie versehentlich falsch abgestimmt hatten. Der Akteur, auf den sich die öffentliche Debatte konzentrierte, war vielmehr – Angela Merkel. Ob Süddeutsche, Spiegel, Zeit, Mittelbayerische Zeitung oder der Europablogger Eric Bonse, sie alle betonten die Rolle, die die deutsche Bundeskanzlerin in Sachen Backloading spielte. Und das anlässlich einer Abstimmung, an der sie überhaupt nicht beteiligt war!

Die Rolle der Bundesregierung

Was war die Ursache dieser auf den ersten Blick reichlich verwirrenden Schwerpunktsetzung? Der Anknüpfungspunkt ist, dass außer dem Parlament ja auch der Ministerrat über das Backloading abstimmen muss. Tatsächlich hat sich das Parlament noch eine Hintertür offen gelassen: Statt den Plan komplett abzulehnen, hat es ihn nur in den Umweltausschuss zurückverwiesen. Sofern Kommission und Rat einen neuen Kompromissvorschlag vorlegen, könnte es deshalb in einigen Monaten erneut darüber abstimmen. Dafür müsste nun jedoch der Rat die Initiative ergreifen – und dort ist tatsächlich die deutsche Bundesregierung ein zentraler Akteur.

Für die Medien besonders interessant ist zudem, dass sich das Kabinett Merkel bislang nicht auf eine gemeinsame Linie einigen konnte: Während Umweltminister Altmaier (CDU/EVP) das Backloading unterstützt, lehnt Wirtschaftsminister Rösler (FDP/ELDR) es ab. Angela Merkel (CDU/EVP), die vor einigen Jahren noch als „Klimakanzlerin“ gefeiert wurde, vermeidet eine Stellungnahme. Und natürlich ist in einem halben Jahr Bundestagswahl, sodass es sich auch die deutschen Europaabgeordneten von SPD (SPE) und Grünen (EGP) nicht nehmen ließen, ein wenig gegen die zerstrittene Koalition zu polemisieren.

Andererseits: Unabhängig davon, wie sich der Rat positioniert, benötigt der Backloading-Plan am Ende eben doch eine Mehrheit im Europäischen Parlament. Und auch auf europäischer Ebene stehen in wenig mehr als einem Jahr Wahlen an, bei denen wir Bürger die Zusammensetzung des Parlaments neu bestimmen können. Im Sinne einer informierten Wahlentscheidung wäre es deshalb durchaus sinnvoll, uns in diesen Monaten etwas mehr mit dem Verhalten der Europaabgeordneten zu beschäftigen. Welche Positionen die einzelnen Fraktionen vertreten und wie geschlossen sie dabei sind, dürfte in diesem Zusammenhang von einiger Bedeutung sein. Was also ist der Grund dafür, dass sich die öffentliche Debatte stattdessen doch immer wieder auf die nationalen Regierungen kapriziert? Oder, etwas konkreter gefragt: Warum in aller Welt halten deutsche Medien die Fraktionsdisziplin der CDU für ein außerordentlich wichtiges Thema, wenn der Deutsche Bundestag über die Frauenquote abstimmt – während ihnen die vielen sozialdemokratischen Abweichler bei der Backloading-Entscheidung nahezu gleichgültig sind?

Gründe für das fehlende Medieninteresse

Mir scheint, dass es dafür im Wesentlichen drei Gründe gibt. Erstens hatte das Europäische Parlament jahrzehntelang kaum politische Macht, was dazu führte, dass die Abgeordneten bei Abstimmungen oft allein ihren eigenen Überzeugungen folgten: Schließlich hatten die Entscheidungen ohnehin nur einen symbolischen Wert. In den letzten zehn, zwanzig Jahren hat sich dies jedoch geändert: Je mehr Einfluss das Parlament durch die EU-Vertragsreformen erhielt, desto geschlossener wurden auch die einzelnen Fraktionen. Eine so schlechte Fraktionsdisziplin wie bei der Backloading-Abstimmung ist heute die Ausnahme, nicht die Regel. Viele Redakteure haben dies aber anscheinend noch nicht verinnerlicht, sodass sie den Abweichlern im Europäischen Parlament einen geringeren Nachrichtenwert zuschreiben als denen im Bundestag.

Zweitens kommt hinzu, dass es im Europäischen Parlament bis heute keine festen Mehrheiten gibt. Auch wenn die einzelnen Fraktionen meist geschlossen abstimmen, bilden sich die Allianzen zwischen ihnen vor jeder Abstimmung neu. Dadurch fehlt die auf nationaler Ebene übliche dauerhafte Spaltung in Regierungsmehrheit und Opposition. Auch dies macht die Frage nach der Fraktionsdisziplin für die Medien weniger interessant: Das Spannende an der jüngsten Frauenquoten-Abstimmung im Deutschen Bundestag war ja nicht zuletzt, dass dabei auch der Bruch der Regierungskoalition insgesamt möglich schien. Eine vergleichbare Dramatik hat das Europäische Parlament nicht zu bieten.

Und drittens spielt auch das Wahlverfahren eine Rolle. Wenn Abgeordnete in wichtigen Entscheidungen gegen die Fraktionslinie stimmen, gehen sie meist auch ein erhebliches persönliches Risiko ein, da die Parteien notorische Abweichler bei der nächsten Wahl oft nicht mehr als Kandidaten aufstellen. Bei der Europawahl gibt es jedoch keine einheitlichen europäischen, sondern jeweils nationale Wahllisten. Die gesamteuropäischen Parteien haben deshalb kaum Möglichkeiten, Abweichler zu sanktionieren, solange diese die Unterstützung ihrer nationalen Parteien besitzen – wie bei der Backloading-Abstimmung etwa die deutschen FDP-Abgeordneten. Auch dies erklärt, weshalb die mediale Aufmerksamkeit sich stärker auf die Bundesregierung als auf die Fraktionen im Europaparlament richtet.

Wir brauchen ein neues Europawahlrecht

Und das ist nun die demokratiepolitische Lektion aus der Backloading-Entscheidung: Die Fraktionen im Europäischen Parlament und die gesamteuropäischen Parteien, auf die sie sich stützen, sind schon heute zentrale Akteure in der europäischen Politik. Von den Medien aber werden sie bislang nicht als solche wahrgenommen, was der europäischen öffentlichen Debatte schadet und sich gerade im Vorfeld der Europawahl als Problem erweist. Der Hauptgrund dafür ist der mangelnde Einfluss der europäischen Parteien auf wichtige Personalentscheidungen, speziell auf die Kandidaten bei der Europawahl und auf die Ernennung der Kommission. Die Lösung wären, natürlich, transnationale Wahllisten und eine stärker parteipolitische Ausrichtung der Kommission, die dann auch zu stabileren Parlamentsmehrheiten führen würde. Beides würde den Nachrichtenwert der europäischen Parteien gegenüber den nationalen Regierungen steigern und ihnen größere öffentliche Aufmerksamkeit verschaffen. Und am Ende würden wir alle uns daran gewöhnen, dass die Verantwortung für Beschlüsse des Europäischen Parlaments in Straßburg zu suchen ist und nicht in Berlin.

Bilder: © European Union 2013 - European Parliament (Attribution-NonCommercial-NoDerivs Creative Commons license), via Flickr; eigene Grafik (Quelle: VoteWatch.eu).

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Kommentare sind hier herzlich willkommen und werden nach der Sichtung freigeschaltet. Auch wenn anonyme Kommentare technisch möglich sind, ist es für eine offene Diskussion hilfreich, wenn Sie Ihre Beiträge mit Ihrem Namen kennzeichnen. Um einen interessanten Gedankenaustausch zu ermöglichen, sollten sich Kommentare außerdem unmittelbar auf den Artikel beziehen und möglichst auf dessen Argumentation eingehen. Bitte haben Sie Verständnis, dass Meinungsäußerungen ohne einen klaren inhaltlichen Bezug zum Artikel hier in der Regel nicht veröffentlicht werden.