- Trotz Frühlingsanfang hat das Europäische Parlament zurzeit Ärger mit dem Klima. Aber ist daran wirklich schon wieder die Bundesregierung schuld?
Am vergangenen Dienstag
fiel in Straßburg eine Entscheidung, die das europäische
Emissionshandelssystem – das zentrale Instrument der EU beim
Klimaschutz – für Jahre beschädigen dürfte. Nachdem der Preis
für Emissionsrechte schon seit längerem stark gesunken war, hatte
die Europäische Kommission vorgeschlagen, den Markt vorübergehend
künstlich zu verknappen, um den Unternehmen wieder Anreize für
Klimaschutzmaßnahmen zu setzen. Doch mit einer knappen Mehrheit
lehnte das Europäische Parlament diesen Plan nun ab. Interessant
daran sind aber nicht nur die Folgen für das Klima, sondern auch die
Reaktionen in der (deutschen) Medien bei der Suche nach einem
Verantwortlichen. Denn über die
umwelt- und wirtschaftspolitische Dimension hinaus verweist die
Entscheidung auch auf strukturelle Probleme der europäischen
Öffentlichkeit.
Backloading
Kurz
zum Hintergrund: Das 2005
eingerichtete Emissionshandelssystem
der EU leidet seit 2008 unter einem stetigen Preisverfall der
Emissionsrechte – von fast 30 auf unter 5 Euro pro Tonne.
Dieser niedrige Preis bewirkt, dass Unternehmen
derzeit kaum Anreize haben, Investitionen in
den Klimaschutz durchzuführen. Wesentliche Ursache dafür ist die Eurokrise, die zu einer
schrumpfenden Wirtschaft und damit auch zu weniger
CO2-Emissionen
führte. Diese Entwicklung ist aber nur konjunkturell: Wenn die Wirtschaft wieder anzieht,
werden auch die Emissionen wieder steigen. Mittelfristig droht die
EU deshalb ihr Klimaschutzziel zu verpassen.
Um also wieder einen Anreiz für Klimainvestitionen zu schaffen, schlug die Europäische Kommission vor, die
Emissionsrechte während der Krise vorübergehend zu reduzieren: Zertifikate, die eigentlich für den Zeitraum 2013-2015 vorgesehen sind, sollten erst 2018-2020 vergeben werden. Dieser Plan, im Brüsseler Jargon als „Backloading“ („Nach-hinten-Verlagern“)
bekannt, benötigte jedoch die Zustimmung von Ministerrat und
Europaparlament. Nachdem der Umweltausschuss des Parlaments das Vorhaben bereits
im Februar befürwortet hatte, stand nun eine
Entscheidung im Plenum an. Unterstützt wurde das Backloading von den
Umweltorganisationen, aber auch von klimafreundlichen Unternehmen,
bekämpft wurde es von Wirtschaftsverbänden, die darin in der Krise
ein Wachstumshemmnis sehen. Am Ende stimmte, wie gesagt, eine
Mehrheit der Abgeordneten dagegen, woraufhin der Preis der
Zertifikate auf ein Rekordtief von 2,63 Euro absackte – ebenso wie
übrigens die Aktien der deutschen Stromversorger, die im
europäischen Vergleich überdurchschnittlich stark in
klimafreundliche Energien investiert haben.
Abweichler in allen
Fraktionen
Besonders
spannend war daran, dass die Abstimmung mit 334 zu 315 Stimmen
äußerst knapp ausfiel. Grundsätzlich verlief die Teilung dabei
entlang eines Links-Rechts-Gegensatzes: Unterstützt wurde der
Backloading-Plan von den Fraktionen der Linken (GUE-NGL), Grünen
(G-EFA) und Sozialdemokraten (S&D), abgelehnt wurde er von
Christdemokraten (EVP), Nationalkonservativen (ECR) und
Rechtspopulisten (EFD). Die Liberalen (ALDE), die sonst häufig den
Ausschlag zwischen linkem und rechtem Lager geben, waren selbst
gespalten: 44 Abgeordnete stimmten für, 31 gegen den Plan, zwei
enthielten sich.
Doch
auch in den anderen Fraktionen gab es zahlreiche Abweichler. In der
EVP etwa stimmte fast ein Drittel nicht mit der Mehrheit; und die S&D zählte bei 122 Befürwortern immerhin 24 Gegner
und 28 Enthaltungen – vor allem von ost- und südeuropäischen
Abgeordneten, denen in der Krise Wachstum vor Klimaschutz geht. Nicht einmal die grüne Fraktion trat vollkommen geschlossen auf.
Zwar stimmten alle grünen Abgeordneten für den Plan, doch in der
Europäischen Freien Allianz, einem Bündnis von Regionalparteien,
das mit den Grünen eine gemeinsame Fraktion bildet, stimmte ein
Mitglied dagegen, ein weiteres enthielt sich.
Zuletzt
war die Abstimmung derartig eng, dass die 28 Stimmen der fraktionslosen
Abgeordneten den Ausschlag gaben – darunter etliche Rechtsextreme
aus verschiedenen Ländern, die nahezu geschlossen gegen den Plan
votierten. Insgesamt folgten nur 73 Prozent aller Europaabgeordneten ihrer jeweiligen Fraktionslinie,
während sonst die Kohäsion der Fraktionen in Umweltfragen bei über 85 Prozent liegt.
Wer ist für das
Scheitern verantwortlich?
Sucht
man nach Verantwortlichen für das Scheitern des Plans, so könnte
man sich also an ganz unterschiedliche Politiker wenden: etwa an die
Klimakommissarin Connie Hedegaard (K/EVP), die den Vorschlag
entworfen hatte und dann ihre eigene Fraktion nicht davon überzeugen
konnte. Oder an die Liberalen, bei denen sich der
Backloading-freundliche linke Flügel (vor allem die britischen
LibDem) nicht mit den Backloading-Gegnern auf dem rechten (vor allem
der deutschen FDP) einig wurde. Man könnte fragen, wie es um die
Autorität des S&D-Vorsitzenden Hannes Swoboda steht; immerhin
hätte der Plan ohne die Abweichler aus seiner Fraktion eine Mehrheit
gefunden. Oder man könnte beklagen, dass die gemäßigt
konservativen Kräfte im Parlament offenbar kein Problem damit haben,
sich von Rechtspopulisten und Rechtsextremen zu einer Mehrheit
verhelfen zu lassen.
Doch
nichts von alledem war in den letzten Tagen in den großen
deutschsprachigen Medien zu lesen. Wie knapp das Votum in Straßburg
ausgefallen war, interessierte beispielsweise den Focus
überhaupt erst, als einige
Europaabgeordnete erklärten, dass sie versehentlich falsch abgestimmt hatten. Der Akteur, auf den sich die
öffentliche Debatte konzentrierte, war vielmehr – Angela Merkel.
Ob Süddeutsche,
Spiegel,
Zeit,
Mittelbayerische Zeitung oder der
Europablogger Eric Bonse, sie alle betonten die Rolle, die die deutsche
Bundeskanzlerin in Sachen Backloading spielte. Und das anlässlich
einer Abstimmung, an der sie überhaupt nicht beteiligt war!
Die Rolle der
Bundesregierung
Was
war die Ursache dieser auf den ersten Blick reichlich verwirrenden
Schwerpunktsetzung? Der Anknüpfungspunkt ist, dass außer dem
Parlament ja auch der Ministerrat über das Backloading abstimmen
muss. Tatsächlich hat sich das Parlament noch eine Hintertür offen gelassen: Statt den Plan komplett abzulehnen, hat es ihn nur in
den Umweltausschuss zurückverwiesen. Sofern Kommission und Rat einen
neuen Kompromissvorschlag vorlegen, könnte es deshalb in einigen Monaten erneut darüber abstimmen. Dafür müsste nun
jedoch der Rat die Initiative ergreifen – und dort ist tatsächlich
die deutsche Bundesregierung ein zentraler Akteur.
Für
die Medien besonders interessant ist zudem, dass sich das Kabinett
Merkel bislang nicht auf eine gemeinsame Linie einigen konnte:
Während Umweltminister Altmaier (CDU/EVP) das Backloading
unterstützt, lehnt Wirtschaftsminister Rösler (FDP/ELDR) es ab.
Angela Merkel (CDU/EVP), die vor einigen Jahren noch als
„Klimakanzlerin“ gefeiert wurde, vermeidet eine Stellungnahme. Und
natürlich ist in einem halben Jahr Bundestagswahl, sodass es sich
auch die deutschen Europaabgeordneten von SPD (SPE) und Grünen (EGP) nicht nehmen ließen, ein wenig gegen die zerstrittene Koalition zu polemisieren.
Andererseits:
Unabhängig davon, wie sich der Rat positioniert, benötigt der
Backloading-Plan am Ende eben doch eine Mehrheit im Europäischen
Parlament. Und auch auf europäischer Ebene stehen in wenig mehr als einem Jahr Wahlen an, bei denen wir Bürger die
Zusammensetzung des Parlaments neu bestimmen können.
Im Sinne einer informierten Wahlentscheidung wäre es deshalb
durchaus sinnvoll, uns in diesen Monaten etwas mehr mit dem Verhalten der Europaabgeordneten
zu beschäftigen. Welche Positionen die einzelnen Fraktionen
vertreten und wie geschlossen sie dabei sind, dürfte in diesem Zusammenhang von
einiger Bedeutung sein. Was also ist der Grund dafür, dass sich die
öffentliche Debatte stattdessen doch immer wieder auf die nationalen
Regierungen kapriziert? Oder, etwas konkreter gefragt: Warum in
aller Welt halten deutsche Medien die Fraktionsdisziplin der CDU für ein
außerordentlich wichtiges Thema, wenn der Deutsche Bundestag über die Frauenquote abstimmt – während
ihnen die vielen sozialdemokratischen Abweichler bei der
Backloading-Entscheidung nahezu gleichgültig sind?
Gründe für das
fehlende Medieninteresse
Mir
scheint, dass es dafür im Wesentlichen drei Gründe gibt. Erstens
hatte das Europäische Parlament jahrzehntelang kaum politische
Macht, was dazu führte, dass die Abgeordneten bei Abstimmungen oft
allein ihren eigenen Überzeugungen folgten: Schließlich hatten die
Entscheidungen ohnehin nur einen symbolischen Wert. In den letzten
zehn, zwanzig Jahren hat sich dies jedoch geändert: Je mehr Einfluss
das Parlament durch die EU-Vertragsreformen erhielt, desto geschlossener wurden auch die einzelnen Fraktionen. Eine so
schlechte Fraktionsdisziplin wie bei der Backloading-Abstimmung ist
heute die Ausnahme, nicht die Regel. Viele Redakteure haben dies aber
anscheinend noch nicht verinnerlicht, sodass sie den Abweichlern im
Europäischen Parlament einen geringeren Nachrichtenwert zuschreiben
als denen im Bundestag.
Zweitens
kommt hinzu, dass es im Europäischen Parlament bis heute keine
festen Mehrheiten gibt. Auch wenn die einzelnen Fraktionen meist geschlossen
abstimmen, bilden sich die Allianzen zwischen
ihnen vor jeder Abstimmung neu. Dadurch fehlt die auf
nationaler Ebene übliche dauerhafte Spaltung in Regierungsmehrheit
und Opposition. Auch dies macht die Frage nach der Fraktionsdisziplin
für die Medien weniger interessant: Das Spannende an der jüngsten
Frauenquoten-Abstimmung im Deutschen Bundestag war ja nicht zuletzt,
dass dabei auch der Bruch der Regierungskoalition insgesamt möglich schien. Eine
vergleichbare Dramatik hat das Europäische Parlament nicht zu
bieten.
Und
drittens spielt auch das Wahlverfahren eine Rolle. Wenn Abgeordnete
in wichtigen Entscheidungen gegen die Fraktionslinie stimmen, gehen
sie meist auch ein erhebliches persönliches Risiko ein, da die
Parteien notorische Abweichler bei der nächsten Wahl oft nicht mehr
als Kandidaten aufstellen. Bei der Europawahl gibt es jedoch keine
einheitlichen europäischen, sondern jeweils nationale Wahllisten.
Die gesamteuropäischen Parteien haben deshalb kaum Möglichkeiten,
Abweichler zu sanktionieren, solange diese die Unterstützung ihrer
nationalen Parteien besitzen – wie bei der Backloading-Abstimmung
etwa die deutschen FDP-Abgeordneten. Auch dies erklärt, weshalb die
mediale Aufmerksamkeit sich stärker auf die Bundesregierung als auf
die Fraktionen im Europaparlament richtet.
Wir brauchen ein neues
Europawahlrecht
Und
das ist nun die demokratiepolitische Lektion aus der
Backloading-Entscheidung: Die Fraktionen im Europäischen Parlament
und die gesamteuropäischen Parteien, auf die sie sich stützen, sind
schon heute zentrale Akteure in der europäischen Politik. Von den
Medien aber werden sie bislang nicht als solche wahrgenommen, was der
europäischen öffentlichen Debatte schadet und sich gerade im
Vorfeld der Europawahl als Problem erweist. Der Hauptgrund dafür ist
der mangelnde Einfluss der europäischen Parteien auf wichtige
Personalentscheidungen, speziell auf die Kandidaten bei der
Europawahl und auf die Ernennung der Kommission. Die Lösung wären,
natürlich, transnationale Wahllisten und eine stärker parteipolitische Ausrichtung der Kommission, die dann auch zu
stabileren Parlamentsmehrheiten führen würde. Beides würde den
Nachrichtenwert der europäischen Parteien gegenüber den nationalen
Regierungen steigern und ihnen größere öffentliche Aufmerksamkeit
verschaffen. Und am Ende würden wir alle uns daran gewöhnen, dass
die Verantwortung für Beschlüsse des Europäischen Parlaments in
Straßburg zu suchen ist und nicht in Berlin.
Bilder: © European Union 2013 - European Parliament (Attribution-NonCommercial-NoDerivs Creative Commons license), via Flickr; eigene Grafik (Quelle: VoteWatch.eu).
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