08 Februar 2022

„Wir wünschen uns, dass wir in der EU gemeinsam den Mut zu einer neuen Verfassung finden“: Ein Interview mit Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer

Vincent-Immanuel Herr (r) und Martin Speer (l).

D(e)F: Viele Interviews auf diesem Blog beginnen mit der Frage: „Wenn Sie eines an der EU ändern könnten, was wäre es?“ Bei euch erscheint diese Frage etwas redundant, schließlich habt ihr erst letztes Jahr ein Buch mit 95 Vorschlägen zur Rettung der EU veröffentlicht. Trotzdem: Gibt es darunter einen, der euch besonders am Herzen liegt oder den ihr besonders wichtig findet?

Herr & Speer: Danke für die Frage und dein Interesse an dem Buch. Wie du schon gesagt hast, sind wir der Überzeugung, dass die EU zu einer ganzen Reihe von Themen Reformen umsetzen sollte. Als Grundlage für einen Neustart der EU oder eine vertiefte Integration sehen wir aber ganz klar die Erarbeitung und Ratifizierung einer Europäischen Verfassung. Der Vorschlag findet sich entsprechend auch gleich in der ersten These von Europe For Future.

Einen Verfassungsanlauf hat es bereits 2004/05 gegeben, letztlich ist die Europäische Verfassung dann an nationalen Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert. Wir finden, es ist Zeit, einen neuen Versuch zu wagen. In einer Verfassung sehen wir nicht nur ein rechtliches Rahmengerüst, sondern auch ein Bekenntnis zu europäischen Grundwerten und einer gemeinsamen europäischen Identität. Im Buch schreiben wir: „Nur eine Verfassung beschreibt, wie wir operieren und zusammenleben wollen, und zugleich, wer wir sein wollen.“

Wie wir leben und wer wir sein wollen

Auf unseren Europaforschungsreisen durch über 20 EU-Staaten ist uns in Gesprächen immer wieder das Fehlen oder zumindest die geringe Relevanz gemeinsamer europäische Werte aufgefallen. In Diskursen zur EU geht es viel um Finanzen, Wirtschaft, politischen Einfluss und Sicherheitsfragen, aber zu selten um die tieferen Fragen, die sich mit den Grundwerten hinter diesen eher logistischen und operativen Aspekten beschäftigen. Welche Werte sind uns wichtig? Welche Überzeugungen sind nicht verhandelbar? Welche Rolle spielen Europas Bürger:innen auch über den Nationalstaat hinaus? Wie wollen wir zusammenleben? Wo sehen wir das europäische Projekt langfristig?

Es ist unsere Hoffnung, dass der Weg hin zu einer Europäischen Verfassung die Möglichkeit bietet, ehrlich und in der Breite über diese und andere Fragen zu sprechen und so ein wenig mehr ein gemeinsames Gerüst des Selbstverständnisses und europäischen Identität aufzubauen. Wir sehen an vielen aktuellen Entwicklungen, sei es bei den Angriffen auf Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit, beim Umgang mit Migration oder der LGBTQI-Community oder auch im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, dass das fehlende Gerüst an europäischen Werten und Überzeugungen die Union zunehmend im Inneren schwächt und zersetzt. Eine Verfassung kann hier zu einem wichtigen europäischen Stabilitätsanker werden und Orientierung auch über temporäre nationale Stimmungslagen hinaus liefern.

Verfassungsgebung als partizipativer Prozess

Worin genau würde sich eine europäische Verfassung denn von den heutigen EU-Verträgen unterscheiden? Inhaltlich wurden die 2004/05 geplanten Reformen ja im Vertrag von Lissabon umgesetzt. Unter Jurist:innen ist die Bezeichnung der Verträge als „europäisches Verfassungsrecht“ heute gang und gäbe. Und auch auf die Frage, wer wir sein wollen, bietet das Vertragswerk doch schon einige ganz brauchbare Antworten, zum Beispiel mit den Werten und Zielen in Art. 2 und 3 EUV und natürlich mit der Grundrechtecharta.

Ist der Vorschlag, die Verträge durch eine Verfassung zu ersetzen, also mehr eine Frage der Symbolik – dass wir ein einheitliches, möglichst allgemeinverständlich formuliertes Dokument bekommen, das nicht mehr mit „Seine Majestät der König der Belgier, Ihre Majestät die Königin von Dänemark …“ beginnt, sondern mit „Wir, die europäischen Bürger:innen“? Oder geht es eher um den Prozess – um die Hoffnung, dass ein neuer Verfassungskonvent mit zivilgesellschaftlicher Beteiligung dringend benötigte Reform- und Wertedebatten anstoßen könnte?

Uns geht es um beides, den Prozess und das Resultat. Lernen sollten wir in jedem Fall aus den Fehlern des Verfassungsversuchs der 2000er Jahre. Damals wurde der Prozess als bürgerinnenfern und elitär kritisiert. In diesem Sinne muss der neue Anlauf deutlich mehr in die Breite gehen und Bürger:innen möglichst über den gesamten Prozess hinweg mitnehmen. Die aktuelle Konferenz zur Zukunft Europas geht schon in eine gute Richtung. Doch es wurden nicht ausreichend Anstrengungen unternommen, die Konferenz wirklich bekannt und auch relevant zu machen. Das große Ziel fehlt am Ende.

Eine Europäische Verfassung könnte Ziel für solch einen partizipativen Prozess sein. Ein neuer Verfassungskonvent, der Bürger:innen aus allen Mitgliedstaaten sowie Politiker:innen der EU- und nationalstaatlichen Ebene zusammenbringt. Alle, die nicht Teil des Verfassungskonvents sein können, sollten die Möglichkeit erhalten, über eine Online-Plattform ihre Perspektiven einzubringen. Außerdem sollten in den Regionen Europas, ähnlich wie es im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas auch möglich ist, Zusammenkünfte und Gesprächsrunden stattfinden, die helfen, Stimmen und Perspektiven aus der Breite der Gesellschaft in den Prozess einfließen zu lassen.

Europaweites Ratifikationsreferendum

In der Verfassungsthese in Europe For Future schlagen wir auch die Idee vor, die Verfassung nicht bloß national ratifizieren zu lassen, sondern durch ein EU-weites Referendum. Zu Volksabstimmungen äußern wir uns noch mehr im Detail in These 22, aber wir finden die Idee eines solchen direktdemokratischen Instruments im Kontext einer Verfassung besonders interessant: Hier bestünde die Möglichkeit, zu solch fundamentalen Fragen eine europäische Öffentlichkeit herzustellen (und damit den Fehler von 2005, diese Fragen zu nationalisieren, zu vermeiden). Der Vorschlag eines EU-Referendums zur Verfassungsratifizierung ist übrigens inspiriert von einem ZEIT-Online-Artikel von Steffen Dobbert und Stefan Lorenzmeier.

Wir wünschen uns, dass wir in der EU gemeinsam den Mut finden, das Verfassungsvorhaben mit Energie und Frische neu aufzulegen. Dabei geht es uns keinesfalls nur um die Symbolik einer Verfassung, wir glauben, dass gerade der partizipative Prozess auf dem Weg hin zu diesem Dokument, zu einem gesteigerten europäischen Bewusstsein und zu mehr Ernsthaftigkeit und Ambition im Umgang mit dem europäischen Einigungsprojekt selbst führen kann. Das ist auch nötig. Gerade weil Europa vor so gewaltigen Herausforderungen im Angesicht von Klimawandel, dem Aufstieg Chinas und der digitalen Wende steht, braucht die EU eine Verfassung, die als Kompass in unruhiger See dient und den Kontinent zusammenhält.

Blockaden lösen durch unterschiedliche Geschwindigkeiten

Wäre es nach dem Europäischen Parlament gegangen, dann wäre die Idee, die Konferenz zur Zukunft Europas in eine europäische Verfassung münden zu lassen, wahrscheinlich längst umgesetzt. Gescheitert ist dieser Ansatz an den nationalen Regierungen im Rat, unter denen es viele gibt, die ambitionierte EU-Reformen scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Vermutlich würden auch viele andere der Vorschläge in Europe For Future im Parlament eine Mehrheit finden, aber nicht im Rat. Wie soll man mit dieser Blockadesituation in der Praxis umgehen?

Das ist eine schöne Formulierung für die Trägheit manch nationaler Regierungen, was große Reformprojekte angeht. Grundsätzlich sprichst du damit eine Kernfrage der Zukunft des Europäischen Projektes an: Wo soll die Reise hingehen? Brauchen wir mehr Europa oder haben wir schon mehr als genug? Richtig ist, dass bei diesen großen Fragen – also besonders wenn es um eine weitere Vertiefung der Europäischen Integration geht – auf absehbare Zeit wenig Einigung zwischen den 27 nationalen Regierungen zu erwarten ist. Das wird insofern ein Problem, da für manche Staaten perspektivisch ein Austritt in der Rhetorik, im Denken und womöglich im Handeln näherliegt als ein Verbleib in der EU. Wir wollen keine weiteren EU-Mitglieder verlieren.

Hinzu kommt, dass durch die potenzielle Aufnahme weiterer Staaten das aktuelle Set-up schon wirklich stark an seine Grenzen kommt. Wir müssen Druck aus dem Kessel nehmen. Wir machen daher im Buch bewusst ein Thema auf, das uns bisher zu oft als Tabu erschienen ist und in den letzten Jahren nicht noch einmal ernsthaft und in der Breite diskutiert wurde: ein Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten. In These 11 schlagen wir die Gründung einer weiteren europäischen supranationalen Organisation vor – wir nennen diese provisorisch European Pioneers.

„European Pioneers“

Die Grundidee ist nicht von uns, sondern inspiriert von verschiedenen Vordenker:innen. Klaus Brummer hat in einem bpb-Artikel herausgearbeitet, dass unterschiedliche Geschwindigkeiten möglicherweise leichter zu bewerkstelligen sind, wenn die integrationsfreudigsten EU-Staaten einfach eine weitere Organisation gründen, die sich den Themen widmen kann, die innerhalb der EU in ihrer aktuellen Form nicht zu verwirklichen sind. Besonders betrifft das die Felder Außenpolitik, Sozialpolitik, gemeinsame Steuern und Ähnliches. Beispielsweise bei unseren Thesen für einen gemeinsamen EU-Außen- und Sicherheitsrat (These 25), eine EU-Armee (These 26), einen verpflichtenden Europäischen Zivildienst (These 74) oder auch zu einem gemeinschaftlichen sozialen Netz durch Europäische Basisversicherung im Bereich der Arbeitslosen- oder auch Krankenversicherung (These 36).

Nach unserer Vorstellung sollen die European Pioneers explizit keinen Gegenentwurf zur EU darstellen, sondern eher eine Art Schwesterorganisation, ein Testraum für vertiefte Integration. Dadurch werden EU-Staaten, denen der Status quo schon genug ist, nicht überfordert und können gegebenenfalls später auch den Pioneers beitreten. In diesem Sinne können den Pioneers auch immer nur aktuelle EU-Staaten angehören. Letztlich hoffen wir, dass die Integration so gut läuft, dass sich nach und nach alle Staaten auch den Pioneers anschließen und diese Organisation dann überflüssig wird. Wir finden diese Lösung charmant und zumindest eine Debatte wert.

Fragen der Ausgestaltung

Diese European Pioneers bräuchten dann aber auch ein eigenes Parlament und eine eigene Kommission (bzw. Regierung), oder? Eine so intensive Zusammenarbeit müsste ja demokratisch legitimiert werden, wofür die heutigen Verfahren der EU – mit national fragmentierten Europawahlen und von den nationalen Regierungen nominierten Kommissionsmitgliedern – schnell an ihre Grenzen stoßen würden. Andererseits wäre es dann möglich, dass die Mehrheitsverhältnisse in einem Pioneers-Parlament anders lägen als in der Gesamt-EU. Sind da nicht doch Konflikte vorprogrammiert?

Wie genau die European Pioneers ausgestaltet werden, liegt in der Hand derer, die sie politisch auf den Weg bringen. Uns ist es wichtig, der Debatte um eine EU der zwei oder drei Geschwindigkeiten, die eigentlich ja schon längst Realität ist (u.a. in der Währungspolitik und im Schengen-Raum), wieder neuen Schwung zu verleihen und auf die Ideen und Vorschläge derer zu verweisen, die an den Fragen einer EU der Mehrfachgeschwindigkeit schon länger arbeiten.

Über Institutionen sprechen

Tatsächlich ist es euch mit Europe For Future gelungen, große europäische Reformdebatten anschaulich zu machen – gerade auch zu institutionellen Fragen, die gemeinhin in dem Ruf stehen, „die Bürger:innen“ nicht sehr zu interessieren. Politiker:innen und Journalist:innen vermeiden es oft, sie direkt anzusprechen, sondern gehen lieber den Umweg über „greifbare“ Themen wie Klimaschutz, Migration oder soziale Gerechtigkeit. In eurem Buch kommen diese Punkte auch vor, aber die Verfassungs- und Demokratiefragen stehen ganz vorne. Welche Erfahrungen habt ihr mit dieser Herangehensweise gemacht? Wie reagieren Leser:innen darauf?

Wir freuen uns, dass du das Buch so wahrnimmst. Denn genau so ist es gedacht. Vielfach werden Diskussionen zur Zukunft Europas im Elfenbeinturm geführt und hochqualifizierte EU-Expert:innen tauschen miteinander Ideen aus, ohne dass diese eine breite Öffentlichkeit erreichen oder von ihr verstanden werden. In Europe For Future versuchen wir sowohl große als auch kleine Ideen zur Zukunft der EU so zu erklären und weiterzudenken, dass sie von vielen Leuten verstanden werden können, und laden zugleich mit weiterführenden Links ein, sich tiefer über die angesprochenen Themen zu informieren. Dabei spielen gerade die grundlegenden Fragen wie eine Verfassung für die EU, institutionelle Reformen oder das Wahlrecht eine entscheidende Rolle – deswegen stehen diese am Anfang des Buches.

Die EU kann ihre besten Tage noch vor sich haben

Fragen von Klimaschutz oder Sozialpolitik können dann effektiver und gemeinschaftlicher beantwortet werden, wenn wir auch am Fundament der EU Reformen durchführen. Wir können so sowohl die europäischen Institutionen als auch die Demokratie stärken, widerstands- und leistungsfähiger machen, was uns befähigt, agiler und fokussierter mit den vielen anderen politischen Herausforderungen umzugehen. Viel Energie geht in der EU verloren, weil wir uns mit innereuropäischen Konfliktlinien und institutionellen Schwächen beschäftigen, während der externe Druck (Klima, Digitalisierung, China, Russland) unaufhörlich zunimmt. Diesen Kreislauf müssen wir selbstbewusst durchbrechen. Das Buch ist eine Einladung, mutig darüber nachzudenken und Handlungen davon abzuleiten.

Es ist unser Eindruck, dass auch viele Leser:innen einen ähnlichen Wunsch nach einem großen Wurf zur Zukunft der EU haben oder zumindest nach einer ehrlichen Diskussion dazu. So haben wir es zumindest in Lesungen zum Buch in den letzten Wochen wahrgenommen. Wir hoffen, hier auch in Zukunft weitere Gespräche führen zu dürfen, und können uns nichts Schöneres vorstellen, als dass die Lektüre des Buches möglichst viele Menschen inspiriert mit Offenheit und auch Vorfreude über unsere gemeinsame Zukunft in der EU zu sprechen. Wir sind einfach überzeugt: Die EU kann ihre besten Tage noch vor sich haben. Es liegt an uns.

Herr & Speer: Europe for Future. 95 Thesen, die Europa retten – was jetzt geschehen muss, München (Droemer-Knaur) 2021, 336 Seiten, Paperback: 16,99 Euro, E-Book: 14,99 Euro.

Bilder: Porträt Herr & Speer: Phil Dera [alle Rechte vorbehalten]; Buch: Henrik Andree, meka factory [alle Rechte vorbehalten].

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