- Die Debatte über gesamteuropäische Listen nimmt an Fahrt auf. Aber nicht alle Fraktionen im Europäischen Parlament stellen sich darunter dasselbe vor.
Die Reform des Europawahlrechts nimmt im Europäischen Parlament Gestalt an: Nachdem der zuständige Berichterstatter Domènec Ruiz Devesa (PSOE/SPE) Anfang Juli seinen Entwurf dafür vorgelegt hatte, konnten die übrigen Mitglieder im Ausschuss für konstitutionelle Fragen bis Anfang November Änderungsanträge vorlegen. Nun wird darüber verhandelt, bereits am 9. Dezember soll im Ausschuss abgestimmt werden. Eine Entscheidung im Parlamentsplenum ist dann für März 2022 geplant; anschließend muss sich der Rat mit der Reform befassen.
Das wichtigste und kontroverseste Thema bei diesen Verhandlungen sind, natürlich, die gesamteuropäischen Listen. Während sich ein Teil der Abgeordneten – vor allem bei Sozialdemokrat:innen, Liberalen und Grünen – von ihnen einen wichtigen Durchbruch für stärkere europäische Parteien und eine transnationale Öffentlichkeit verspricht, haben andere – vor allem die Europäische Volkspartei (EVP) und die Rechtsfraktionen – den Vorschlag in der Vergangenheit wiederholt blockiert. Und auch die nationalen Regierungen sind geteilt zwischen Unterstützer:innen wie Frankreich, Italien oder Spanien und Skeptiker:innen, darunter vor allem kleinere Mitgliedstaaten. (Warum ich selbst europäische Listen für den derzeit wichtigsten Hebel für eine demokratischere EU halte, habe ich hier beschrieben.)
Garantien für die kleinen Mitgliedstaaten
Im neuen Anlauf geht es den Befürworter:innen gesamteuropäischer Listen deshalb auch darum, Vorbehalte auszuräumen und Brücken zu bauen. Im Fokus stehen dabei besonders die kleineren Mitgliedstaaten, die befürchten, dass gesamteuropäische Listen de facto vor allem den größeren Ländern zugute kämen: Da die meisten EU-Bürger:innen in großen Mitgliedstaaten leben, wird erwartet, dass die europäischen Parteien die aussichtsreichsten Sitze auf den gesamteuropäischen Listen vor allem an Kandidat:innen aus größeren Ländern vergeben würden.
Um dem entgegenzuwirken, enthält der Devesa-Entwurf eine Quotenregelung, der sicherstellen soll, dass auf den gesamteuropäischen Listen größere, mittlere und kleinere Länder ausgewogen vertreten sind. Dieses Modell hat allerdings nicht alle Abgeordneten überzeugt: Sowohl die Fraktion der Grünen/EFA als auch die liberale RE-Fraktion haben eigene Vorschläge mit anderen Quotenregelungen vorgelegt. Einen weiteren Alternativvorschlag gibt es von dem französisch-italienischen RE-Abgeordneten Sandro Gozi (IV/EDP), der auch Präsident der Union Europäischer Föderalisten ist.
Die EVP schließlich hat ein gänzlich eigenes Modell präsentiert, das zwar die Begrifflichkeiten gesamteuropäischer Listen aufgreift, in der Praxis aber völlig anders funktionieren würde. In diesem Artikel sollen die verschiedenen Vorschläge näher beleuchtet und miteinander verglichen werden.
Der Devesa-Entwurf
Nach dem ursprünglichen Entwurf des Sozialdemokraten Ruiz Devesa soll es einen neuen EU-weiten Wahlkreis geben, über den 46 Sitze vergeben würden – zusätzlich zu den bestehenden nationalen Kontingenten, an denen sich nichts ändern würde. Die Gesamtgröße des Europäischen Parlaments wüchse also von derzeit 705 auf 751 Sitze.
Für diese 46 neuen Sitze würden die europäischen Parteien (oder auch ad hoc gebildete „europäische Wahlkoalitionen“, die nicht als europäische Parteien anerkannt sein müssten) Listen mit jeweils 46 Kandidat:innen aufstellen. Diese Listen sollen geschlossen sein – das heißt, es gäbe auf jeder Liste eine feste Kandidatenreihenfolge, die die Wähler:innen nicht durch Vorzugsstimmen verändern könnten.
Für diese Reihenfolge sollen nun zwei Quotenregelungen gelten: Erstens müssten alle Kandidat:innen bis zu Platz 14 (der aufgerundeten Hälfte der Anzahl der Mitgliedstaaten) aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten stammen (wobei nicht die Staatsbürgerschaft, sondern der Wohnsitz entscheidend wäre). Zweitens würden die Mitgliedstaaten abhängig von ihrer Bevölkerungszahl in fünf Gruppen von dreimal fünf und zweimal sechs Ländern eingeteilt. Auf der Liste müsste dann in jedem Fünferblock (Platz 1-5, Platz 6-10 etc.) jeweils ein:e Kandidat:in aus jeder der fünf Ländergruppen vertreten sein.
Was das effektiv bedeutet
Würde dieser Vorschlag umgesetzt, müssten die europäischen Parteien also Kandidat:innen aus mindestens 14 verschiedenen Ländern auf ihrer Liste platzieren. Da bei 46 gesamteuropäischen Sitzen auch die größten europäischen Parteien maximal mit ca. 12-15 Abgeordneten rechnen könnten, wären diese alle aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten. Abgesehen von Nachrücker:innen würde kein Land zwei „gesamteuropäische“ Abgeordneten derselben Partei stellen. Zudem würde durch die fünf Ländergruppen eine Durchmischung von großen, mittleren und kleinen Ländern unter den gewählten Abgeordneten sichergestellt. Insbesondere hätte jede Partei höchstens drei gewählte gesamteuropäische Abgeordnete aus großen Ländern.
Gleichzeitig bietet der Vorschlag aber keine Garantien für einzelne Länder. Grundsätzlich ist es denkbar, dass aus einem bestimmten Mitgliedstaat kein:e einzige Kandidat:in auf irgendeiner Liste erscheint – oder dass die Kandidat:innen eines Landes jeweils nur auf aussichtslosen Plätzen stehen. Umgekehrt könnte im Gesamtergebnis ein einzelnes Land im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl auch stark überrepräsentiert sein: Theoretisch könnte auf jeder europäischen Liste ein:e estnische, aber kein:e einzige slowenische Kandidat:in gewählt werden. In der Praxis wäre das aber eher unwahrscheinlich.
Tatsächlich hätten wohl vor allem nationale Parteien das Nachsehen, die in ihrem Land schwächer sind als ihre Parteifreund:innen in einem anderen Land ähnlicher Größe. So würde angesichts der begrenzten Zahl von aussichtsreichen Kandidat:innen aus großen Ländern die EVP auf ihrer transnationalen Liste wohl eher Bewerber:innen der deutschen CDU/CSU, der polnischen PO und des spanischen PP aufstellen als der kleineren französischen LR oder italienischen FI. Bei den Sozialdemokrat:innen hingegen kämen wohl eher die deutsche SPD, der italienische PD oder der spanische PSOE als der französische PS oder der polnische SLD zum Zuge.
Der Gozi-Vorschlag
Der Vorschlag von Sandro Gozi ist im Wesentlichen eine Vereinfachung des Devesa-Entwurfs. Er übernimmt die Regelung, dass sich bis zu Platz 14 kein Herkunftsland wiederholen darf. Allerdings würden bei Gozi die Mitgliedstaaten nicht in fünf, sondern nur in drei Gruppen (zu je neun Ländern) aufgeteilt; entsprechend müsste auf der Liste in jedem Dreierblock (Platz 1-3, Platz 4-6 etc.) jeweils ein großes, ein mittleres und ein kleines Land vertreten sein.
Neu hinzu kommt bei Gozi eine Regelung, nach der unter den 46 Kandidat:innen auf jeder Liste mindestens eine Person aus jedem Mitgliedstaat stammen muss.
Was das effektiv bedeutet
Dass aus jedem Land mindestens ein:e Kandidat:in auf jeder Liste stehen muss, dürfte sich auf die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments kaum auswirken: Schließlich wären die letzten 30 bis 40 Plätze auf jeder Liste ohnehin weitgehend aussichtslos, sodass die Kandidat:innen allenfalls als Nachrücker:innen eine Chance hätten, ins Parlament einzuziehen.
Allerdings würde das zusätzliche Kriterium den kleineren Parteien die Aufstellung einer gültigen Liste erschweren. Nur die größten europäischen Parteien wie EVP und SPE sind tatsächlich in allen Mitgliedstaaten präsent. Für die mittelgroßen Parteien wie Grüne und Linke dürfte dieses Hindernis noch recht gut zu nehmen sein, da sie in den Ländern, in denen sie nicht vertreten sind, ja nur Einzelpersonen zur Kandidatur auf der Liste bewegen müssten. Für kleine Parteien wie die Europäische Freie Allianz (EFA) oder die Europäische Demokratische Partei (EDP) und für Newcomer wie Volt oder DiEM25 wäre das hingegen eine große organisatorische Herausforderung.
Ansonsten gibt der Gozi-Entwurf durch den Wechsel von Fünfer- auf Dreiergruppen den europäischen Parteien bei der Listenaufstellung etwas mehr Flexibilität. Die größten Parteien könnten nun Kandidat:innen aus vier bis fünf großen Ländern auf ihrer Liste unterbringen. Da die ersten 14 Plätze mit Kandidat:innen verschiedener Länder besetzt werden müssten, wäre es aber weiterhin faktisch ausgeschlossen, dass zwei gesamteuropäische Abgeordnete derselben Partei aus demselben Land kommen.
Der Vorschlag der Grünen/EFA
Für die Fraktion der Grünen/EFA hat Damian Boeselager, der derzeit einzige Europaabgeordnete der kleinen paneuropäischen Partei Volt, einen Änderungsvorschlag eingebracht, der eine weitere Vereinfachung des Devesa-Modells bedeuten würde. Insbesondere entfällt hier das Kriterium, dass sich bis Listenplatz 14 kein Herkunftsland wiederholen darf, und auch auf die Einteilung der Länder in Gruppen wollen die Grünen/EFA verzichten.
Stattdessen soll es nur eine einzige Quotenregelung geben, nämlich dass auf der Liste jeder Siebenerblock (Platz 1-7, 8-14 etc.) aus Kandidat:innen aus sieben unterschiedlichen Ländern bestehen muss.
Was das effektiv bedeutet
Der Vorschlag der Grünen/EFA lässt den europäischen Parteien die größte Freiheit bei der Listenaufstellung. Da die Gruppeneinteilung nach Ländergrößen entfällt, könnten theoretisch alle „gesamteuropäischen Abgeordneten“ aus großen Mitgliedstaaten stammen. Die Siebenerblöcke verhindern zwar, dass alle Kandidat:innen in denselben drei oder vier Ländern wohnhaft sind. Aber dieses Minimum an nationaler Diversität würden die Parteien wohl auch aus eigenem Antrieb und ohne institutionelle Vorgaben sicherstellen.
Da sich die Herkunftsländer in diesem Modell bereits ab Listenplatz 8 wiederholen können, könnten wenigstens bei den großen europäischen Parteien auch mehrere Abgeordnete aus demselben Land über die gesamteuropäischen Liste ins Parlament einziehen.
Der Vorschlag der Verhofstadt-Gruppe
Etwas stärker vom Devesa-Modell weicht ein weiterer Vorschlag ab, den eine Gruppe von RE-Abgeordneten um Schattenberichterstatter und Ex-Fraktionschef Guy Verhofstadt (Open-VLD/ALDE) eingebracht hat. Wie beim Grüne/EFA-Vorschlag entfallen das Kriterium, dass sich bis Platz 14 kein Land wiederholen darf, sowie die Einteilung in Ländergruppen nach Bevölkerungszahl. Hingegen übernimmt Verhofstadt den Ansatz von Sandro Gozi, dass auf jeder Liste mindestens ein:e Kandidat:in aus jedem Land vertreten sein muss.
Der eigentliche Clou des Verhofstadt-Modells ist jedoch ein anderes Kriterium: nämlich dass über alle Listen hinweg unter den 46 gewählten Abgeordneten jedes Herkunftsland mit mindestens einem und höchstens sechs Abgeordneten vertreten sein muss. Hierzu nutzt Verhofstadt den Umstand, dass die Sitzzuteilung nach dem D’Hondt’schen Höchstzahlverfahren eine Reihung der Sitze ermöglicht. Man kann also sagen, welche europäische Liste den Anspruch auf den „ersten“ gesamteuropäischen Sitz hat, welche auf den „zweiten“ etc.
Wenn nach dieser Reihung nun bereits sechs Sitze an Kandidat:innen aus demselben Land gegangen sind, könnten nach dem Verhofstadt-Modell weitere Kandidat:innen aus diesem Land keinen Sitz mehr erhalten. Stattdessen würden sie innerhalb ihrer jeweiligen Parteiliste einfach übersprungen; der Sitz fiele an die Kandidat:in auf dem nächsten Listenplatz (sofern diese aus einem anderen Land stammt).
Umgekehrt gälte zudem: Sollte am Ende der Verteilung ein Land noch gar keine:n Abgeordnete:n abbekommen haben, würde für den „letzten“ (46.) gesamteuropäischen Sitz automatisch die Listenkandidat:in aus diesem Land zum Zuge kommen – egal auf welchem Listenplatz sie stünde. (Sollten am Ende noch mehrere Länder fehlen, könnte dieses Prinzip auch für mehrere Sitze angewandt werden. Dabei ginge dann der „letzte“ Sitz an das kleinste noch fehlende Land, der „vorletzte“ an das zweitkleinste etc.) Da alle Listen Kandidat:innen aus allen Ländern umfassen müssten, wäre sichergestellt, dass auf jeder Liste wenigstens eine Kandidat:in aus dem fehlenden Land zu finden ist. Im Ergebnis würde dadurch unter allen 46 gewählten Abgeordneten mindestens eine Person aus jedem Mitgliedstaat dabei sein.
Was das effektiv bedeutet
Durch die Anforderung, Listenkandidat:innen aus allen Mitgliedstaaten aufzustellen, ist das Verhofstadt-Modell für Klein- und Newcomerparteien ähnlich problematisch wie der Gozi-Vorschlag. Ansonsten aber lässt er den europäischen Parteien bei der Listenaufstellung viel Freiheit: Theoretisch ist es denkbar, dass auf den vordersten Listenplätzen mehrere Kandidat:innen aus demselben Land vertreten sind.
Gleichzeitig ist hier (anders als bei den anderen drei Vorschlägen) tatsächlich sichergestellt, dass jedes Land mindestens mit einem der 46 neuen Sitze vertreten ist. An welche Partei dieser Sitz geht, wäre bei Ländern, deren Kandidat:innen in allen Parteien nur auf den hinteren Listenplätzen antreten, allerdings weitgehend zufällig, da sich im Voraus nicht sagen lässt, welche Liste den „letzten“ gesamteuropäischen Sitz einnimmt. Dadurch könnten auch Kandidat:innen zum Zuge kommen, deren Parteien in dem jeweiligen Land eigentlich gar keine Rolle spielen – etwa maltesische Rechtsextreme oder lettische Grüne.
Zudem ist auch das Maximalkriterium (höchstens sechs Abgeordnete pro Land) potenziell problematisch für die kleineren europäischen Parteien, die bei der D’Hondt-Zuteilung erst recht spät überhaupt zum Zug kommen. Theoretisch ist es denkbar, dass alle sechs Sitze eines Landes zu diesem Zeitpunkt bereits verteilt sind, sodass die Spitzenkandidat:in der kleineren Partei nicht über die gesamteuropäische Liste ins Parlament einzieht. Diese Gefahr bestünde allerdings nur dann, wenn die größeren Parteien jeweils mehrere Kandidat:innen aus demselben Land auf den vordersten Listenplätzen antreten ließen. In der Praxis dürfte das kaum vorkommen, da die Parteien ja eher einen Anreiz hätten, auf den Listen ihre nationale Vielfalt zu präsentieren.
Der Vorschlag der EVP
Ein komplett anderes System schließlich hat Sven Simon (CDU/EVP) im Namen der Europäischen Volkspartei vorgeschlagen. Die EVP übernimmt darin zwar einige Begrifflichkeiten des Devesa-Entwufs und spricht von einem „EU-weiten Wahlkreis“, für den die europäischen Parteien „Listen“ aufstellen sollen. Tatsächlich definiert sie diese Begriffe jedoch völlig um, sodass ihr Modell wenig mit gesamteuropäischen Listen, wie sie die anderen Parteien diskutieren, zu tun hat.
Dies fängt damit an, dass die EVP kein zusätzliches gesamteuropäisches Sitzkontingent schaffen will. Stattdessen soll das neue Verfahren für 27 Sitze – einen pro Mitgliedstaat – gelten, die allerdings nicht zu den heutigen nationalen Kontingenten hinzukämen. Vielmehr würde jedes der derzeitigen nationalen Sitzkontingente um einen Platz reduziert, der dafür Teil des neuen Systems würde. Insgesamt gäbe es weiterhin nur 705 Europaabgeordnete.
Zudem sollen die 27 „EU-weiten“ Sitze auch nicht über eine gesamteuropäische Wahl vergeben werden. Vielmehr würde die Wahl weiterhin nach Mitgliedstaaten getrennt stattfinden. In jedem Land würde also genau ein:e Kandidat:in gewählt, wobei ein reines relatives Mehrheitsverfahren gälte. Die europäischen Parteien würden dabei nur insofern eine Rolle spielen, als jede von ihnen nur eine Kandidat:in pro Land nominieren dürfte. Nationale Parteien, die zur selben europäischen Partei gehören (etwa die liberalen VVD und D66 in den Niederlanden oder RE und KE in Estland), müssten also eine gemeinsame Kandidat:in präsentieren.
Außerdem soll auf dem Wahlzettel neben dem Namen der nationalen Kandidat:in jeweils auch der Name der europaweiten Spitzenkandidat:in der jeweiligen europäischen Partei erscheinen. Die Wähler:in würde also gleichzeitig eine nationale Kandidat:in und eine europäische Spitzenkandidat:in derselben Partei wählen. Nach der Wahl sollen dann die Stimmen für die Spitzenkandidat:innen europaweit zusammengezählt werden – nur in dieser Hinsicht würde es sich also um einen „EU-weiten Wahlkreis“ handeln.
Das Ergebnis dieser Spitzenkandidatenwahl hätte allerdings keinerlei konkrete Auswirkungen: Die Spitzenkandidat:in mit den meisten Stimmen würde nicht automatisch Kommissionspräsident:in und gewönne noch nicht einmal einen Sitz im Europäischen Parlament. Sie soll lediglich als Erste die Chance erhalten, eine Mehrheit im Europäischen Parlament zu suchen, um zur Kommissionspräsident:in gewählt zu werden. Gelingt ihr das nicht, weil die anderen Parteien sich verweigern, bliebe für das Spitzenkandidatenverfahren alles wie gehabt.
Was das effektiv bedeutet
Der EVP-Vorschlag ist jedenfalls originell – aber es fällt nicht ganz leicht zu sagen, ob er wirklich ernst gemeint ist oder ob er eher dazu dienen soll, in der Debatte über gesamteuropäische Listen Verwirrung zu stiften. Denn tatsächlich geht es darin eben gerade nicht um einen „EU-weiten Wahlkreis“ oder „europäische Listen“, sondern um eine Ein-Personen-Mehrheitswahl in nationalen Wahlkreisen.
Damit würden zahlreiche der Vorteile entfallen, die sich Befürworter:innen von EU-weiten Listen für die europäische Demokratie erhoffen. Europawahlen wären weiterhin in erster Linie eine nationale Angelegenheit; die europäischen Parteien hätten weiterhin keine nennenswerte Rolle bei der Kandidatenauswahl. Immerhin würden nach dem EVP-Entwurf die Spitzenkandidat:innen künftig auf dem Wahlzettel erscheinen. Das soll anscheinend dem häufig gegen das Spitzenkandidatenverfahren erhobenen Vorwurf entgegenwirken, dass man die Spitzenkandidat:innen ja gar nicht europaweit wählen könne. Allerdings hätte die Spitzenkandidatenwahl auch nach dem EVP-Entwurf nur symbolische, keine praktische Relevanz: Die Spitzenkandidat:innen stünden zwar auf dem Wahlzettel, erhielten durch die Wahl aber kein Amt.
In gewisser Weise würde den Wähler:innen damit eine Direktwahl der Kommissionspräsident:in vorgegaukelt, während in Wirklichkeit nur die Wahl eine:r nationalen Abgeordneten stattfände. Ob diese demokratische Mogelpackung der Glaubwürdigkeit des Spitzenkandidatenverfahrens – und der Europawahl im Allgemeinen – zuträglich wäre, erscheint mehr als zweifelhaft. Umso bemerkenswerter ist daran, dass die EVP selbst in einem anderen Änderungsantrag zum Devesa-Entwurf irreführende Wahlzettel explizit kritisiert. So will sie in die geplante Resolution einen neuen Punkt 19a einfügen, mit dem das Europäische Parlament ausdrücklich hervorheben würde „that ballot papers containing the list of candidates for the elections to the European Parliament must not under any circumstances be misleading or deceptive as to the candidate actually voted for“.
Schlüsselfrage für die Verhandlungen: Wie ernst ist es der EVP?
Welches Interesse verfolgt die EVP also mit ihrem eigenwilligen Vorschlag? Ein rein wahlstrategisches ist es eher nicht: Nach den aktuellen Umfragewerten würde die EVP bei einer Ein-Personen-Mehrheitswahl wohl in rund einem Viertel bis einem Drittel der Mitgliedstaaten den Sitz gewinnen. Das ist nur geringfügig mehr, als sie bei einer europaweiten Verhältniswahl mit echten gesamteuropäischen Listen erreichen würde.
Plausibler erscheint es, dass die Partei erkannt hat, dass die Debatte über gesamteuropäische Listen Fahrt aufgenommen hat und es nicht mehr genügt, sich auf eine einfache Blockadehaltung zurückzuziehen. Der vorliegende Vorschlag wäre dann als ein Beitrag zu verstehen, mit dem die EVP sich öffentlich konstruktiv zeigt – und dennoch einen tiefen Graben zu den anderen Parteien zieht. Denn während sich zwischen den Vorschlägen von Ruiz Devesa, Gozi, der Verhofstadt-Gruppe und der Grüne/EFA-Fraktion leicht Kompromisse finden lassen, bietet das EVP-Modell dafür kaum Anknüpfungspunkte. Wie ernst es der Partei mit ihrer Öffnung für „europäische Listen“ tatsächlich ist, werden wohl erst die Verhandlungen zeigen, die jetzt im Ausschuss für konstitutionelle Fragen anstehen.
Bei Europawahlen gibt es bislang keine transnationale Wahlgleichheit. Ein Verhältnisausgleich über gesamteuropäische Listen könnte das ändern. Wie das aussähe, habe ich in einem neuen Policy Paper beschrieben, das hier heruntergeladen werden kann.
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