20 Oktober 2014

Der Weltstaat und die Vereinten Nationen: Nicht, ob wir ein globales Regime wollen, sondern wie es aussehen soll

Wenn der Weltstaat eine Flagge hätte, sollte sie himmelblau sein.
Der Weltstaat hat keine gute Konjunktur. Betrachtet man die Verwendung des Begriffs über die Zeit, so zeigt sich ein recht deutliches Muster: Intensive Diskussionen über ein globales Regime gab es vor allem dann, wenn gerade ein Weltkrieg die Erde verwüstete (oder, wie Anfang der 1960er Jahre, die Konfrontation der Supermächte eine solche Verwüstung wenigstens wahrscheinlich erscheinen ließ) und die Überwindung der souveränen Nationalstaaten als Lösung für einen dauerhaften Frieden gesehen wurde. Auch in den Jahren nach 1990, als nach dem Ende des Ost-West-Konflikts plötzlich alles möglich schien, war die Idee eines Weltstaats noch einmal populär. Seit der Jahrtausendwende aber ist es ruhiger geworden um sie.

Und nicht nur, dass der Weltstaat als unrealistisch angesehen wird – auch über die Frage, ob er überhaupt wünschenswert sei, besteht alles andere als Konsens. Eine globale Zentralgewalt, deren Gesetze auf dem gesamten Erdball gelten würden, erscheint vielen jedenfalls eher als Alptraumszenario denn als friedenspolitische Verheißung.

Globale Verflechtungen schaffen Regelungsbedarf

Womöglich aber ist die Frage nach dem Weltstaat ohnehin falsch gestellt. Denn tatsächlich sind die gesellschaftlichen Verflechtungen auf globaler Ebene heutzutage so groß, dass kaum jemand ernsthaft die Notwendigkeit eines Mindestmaßes gemeinsamer globaler Regeln in Zweifel ziehen würde: Der rapide Anstieg des Welthandels und seine Auswirkungen auf die nationalen Lohn- und Sozialordnungen, die Stabilität des internationalen Finanzsystems, die neuen Migrations- und Flüchtlingsströme, Steuerflucht und Steuerhinterziehung, der internationale Terrorismus und die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, der Klimawandel und die beschleunigte globale Verbreitung von Epidemien sind nur einige der Themen, mit denen jeder Einzelstaat notwendigerweise überfordert ist. Nicht zufällig hat sich deshalb (gleichzeitig zum Niedergang des Begriffs Weltstaat) seit den 1990er Jahren das Schlagwort der Global Governance verbreitet: also die Vorstellung, dass es im Zusammenspiel verschiedener politischer Akteure zu einem „weltweiten Regieren“ kommen muss, auch ohne dass dafür eine formale „Weltregierung“ nötig wäre.

Der wichtigste Ort für dieses „weltweite Regieren“ sind die Vereinten Nationen, die im kommenden Jahr ihren 70. Gründungstag feiern werden. Als weltumspannende Organisation versuchen sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, politische Antworten auf globale Fragen zu geben – ganz wie es sich die frühen Verfechter eines Weltstaats gewünscht hätten. Die Frage ist heutzutage also längst nicht mehr, ob wir ein globales Regime wollen, sondern wie wir dieses globale Regime ausgestalten. Erfüllt es die Kriterien von Effizienz, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die wir an politische Systeme auch auf nationaler oder europäischer Ebene anlegen würden?

Die Hilflosigkeit der Vereinten Nationen

Betrachtet man die Vereinten Nationen unter diesem Aspekt, dann werden schnell ganz andere Probleme deutlich, als man nach der Lektüre klassischer dystopischer Weltstaatsromane vermuten könnte. Der Hauptvorwurf, dem sich die globale Instanz staatlicher Ordnung ausgesetzt sieht, ist nämlich keineswegs ihre übermäßige Macht – sondern, ganz im Gegenteil, ihre frappierende Hilflosigkeit im Auge drängender Probleme. Wenn die Vereinten Nationen kritisiert werden, dann meistens nicht für das, was sie tun, sondern für das, woran sie scheitern: Wenn es wieder einmal zu Krieg und Gewalt kommt, ohne dass der UN-Sicherheitsrat es verhindern konnte. Wenn wieder einmal eine UN-Klimakonferenz endet, ohne dass eine Einigung erreicht wurde. Wenn sich wieder einmal eine Krankheit über den Planeten ausbreitet, ohne dass die Vereinten Nationen Geld zu ihrer Bekämpfung auftreiben können.

Der Grund für diese frappierende Ineffizienz des globalen politischen Systems ist natürlich die fehlende Durchgriffsmacht der UN-Organe. Die regulären Finanzmittel der Vereinten Nationen (einschließlich der sogenannten Pflicht-Beitragsumlagen) betragen nicht einmal 15 Milliarden Dollar im Jahr; alle weiteren Kosten müssen aus freiwilligen Beiträgen der Mitgliedstaaten bestritten werden. Und anders als etwa die EU hat die UN-Generalversammlung auch keine supranationalen Gesetzgebungskompetenzen: Sie kann zwar Resolutionen verabschieden und internationale Verträge entwerfen, aber völkerrechtlich verpflichtend werden diese nur, wenn sie von den Mitgliedstaaten selbst ratifiziert werden.

Eine schwache UNO macht die Mitgliedstaaten nicht freier

Unmittelbare Bindungswirkung haben lediglich die Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats, der sein Mandat zur „Wahrung des Weltfriedens“ in den vergangenen Jahren immer wieder recht weit interpretierte. Doch erstens ist auch dieser für die Umsetzung seiner Resolutionen in aller Regel auf die Kooperation der Nationalstaaten angewiesen. Und zweitens gibt es natürlich die fünf Vetomächte USA, Frankreich, Großbritannien, Russland und China, die immer wieder aus nationalen Eigeninteressen wichtige Entscheidungen blockieren und damit dazu beitrugen, dass die Vereinten Nationen in den größten internationalen Konflikten der letzten Jahre, von Syrien bis zur Ukraine, nur eine Nebenrolle spielten.

Anders als ein begeisterter Anhänger der nationalen Souveränität glauben könnte, ist die Folge dieser Schwäche der UNO aber natürlich nicht etwa eine größere Handlungsfreiheit der einzelnen Mitgliedstaaten. Denn die globalen Probleme verschwinden ja nicht einfach, nur weil es keine globale Instanz gibt, die sich darum kümmern kann. Gewiss, es würde keinem Staat gefallen, wenn er bei den weltweiten Klimaschutzverhandlungen überstimmt werden könnte oder die Vereinten Nationen ihm verbindliche Vorschriften zur Bankenregulierung machen würden. Aber ohne eine handlungsfähige UNO fehlt eben auch ein Akteur, der auf das globale Gesamtinteresse verpflichtet ist – und im Konflikt zwischen den nationalen Eigeninteressen bleiben die Probleme dann entweder ungelöst oder lösen sich auf Kosten der Schwächsten. Das Rodrik-Trilemma, dem zufolge eine nur nationale Demokratie unter den Bedingungen staatenübergreifender gesellschaftlicher Verflechtungen nicht funktionieren kann, gilt für die globale Ebene nicht weniger als für die EU.

Die Macht des Sicherheitsrats und der Grundrechtsschutz

Die Hilflosigkeit der Vereinten Nationen gegenüber der Souveränität ihrer Mitgliedstaaten ist aber nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite steht ihre schon heute oft erschreckende Macht gegenüber den einzelnen Menschen, die sich unter ihrer Kontrolle befinden. So kam es in den letzten Jahren immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen durch UN-Personal und Angehörige von UN-Friedenstruppen. Immerhin aber besteht Einigkeit darüber, dass es sich dabei um ein Übel handelt, das bekämpft werden muss. 2007 richteten die Vereinten Nationen dafür eine Conduct and Discipline Unit ein, die in entsprechenden Fällen ermittelt und gegebenenfalls Disziplinarmaßnahmen ergreift. (Die Strafverfolgung hingegen bleibt mangels Kompetenz der UNO den jeweiligen Nationalstaaten überlassen.)

Von einem rechtspolitischen Standpunkt noch gravierender dürfte deshalb eine andere Entwicklung sein: nämlich die Resolutionen, die der UN-Sicherheitsrat seit 2001 zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus verabschiedet hat. Unter anderem enthalten diese eine Liste von Personen, die der Sicherheitsrat für Al-Qaida-Mitglieder hält, und die völkerrechtlich bindende Verpflichtung für die Mitgliedstaaten, sämtliche Finanzmittel von allen Personen auf dieser Liste einzufrieren. Eine Möglichkeit, gegen diese Einstufung als Terroristen gerichtlich vorzugehen, haben die Betroffenen wenigstens auf UN-Ebene nicht – was natürlich gegen grundlegende Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verstößt.

In den berühmten Kadi-Urteilen, über die ich in diesem Blog bereits ausführlicher berichtet habe, beschloss der Gerichtshof der Europäischen Union deshalb, Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats unter eine Art generellen Grundrechtsvorbehalt zu stellen. Das aber löst das Problem natürlich allenfalls für die Bürger der EU. Die Vereinten Nationen (speziell der Sicherheitsrat) selbst zeigen hingegen bis heute nur wenig Sensibilität, wenn es um das Austarieren zwischen Terrorbekämpfung und Grundrechtsschutz geht.

Weltverfassungsgericht und Weltparlament

Je mehr supranationale Macht man an die Vereinten Nationen übertragen möchte, desto wichtiger wird es auch, sie demokratisch und rechtsstaatlich auszugestalten. Das bedeutet zum einen, dass es auch auf UN-Ebene eine wirksame Gewaltenteilung mit Grundrechtsschutz geben muss: Der Sicherheitsrat kann nicht Legislative, Exekutive und Judikative in einem sein. Stattdessen bräuchten wir eine Art Weltverfassungsgericht, das dem Einzelnen einen Rechtsweg gegen UN-Beschlüsse eröffnet und darauf achtet, dass die Organe der Vereinten Nationen ihr Mandat nicht überschreiten.

Zum anderen müssten die Bürger auch selbst mehr Möglichkeiten bekommen, ohne Vermittlung durch die nationalen Regierungen an der Ausgestaltung der UN-Rechtsordnung teilzuhaben. Ein Mittel dafür könnten die globalen Parteien (oder „Internationalen“) sein, die ein System der politischen Repräsentation auf Grundlage weltanschaulicher Überzeugungen anstelle nationaler Staatsangehörigkeiten ermöglichen würden. Damit die globalen Parteien ihr heutiges Schattendasein überwinden können, benötigen sie allerdings zunächst einmal ein Forum, auf dem sie politisch wirksam sein könnten – ein UN-Parlament oder wenigstens eine globale Parlamentarische Versammlung.

Hat hier jemand Weltstaat gesagt? Wir brauchen den Weltstaat nicht als Wert an sich oder als abstrakten, utopischen großen Wurf. Was wir brauchen, ist eine stärkere, handlungs- und durchsetzungsfähigere UNO, die es uns ermöglicht, globale Probleme zu lösen, und die gleichzeitig bestimmte rechtsstaatliche und demokratische Minimalstandards erfüllt. Aber wenn das, was dabei herauskommt, dann Ähnlichkeit mit dem hat, was wir als einen „föderalen Weltstaat“ bezeichnen würden, so sollten wir uns jedenfalls auch nicht deshalb von unserem Vorhaben abbringen lassen.

Am 24. Oktober ist der Tag der Vereinten Nationen. Vom 17. bis 26. Oktober 2014 findet deshalb die zweite „Globale Aktionswoche für ein Weltparlament“ statt, mit rund vierzig Veranstaltungen auf fünf Kontinenten. Mehr Informationen dazu sind hier zu finden (oder auf Twitter unter dem Hashtag #worldparlnow).

Bilder: by Angelina Earley (daedrius) [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; by organisers of the Global Week of Action for a World Parliament, via worldparliamentnow.org.

2 Kommentare:

  1. Ich weiß nicht, ob ich eine andere Auffassung zur UN habe, aber zumindest ist meine Herangehensweise eine andere. Für mich ist die UN keine Organisation, die auf eine globale „Regierungstätigkeit“ abzielt, sondern eine Organisation, welche die Staaten der Welt an einen Tisch bringt. Wichtigster Grundsatz ist daher die Achtung der Souveränität der Nationalstaaten und das wichtigste Ziel, eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Großmächten zu verhindern.

    Vor diesem Hintergrund verbietet sich aber die Übertragung zu weitgehender (Durchgriffs-)Rechte auf die UN, da diese dann nicht mehr diese neutrale Rolle einnehmen könnte, sondern politischer Akteur wäre, wie eben die EU einer ist. Durchgriffsrechte bei „Notfällen“ sind vertretbar und auf freiwilliger Basis können die Staaten ja sowieso ohne weiteres Zusammenarbeiten, wenn sie das denn wollen (z.B. Klima), aber einer Weiterentwicklung im Sinne eines „Weltstaates“ ist aus meiner Sicht abzulehnen. Gerne können sich verschiedene Staaten zu einem globalen Verbund zusammenschließen, der dann „staatenähnlicher“ ist, aber mir wäre es doch sehr recht, wenn die UN als Überbau weiterhin auch für all jene Staaten dienen kann, die bei sowas nicht mitmachen wollen.

    P.S.:
    Insgesamt müsste der Beitrag meines Erachtens auch auf die Frage der unterschiedlichen Staatsmodelle in der Welt eingehen und was dies für eine Bedeutung für das hat, was man als „Schwäche der UN“ wahrnimmt. Auch die Auswirkungen der unterschiedlichen Bevölkerungsentwicklungen in der Welt auf eine Ausgestaltung eines „Weltstaats“ im Sinne eines europäischen Staatenmodells, mit freiheitlich-demokratischer Grundordnung, Rechts- und Sozialstaatlichkeit sollte meines Erachtens nicht ganz außen vor bleiben.

    Debatten Beitrag bei Publixphere zum Thema UN
    https://publixphere.net/i/publixphere-de/proposal/990-Die_Schwäche_der_Vereinten_Nationen

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  2. Deine und meine Souveränität ist wie unser beider Frieden daraus, dass uns ein staatliches Gewaltmonopol hindert, etwaige Streitigkeiten mit Gewalt lösen zu dürfen.
    Darum braucht es eine überlegen militarisierte Verwirklichung des völkerrechtlichen Gewaltmonopols der Vereinten Nationen und eine Abrüstung aller Nationen auf polizeiliche Erfordernisse, um die Nationen mit ihren internationalen Streitigkeiten auf zivile Wege zu zwingen, also Streitigkeiten demokratisch, diplomatisch oder gerichtlich zu entscheiden - anstelle von Selbstjustiz.

    Insbesondere schwächere Staaten / schwache Leute müssten eigentlich kapieren, dass ein auf Selbstverteidigung beruhendes Sicherheitskonzept die Stärkeren privilegiert, das Wettrüsten forciert und zur Selbstjustiz verführt.

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