Bis
die nächste Europawahl stattfindet, dauert es noch fast zweieinhalb
Jahre – eine sehr lange Zeit in der Politik, umso mehr, wenn eine
Krise die nächste jagt. Eine Gewissheit aber gibt es schon
jetzt: Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) wird 2019
nicht mehr dabei sein. In einem Interview
im Deutschlandfunk erklärte er am Sonntag, er werde nicht
noch einmal zu einem europäischen Wahlkampf antreten. Die
Europäische Volkspartei, für die Juncker 2014 gewählt wurde, wird
sich also nicht damit begnügen können, ihn für eine zweite
Amtszeit vorzuschlagen, sondern muss für die nächste Europawahl
nach einem neuen Kandidaten suchen.
Aus
diesem Anlass soll hier heute ein wenig Spekulation erlaubt sein: Mit
welchen Spitzenkandidaten könnten die europäischen Parteien 2019
zur Europawahl antreten? (Denn dass es wieder Spitzenkandidaten geben
wird, davon können wir – bei
allem Grummeln der nationalen Regierungen – wohl ausgehen.)
EVP: Manfred
Weber
Die
besten Aussichten, auch nach 2019 den Kommissionspräsidenten zu
stellen, hat derzeit die Europäische Volkspartei. Auch wenn ihr
Vorsprung vor den Sozialdemokraten in den letzten Jahren geschrumpft
ist, würden die Christdemokraten nach den jüngsten Umfragen
noch immer die stärkste Fraktion im Europäischen Parlament stellen
– und erst
recht, wenn Großbritannien bei der nächsten Wahl nicht mehr
dabei sein sollte.
Wer
aber könnte für sie ins Rennen um die Kommissionspräsidentschaft
gehen? Ein plausibler Kandidat wäre ohne Zweifel Manfred Weber
(CSU/EVP). Als
amtierender Fraktionsvorsitzender
der EVP im Europäischen Parlament verfügt
er nicht nur über ein europaweites Netzwerk. Bei der umkämpften
Wahl des Parlamentspräsidenten vor einigen Wochen zeigte Weber auch
sein politisches Geschick, als er durch ein Bündnis
mit der liberalen ALDE-Fraktion dem EVP-Kandidaten Antonio Tajani
den Sieg sicherte.
Darüber
hinaus steht Weber der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel
(CDU/EVP) nahe, die 2014 zu
den wichtigsten Skeptikern gegenüber dem Spitzenkandidaten-Verfahren
zähle. Sollte Merkel 2019 noch im Amt sein und
sich dann hinter Weber
stellen, könnte ihm das
sowohl EVP-intern
als auch später im Europäischen Rat einige
Wege ebnen. Und schließlich scheint Weber auch an seinem
öffentlichen Bild zu arbeiten: Im vergangenen Herbst machte
er sich die populäre Idee zu eigen, jungen Menschen europaweit
kostenlose Interrail-Tickets zu schenken.
EVP: Jyrki
Katainen, Dalia
Grybauskaitė, Michel
Barnier
Manches
spricht also dafür, dass Weber gute Chancen hätte, wenn er sich
2019 um den Posten
des Spitzenkandidaten
bemüht. Aber natürlich dürften daran auch noch andere
interessiert sein: Der damalige finnische Ministerpräsident Jyrki Katainen (Kok./EVP)
beispielsweise wäre schon 2014 gerne Kommissionschef geworden. Allerdings spekulierte er
damals darauf, dass
das Spitzenkandidaten-Verfahren am
Europäischen Rat scheitern
würde, und hielt sich als Kompromisslösung bereit. Als sich
Juncker dann doch durchsetzte, blieb Katainen nur das Amt des
Kommissions-Vizepräsidenten für Wirtschaft.
Aus diesem Fehler könnte er gelernt
haben – und 2019 gleich
die Spitzenkandidatur
anstreben.
Um
die Skepsis einiger nationaler EVP-Regierungschefs gegenüber dem
Spitzenkandidaten-Verfahren zu überwinden, könnte die Partei sich
aber auch entscheiden, einen amtierenden nationalen Staats- oder
Regierungschef als Spitzenkandidaten ins Rennen zu schicken. Allerdings könnten viele von diesen
auch lieber an ihrem nationalen Amt festhalten als sich in einen
unsicheren Wahlkampf auf europäischer Ebene zu begeben. Eine
Ausnahme bildet die parteilose, der EVP nahestehende
litauische Staatspräsidentin Dalia Grybauskaitė: Deren
nationale Amtszeit endet genau gleichzeitig mit der Europawahl 2019.
Die EVP-Spitzenkandidatur könnte für sie
die Krönung der
politischen Karriere sein.
In
Frage käme schließlich auch Michel Barnier (LR/EVP),
der sich bereits 2014 um die
EVP-Spitzenkandidatur bewarb, bei einer Kampfabstimmung auf dem
Nominierungsparteitag jedoch gegen
Juncker verlor. Heute ist Barnier Chefunterhändler
der EU-Kommission für die Brexit-Verhandlungen – ein profiliertes
Amt, das ihm bei einem erfolgreichen Verlauf der Gespräche neue
Sichtbarkeit verschaffen könnte.
SPE: Frans
Timmermans
Außer
der EVP hat nur eine Partei realistische Chancen, bei der Europawahl
2019 die stärkste Kraft zu werden und den Kommissionspräsidenten zu
stellen: die Sozialdemokratische Partei Europas. 2014 hatte diese für
die Ernennung ihres Spitzenkandidaten ein
komplexes Vorwahl-System entwickelt, das dann aber nicht zum
Tragen kam, weil es außer Martin Schulz (SPD/SPE) keinen
weiteren Bewerber gab. 2019 könnte das anders sein. Denn in der
SPE gibt es inzwischen einen unterschwelligen Richtungs- und
Strategiekonflikt, der sich auch auf die Kandidatensuche auswirken
könnte.
Ein
naheliegender Bewerber wäre hier Frans Timmermans (PvdA/SPE).
Der amtierende Erste Vizepräsident der Kommission machte
schon 2014 starken Eindruck, als er bei seiner Anhörung im
Europäischen Parlament fließend in fünf verschiedenen Sprachen
antwortete. Als Junckers rechte Hand
brächte er mehr einschlägige Erfahrung als irgendein anderer
Kandidat für das Amt mit. Mit seiner Agenda für eine „bessere Rechtsetzung“ kann Timmermans auch bei gemäßigten Europaskeptikern punkten, die die Bürokratie für
das Hauptproblem der EU halten. Und er steht für eine reibungslose
Zusammenarbeit mit der EVP im Rahmen der informellen Großen
Koalition, durch die der größte Teil der EU-Rechtsakte zustande
kommt.
SPE: Gianni
Pittella
Doch
genau das könnte für Timmermans auch zum Problem werden, denn die
Große Koalition genießt bei den europäischen Sozialdemokraten
inzwischen nicht mehr allzu große Beliebtheit. Vielmehr ist die SPE
seit Beginn der Eurokrise nach links gerückt und versucht durch
Kritik an der Sparpolitik der EVP ihren Ruf als Partei der sozialen
Gerechtigkeit zurückzugewinnen. Der wichtigste Wortführer dieser
Polarisierungsstrategie ist der derzeitige Fraktionschef
Gianni Pittella (PD/SPE),
der im Dezember durch
die öffentliche Aufkündigung der Großen Koalition auf sich aufmerksam machte.
Falls es Pittella gelingt,
diese Strategie bis zur
Europawahl durchzuhalten,
könnte er sich damit als möglicher Spitzenkandidat profilieren.
Aber
natürlich sind auch für die SPE zweieinhalb Jahre eine lange Zeit,
und es wird sich zeigen, wie sich der latente Richtungsstreit bis
dahin weiterentwickelt.
Zudem finden bis dahin auch noch einige nationale Wahlen statt, die
das europäische Personaltableau beeinflussen könnten. Vor
allem in Frankreich und Italien steht für die Sozialdemokraten viel
auf dem Spiel, und es ist
nicht auszuschließen, dass auch
der ein oder andere
amtierende oder ehemalige nationale Regierungschef sich
bis 2019 noch der Europapolitik zuwendet.
ALDE: Guy
Verhofstadt
Für
die liberale ALDE ist die Ernennung eines Spitzenkandidaten eher eine
symbolische Frage: Trotz der Zuwächse in ihren Umfragewerten in den
letzten Jahren ist es kaum wahrscheinlich, dass ihr Kandidat
tatsächlich eine Chance auf das Amt des Kommissionspräsidenten hat.
Dennoch gab es vor der Europawahl 2014 ein veritables
parteiinternes Tauziehen um den Posten. Dahinter steckte auch
hier letztlich ein parteiinterner Richtungskonflikt: Während ein
Teil der Liberalen sich als Speerspitze für eine Demokratisierung
und Föderalisierung der EU versteht, betont ein anderer Teil die
Idee der „nationalen Eigenverantwortung“ und stemmt sich gegen
allzu viel transnationale Solidarität.
2014
wurden diese beiden parteiinternen Lager durch den Fraktionschef Guy
Verhofstadt (Open-VLD/ALDE) und den damaligen Währungskommissar
Olli Rehn (Kesk./ALDE) repräsentiert, wobei sich Verhofstadt
letztlich durchsetzte. Dank leidenschaftlicher Wortwechsel etwa mit
dem
britischen Europaskeptiker Nigel Farage (UKIP/ADDE) oder dem
griechischen Regierungschef Alexis Tsipras (Syriza/EL) wurde der
liberale Fraktionsvorsitzende inzwischen zu einem der bekanntesten Politiker
im Europäischen Parlament. Es ist deshalb durchaus wahrscheinlich,
dass er auch 2019 noch einmal die Spitzenkandidatur anstreben wird.
ALDE: Sylvie
Goulard, Margrethe Vestager, Andrus Ansip
Mit
seiner exponierten Rolle hat sich Verhofstadt (der neben seinem Amt
als Fraktionschef auch Berichterstatter
für die Vorschläge des Parlaments zur EU-Vertragsreform sowie
Beauftragter für die Brexit-Verhandlungen ist) allerdings nicht nur
Freunde gemacht. Insbesondere sein Versuch, das nationalpopulistische
Movimento Cinque Stelle (M5S/–) zum Übertritt in die ALDE-Fraktion
zu bewegen, wurde zu einem
persönlichen Debakel.
Es
könnte deshalb sein, dass Verhofstadt sogar innerhalb des
föderalistischen Lagers Konkurrenz erwächst – etwa durch die Europaabgeordnete Sylvie Goulard. Deren nationale Partei,
das französische MoDem, gehört zwar nicht der ALDE, sondern der
Europäischen Demokratischen Partei an; doch ALDE und EDP bilden im
Europäischen Parlament eine Fraktionsgemeinschaft, und die
Unterstützung der EDP für Verhofstadt war 2014 mitentscheidend für
dessen Sieg gegen Rehn. Ein wichtiger Faktor für Goulard könnte
zudem ihre Nähe zu Emmanuel Macron werden, dem derzeitigen
Überraschungsfavoriten
für die französische Präsidentschaftswahl im Juni.
Aber
auch im nicht-föderalistischen Teil der ALDE dürfte wieder der ein
oder andere Bewerber auf die Spitzenkandidaten-Position blicken. Ein
Interesse wird etwa der linksliberalen Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager
(RV/ALDE) nachgesagt, die in den letzten Jahren unter anderem durch ihr hartes Vorgehen
gegen Großkonzerne wie Google, Gazprom oder Daimler einige Popularität
gewonnen hat. Auch Andrus Ansip (RE/ALDE),
früherer estnischer Premierminister und heute Vizepräsident der Kommission mit Zuständigkeit für den digitalen Binnenmarkt, ist in einer guten
Ausgangsposition, falls er eine Kandidatur anstrebt.
EGP: Ska
Keller, Philippe Lamberts, Ulrike Lunacek
Die
Europäische Grüne Partei hatte 2014 von allen Parteien das
aufwendigste Verfahren zur Wahl ihrer Spitzenkandidaten. In einer
europaweiten
Online-Vorwahl setzten sich Ska Keller (Grüne/EGP) und José
Bové (EELV/EGP) gegen zwei weitere Bewerberinnen durch. Gleichzeitig
waren die Grünen aber auch die Partei, die später am
rücksichtslosesten mit ihren Spitzenkandidaten umging: Nach der Wahl
erhielten zunächst weder Keller noch Bové ein bedeutendes Amt in
der Fraktion. Erst vor wenigen Wochen – zur Halbzeit der
Wahlperiode – wurde Keller doch
noch Fraktionsvorsitzende und teilt sich dieses Amt nun mit
Philippe Lamberts (Ecolo/EGP).
Ska
Keller und Philippe
Lamberts sind deshalb
auch naheliegende Anwärter
für die nächste grüne
Spitzenkandidatur, mit der sie ihre Position an der Spitze der Fraktion weiter festigen könnten. Aber noch eine weitere Bewerberin steht bereits fest: Ulrike Lunacek (Grüne/EGP),
derzeit Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, ist bislang
die Einzige, die explizit
erklärt hat, dass sie 2019 Spitzenkandidatin werden
will, offiziell mit dem Ziel, nach der Europawahl Parlamentspräsidentin zu werden. Mit ihrer frühen Kandidatur-Erklärung erhöht Lunacek auch den Druck auf ihre eigene nationale Partei, die österreichischen Grünen: Die hatten sich 2014 noch der Teilnahme an der Online-Vorwahl verweigert.
EL: Jean-Luc
Mélenchon, Pablo Iglesias, Gregor Gysi
Und
die Europäische Linke? Die ging 2014 mit Alexis Tsipras (Syriza/EL)
als Spitzenmann in den Europawahlkampf. Allerdings kandidierte
Tsipras überhaupt nicht für das Europäische Parlament und machte
schon vor der Wahl keinen Hehl daraus, dass seine eigentliche
Ambition auf nationaler Ebene lag – ein halbes Jahr später wurde
er zum griechischen Ministerpräsidenten gewählt. Seine Rolle als
europäischer Spitzenkandidat beschränkte sich darauf, als
prominente Symbolfigur Aufmerksamkeit für die linken Positionen zu
erzeugen.
Sollte
die EL 2019 eine ähnliche Strategie verfolgen, könnten andere
grenzüberschreitend bekannte Linke zum Zuge kommen: etwa der
Franzose Jean-Luc Mélenchon (PG/EL) oder der Spanier Pablo
Iglesias, dessen nationale Partei Podemos allerdings kein
Mitglied der Europäischen Linken ist. Ein denkbarer Kandidat wäre
schließlich auch Gregor Gysi (Linke/EL), der Ende 2016
Parteichef
der Europäischen Linken wurde. Allerdings wird Gysi 2019
bereits 71 Jahre alt sein.
Die
Senne, die durch Brüssel fließt, ist nur ein kleines Flüsschen –
und trotzdem wird bis zur Europawahl 2019 noch einiges Wasser in ihr
herunterfließen. Wie viele von den hier genannten Politikern dann
tatsächlich an der Spitze ihrer Parteien stehen, wird die Zeit
zeigen. Auf jeden Fall aber lohnt es sich, sie im Auge zu behalten.
Denn die Dynamiken, die die Personalauswahl der europäischen
Parteien bestimmen, prägen letztlich auch die europäische Politik.
Bilder: European Union 2014 - European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr (Juncker); European Union 2014 - European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr (Weber); European People's Party [CC BY 2.0], via Flickr (Katainen); Tomas Piliponis [CC BY 2.0], via Flickr (Grybauskaitė); European Patent Office [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr (Barnier); European Union 2015 - European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr (Timmermans); European Union 2014 - European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr (Pittella); European Union 2012 - European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr (Verhofstadt); European Union 2016 - European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr (Goulard); Kim Vadskaer [CC BY-NC 2.0], via Flickr (Vestager); www.stephan-roehl.de [CC BY-SA 2.0], via Flickr (Keller); Franz Johann Morgenbesser [CC BY-SA 2.0], via Flickr (Lunacek); GUE/NGL [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr (Iglesias).
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