17 Dezember 2018

Peitsche oder Zuckerbrot: Die EU folgt in Polen und Ungarn unterschiedlichen Strategien – und eine ist erfolgreicher als die andere

Während Jarosław Kaczyński in Polen seinen Angriff auf die unabhängige Justiz zuletzt gebremst hat, legt Viktor Orbán in Ungarn noch einen Zahn zu.
Wie umgehen mit den Regierungen von Mitgliedstaaten, die auf nationaler Ebene die gemeinsamen Grundwerte von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten untergraben? Die Europäische Union steht hier vor einem Dilemma: Einerseits versteht sie sich als eine Wertegemeinschaft, in der autoritäre Regime keinen Platz haben können – schon allein, weil die verschiedenen nationalen politischen und rechtlichen Systeme inzwischen so eng miteinander verflochten sind, dass Angriffe auf die Demokratie oder die unabhängige Justiz in einem Mitgliedstaat auch in allen anderen zu spüren sein können.

Andererseits hat die EU jedoch nur ziemlich beschränkte Mittel, um gegen den Demokratieverfall in einzelnen Mitgliedstaaten anzukämpfen. Ihr steht zwar ein gewisses Spektrum an Instrumenten zur Verfügung (siehe auch hier). Doch diese sind oft mit hohen politischen Hürden verbunden, und ihre genaue Wirkung ist meist nur schwer vorauszusagen.

Zwei Strategien: Konfrontation oder Einbindung?

Hinzu kommt, dass die betreffenden autoritären Regierungen in der Regel ja demokratisch gewählt worden sind und deshalb wenigstens zum Zeitpunkt ihres Amtsantritts eine Mehrheit ihrer eigenen nationalen Bevölkerung hinter sich haben. Harte Maßnahmen der EU können in der nationalen Öffentlichkeit deshalb schnell als unzulässige Einmischung von außen und Angriff auf die nationale Souveränität gedeutet werden. Das könnte der autoritären Regierung weiteren Zulauf verschaffen und die bestmögliche Lösung, nämlich die demokratische Abwahl dieser Regierung durch die nationale Bevölkerung, eher erschweren.

Aus dieser Perspektive ist es nicht vollkommen abwegig, statt auf eine harte Konfrontationsstrategie eher auf eine behutsame Eindämmung und Einbindung der autoritären Regierungen zu setzen – in der Hoffnung, dass diese letztlich ja auch an den Vorteilen guter europäischer Beziehungen interessiert sind und sich deshalb durch eine fortgesetzte Zusammenarbeit mäßigen lassen. Doch auch diese Strategie ist mit offensichtlichen Risiken verbunden: Zum einen kann eine zurückhaltende Reaktion der EU die autoritären Regierungen ermutigen, ihren Kurs nun erst recht fortzusetzen. Und zum anderen verlieren die EU-Institutionen ihre eigene Glaubwürdigkeit, wenn sie über Angriffe auf ihre Grundwerte hinwegsehen und die Opfer der autoritären Politik – zivilgesellschaftliche Organisationen, freie Medien, Oppositionsparteien – im Stich lassen.

Eine Art soziales Experiment

Welche Strategie ist also erfolgversprechender? Aus einer rein theoretischen Betrachtung ist diese Frage kaum zu beantworten, und in der Praxis wird im Umgang mit autoritären Regierungen wohl immer ein gewisser taktischer Pragmatismus aus Zuckerbrot und Peitsche zu beobachten sein. Immerhin aber ist es bemerkenswert, dass die Europäische Union in den letzten Monaten – ob beabsichtigt oder nicht – mit ihren zwei wichtigsten Problemregierungen Polen und Ungarn eine Art soziales Experiment durchgeführt hat, in dem sie mal die eine, mal die andere Strategie zur Anwendung brachte.

Eine verhältnismäßig harte Linie legte die EU, genauer: die Europäische Kommission, dabei gegenüber der polnischen Regierung an den Tag. Nachdem deutlich geworden war, dass die Regierungspartei PiS (AKRE) das nationale Justizsystem nach ihren Interessen umzubauen plante, hatte die Kommission Anfang 2016 zunächst ein weitgehend harmloses „Rechtsstaatlichkeitsverfahren“ eingeleitet, das letztlich im Sand verlief.

Harte Gangart in Polen

Ende 2017 verschärfte die Kommission dann aber merklich die Gangart, indem sie ein Verfahren nach Art. 7 Abs. 1 EUV vorschlug. Nach diesem Verfahren kann der Rat mit Vierfünftelmehrheit „feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ der EU-Grundwerte besteht und „Empfehlungen“ an den betreffenden Mitgliedstaat richten. Diese Feststellung allein würde zwar nicht unmittelbar zu konkreten Sanktionen führen; diplomatisch wäre sie für die polnische Regierung aber ein Debakel. (Eine Abstimmung des Rates darüber steht noch aus.)

Parallel zu diesen politischen Maßnahmen schlug die Kommission aber auch noch einen rechtlichen Weg ein, nämlich in Form eines Vertragsverletzungsverfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof. Bereits Ende Dezember 2017 verklagte die Kommission die polnische Regierung wegen verschiedener Maßnahmen zum Umbau des nationalen Justizsystems. Im September 2018 folgte eine weitere Klage wegen eines Gesetzes, mit dem ein Großteil der Richter des polnischen Obersten Gerichts zwangsweise in den Ruhestand versetzt werden sollte.

Der EuGH wiederum zeigte sich für diese Klagen durchaus offen. Schon in der ersten Jahreshälfte machte er in zwei wegweisenden Urteilen deutlich, dass er die europarechtliche Garantie einer unabhängigen nationalen Justiz durchaus als Teil seiner eigenen Zuständigkeit sieht (siehe hier und hier). Im Oktober stoppte er die Zwangspensionierung der polnischen Richter per einstweiliger Anordnung.

Die PiS-Regierung gibt teilweise nach

Und das Resultat? Wenigstens soweit bis jetzt zu erkennen ist, scheint die harte Linie der Kommission auf die polnische Regierung durchaus Eindruck zu machen. Zwar wehrte sie sich gegen das absehbare Urteil des EuGH zunächst mit allen Mitteln – bis hin zu einem Verfahren vor dem nationalen Verfassungsgericht, das bereits 2016 auf Regierungslinie gebracht wurde und nun unter Verweis auf die polnische Souveränität bestimmte EuGH-Vorlagen untersagen könnte. Die Folge könnte ein „Krieg der Gerichte“ sein, der das europäische Justizsystem insgesamt bedroht.

Ende November allerdings gab die polnische Regierung wenigstens teilweise nach und nahm die vom EuGH kritisierte Zwangspensionierung der polnischen Richter wieder zurück. Sie reagierte damit auch auf den Druck ihrer eigenen nationalen Öffentlichkeit, in der Warnungen der Opposition, dass der Kurs der Regierung letztlich auf einen polnischen EU-Austritt hinauslaufe, einigen Widerhall gefunden hatten. Auch wenn die Gefahr für den polnischen Rechtsstaat noch längst nicht vorüber ist – die polnische Regierung hat bislang nur in einer Teilfrage eingelenkt und verteidigt weiterhin den Kern ihrer Justizreform –, hat die Kommission hier mithilfe des EuGH zweifellos einen wertvollen Teilerfolg errungen.

Zurückhaltung in Ungarn

Ganz anders die Lage in Ungarn. Seit der Regierungsübernahme von Viktor Orbán (Fidesz/EVP) verschlechtert sich der Zustand von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hier rapide; im Freedom-House-Index hat das Land den schlechtesten Wert aller EU-Mitgliedstaaten. Dennoch geht die Kommission gegen die ungarische Regierung bislang deutlich zurückhaltender vor als gegen die polnische.

Zwar strengte sie auch gegen bestimmte ungarische Gesetze Vertragsverletzungsverfahren an, insbesondere gegen das sogenannte NGO-Gesetz, das ungarischen Nichtregierungsorganisationen die Annahme von ausländischen Spenden erschwert, und gegen das Hochschulgesetz, das die Tätigkeit von Universitäten mit außereuropäischem Hauptsitz einschränkt und sich de facto allein gegen die Central European University in Budapest richtet. In beiden Fällen steht das Urteil noch aus.

Diese Verfahren betreffen jedoch jeweils nur bestimmte (wenn auch wichtige) Bereiche der ungarischen Zivilgesellschaft. Umfassende Maßnahmen gegen den grundsätzlichen Verfall von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Ungarn hat die Kommission bislang nicht ergriffen – obwohl die Lage hier der Situation in Polen keineswegs unähnlich ist. Stattdessen war es das Europäische Parlament, das im September 2018 mit dem sogenannten Sargentini-Bericht ein Art.-7-Abs.-1-Verfahren gegen die ungarische Regierung einleitete.

Die Kommission hat zu lange gezögert

Als Grund für diese Zurückhaltung der Kommission gegenüber Ungarn lassen sich vor allem zwei Faktoren ausmachen. Zum einen ist die ungarische Fidesz-Regierung bereits seit 2010 im Amt und ging beim Abbau der nationalen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geschickter und weniger überstürzt vor als die polnische PiS. Während die polnische Regierung bei der Entmachtung der Justiz recht offensichtlich auch gegen nationales Verfassungsrecht verstieß, verabschiedete die Fidesz zu diesem Zweck mithilfe ihrer parlamentarischen Zweidrittelmehrheit 2011 eine ganz eigene, neue Verfassung, gegen die mit nationalen Rechtsmitteln nicht mehr anzukommen war.

Und obwohl es von Anfang an nicht an Warnungen vor diesen Entwicklungen mangelte (unter anderem auch auf diesem Blog, etwa hier und hier), zögerte die Kommission, drastische Gegenmaßnahmen zu ergreifen – offenbar in der vergeblichen Hoffnung, dass Ungarn ein Einzelfall bleiben und sich beizeiten von selbst lösen würde. Inzwischen sind die neue ungarische Verfassung und zahlreiche darauf aufbauende Gesetze nun schon so lange in Kraft, sodass sie anders als die polnische Justizreform nur schwer wieder rückgängig zu machen sein werden.

Brückenbauen“ in der EVP

Zum anderen spielen bei der unterschiedlichen Behandlung der polnischen und der ungarischen Regierung offenkundig auch parteipolitische Überlegungen eine Rolle. So gehört die polnische PiS auf europäischer Ebene der Allianz der Konservativen und Reformer für Europa (AKRE) an, in der ansonsten außer einigen kleineren nationalkonservativen Parteien vor allem die britischen Tories Mitglied sind: kaum die Partner, die einem in den EU-Institutionen starken Beistand leisten können.

Die Fidesz hingegen ist Mitglied der Europäischen Volkspartei (EVP), die die großen christdemokratischen und konservativen Parteien der EU vereint und in allen wichtigen EU-Institutionen die stärkste Parteiengruppe stellt. Tatsächlich hat sich die EVP in der Vergangenheit immer wieder schützend vor die Fidesz gestellt – wobei ihr Europawahl-Spitzenkandidat Manfred Weber (CSU/EVP) ausdrücklich auf die Notwendigkeit von „Dialog“ und „Brückenbauen“ verweist, um die ungarische Regierung auf dem Boden der europäischen Grundwerte zu halten.

Und auch wenn die EVP dem Sargentini-Bericht mehrheitlich zugestimmt hat, hat Parteichef Joseph Daul einen Ausschluss der Fidesz Ende September noch einmal ausdrücklich ausgeschlossen. Solange Orbán in die EVP eingebunden bleibe, so ist häufig zu hören, sei er von europafreundlichen Kräften leichter zu beeinflussen, als wenn er in ein neues Bündnis mit anderen Rechtsaußenparteien getrieben würde.

Die Fidesz setzt den Demokratieabbau fort

Inwieweit diese Argumente ernst gemeint oder lediglich ein Vorwand sind, um das machttaktische Interesse der EVP an einer Zusammenarbeit mit der Fidesz zu verschleiern (immerhin kommt diese als einzige Mitgliedspartei auf nationale Umfragewerte von über 50 Prozent), sei an dieser Stelle dahingestellt. In der Praxis aber geht die Strategie offensichtlich nicht auf, wie allein ein Blick auf die Nachrichten der letzten Wochen zeigt: Obwohl Manfred Weber den Erhalt der Central European University noch vor wenigen Monaten als eine „rote Linie“ bezeichnet hatte, die Orbán nicht übertreten dürfe, gab die Universität Anfang Dezember ihre erzwungene Übersiedlung nach Wien bekanntohne dass die EVP Konsequenzen zog.

Langfristig womöglich noch bedeutungsvoller ist eine Mitte Dezember beschlossene Justizreform, mit der ein neues Höchstgericht für Verwaltungsangelegenheiten eingeführt wird, das ab 2020 für einen breiten Fächer von Rechtsbereichen zuständig sein soll. Die Kompetenzen dieses neuen Verwaltungsgerichts reichen von Steuerstreitigkeiten über Korruptionsfälle, das Polizeirecht und den Datenschutz bis hin zur Kontrolle politischer Wahlen – und die Aufsicht darüber, etwa die Ernennung der Richter sowie die Entscheidung über Disziplinarverfahren gegen sie, liegt beim nationalen Justizminister, der damit eine offensichtliche Möglichkeit zur politischen Einflussnahme erhält.

Zurückhaltung ist die falsche Strategie

Während die polnische Regierung bei ihrem Angriff auf die unabhängige Justiz in den letzten Wochen also wenigstens etwas aus dem Tritt gebracht wurde, setzt die ungarische ihren Weg in die „illiberale Demokratie“ unverdrossen weiter fort.

Nun sollte man diesen Gegensatz nicht zu scharf ziehen: Auch in Polen ist es für eine Entwarnung viel zu früh und eine weitere Verschlechterung der Dinge jederzeit möglich. Zudem sind die Unterschiede zwischen den beiden Ländern auch sicher nicht allein der Strategie der EU-Institutionen im Umgang mit ihnen geschuldet. Im Vergleich zu Ungarn hat Polen auch eine deutlich stärkere demokratische Opposition und eine besser organisierte Zivilgesellschaft. Eine eigene Rolle spielt zudem der polnische Staatspräsident Andrzej Duda, der zwar der PiS entstammt, sich jedoch in den letzten Jahren immer wieder auch gegen wichtige Vorhaben der Regierung stellte. Mit derartigen Hindernissen hatte die ungarische Fidesz-Regierung bisher nicht zu kämpfen.

Dennoch macht der Vergleich zwischen den beiden Ländern deutlich, dass Zurückhaltung gegenüber autoritären Regierungen in ihren Mitgliedstaaten für die Europäische Union nicht die richtige Strategie ist. Wenn es jemals eine ernsthafte Hoffnung gab, dass sich Viktor Orbán durch gutes Zureden würde bremsen lassen, hat sie sich im Lauf der letzten sieben Jahre unzweifelhaft als Illusion erwiesen. Die europäischen Institutionen – und besonders die Europäische Volkspartei und ihr Spitzenkandidat Manfred Weber – müssen daraus die Konsequenzen ziehen.

Bild: eigene Bearbeitung, Original: W. Kompała / KPRM [Public domain], via Flickr.

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