27 März 2024

Die Median-Europawahl-Spitzenkandidat:in 2024 ist Europaabgeordnete:r, männlich und deutsch

Von Manuel Müller
Ursula von der Leyen und Nicolas Schmit
Spitzenkandidatenduell 2024: Kommission gegen Kommission, Frau gegen Mann – und wieder einmal Deutschland gegen Luxemburg.

Die Vorwahl-Saison der Europawahl 2024 ist vorüber: Die europäischen Parteien (mit Ausnahme der EKR) haben ihre Wahlparteitage abgehalten, ihre Programme verabschiedet und ihre Spitzenkandidat:innen aufgestellt. Schon bevor in Kürze der Wahlkampf so richtig beginnt, lassen sich damit ein paar erste Beobachtungen zum Stand der europäischen Demokratie festhalten.

Vielleicht die wichtigste davon: Das vor fünf Jahren bereits totgesagte Spitzenkandidatenverfahren ist nach wie vor quicklebendig. 2024 haben so viele europäische Parteien und Fraktionen wie noch nie Kandidat:innen aufgestellt. Die konservative EVP, die sozialdemokratische SPE, Grüne und Linke sind natürlich wieder dabei, ebenso kleinere Parteien wie die Pirat:innen, die regionalistische EFA oder die christliche ECPB. Auch die liberale Renew-Fraktion, aus der immer wieder Zweifel an dem Verfahren geäußert wurden, hat letztlich ein Spitzenteam mit drei Kandidat:innen aufgestellt. Und sogar die rechtsextreme ID-Fraktion will in diesem Jahr nicht darauf verzichten, ihrem Wahlkampf ein Gesicht zu geben – obwohl sie Wert darauf legt, dass ihr Kandidat nicht für das Amt der Kommissionspräsident:in antritt, da dessen Besetzung aus ihrer Sicht nicht den europäischen Wähler:innen, sondern allein der nationalen Regierungschef:innen obliegt.

Aber wer sind nun die neuen Spitzenkandidat:innen? Wo wurden sie politisch sozialisiert, in welchen Institutionen haben sie Karriere gemacht? Und wie verteilen sie sich nach Geschlecht und nationaler Herkunft?

Karrierewege 2014: Viele Europaabgeordnete bewerben sich

Schon bei der Europawahl 2014, als die Parteien zum ersten Mal Kandidat:innen für die Kommissionspräsidentschaft aufstellten, war bei den Nominierungen ein interessantes Muster zu beobachten. Während alle Kommissionspräsidenten seit den 1970er Jahren zuvor ein wichtiges nationales Regierungsamt bekleidet hatten, bewarben sich um die Spitzenkandidatur vor allem Politiker:innen, die ihre Karriere im Europäischen Parlament gemacht hatten: etwa der sozialdemokratische Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD/SPE), die grünen Europaabgeordneten Ska Keller (Grüne/EGP) und José Bové (EELV/EGP) oder der liberale Fraktionschef Guy Verhofstadt (Open-VLD/ALDE), der allerdings zuvor auch belgischer Premierminister gewesen war.

Die große Ausnahme war der EVP-Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker (CSV/EVP), der viele Jahre luxemburgischer Premierminister gewesen war, ehe er im Herbst 2013 eine nationale Wahl verloren hatte. Ausgerechnet Juncker war allerdings der erfolgreichste unter den europäischen Bewerber:innen: 2014 setzte er sich erst bei der EVP-internen Vorwahl gegen den damaligen Binnenmarktkommissar Michel Barnier (LR/EVP) durch und gewann dann auch die Europawahl und die Kommissionspräsidentschaft.

2019: Weber scheitert auch an fehlender Regierungserfahrung

Dennoch entstammten auch bei der Europawahl 2019 wieder alle wichtigen Kandidat:innen den EU-Institutionen: Im Duell der Großen trat EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU/EVP) auf Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans (PvdA/SPE), und auch die kleineren Parteien schickten großteils Europaabgeordnete (Ska Keller und Bas Eickhout für die Grünen, Jan Zahradil für die EKR) oder Kommissionsmitglieder (Margrethe Vestager als bekanntestes Gesicht des ALDE-Spitzenteams) ins Rennen.

Nationale Regierungserfahrung hatte kaum jemand von ihnen; insbesondere Weber war niemals Mitglied irgendeines Exekutivorgans gewesen. Einige Länderchef:innen im Europäischen Rat nahmen dies nach der Wahl auch als Argument, um ihn als Kommissionspräsidenten abzulehnen und stattdessen Ursula von der Leyen (CDU/EVP) zu nominieren – eine nationale Ministerin, deren prägendste europapolitische Erfahrung bis dahin darin bestand, als Tochter eines EG-Beamten in Brüssel aufgewachsen zu sein.

2024: Kommissionsmitglieder, Abgeordnete und Außenseiter:innen

Institutionelle Herkunft der Spitzenkandidat:innen

2024 bestätigt sich das Muster nun erneut: Als Spitzenkandidat:innen der europäischen Parteien bewerben sich vor allem Mitglieder der supranationalen EU-Institutionen, also der Kommission und des Europäischen Parlaments. Blickt man noch etwas genauer hin, ist dabei eine interessante Dreiteilung zu erkennen:

  • Die beiden größten Parteien, die als Einzige realistische Chancen auf einen Wahlsieg haben, setzen beide auf Mitglieder der Europäischen Kommission: Die amtierende Präsidentin von der Leyen wird von ihrem Arbeitskommissar Nicolas Schmit (LSAP/SPE) herausgefordert. Sowohl von der Leyen als auch Schmit besitzen lange Exekutiverfahrung sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene.
  • In den kleineren Parteien stellt die Spitzenkandidatur hingegen vor allem eine Gelegenheit dar, sich für eine wichtige Rolle im Parlament zu profilieren. Entsprechend treten hier hauptsächlich Abgeordnete an – für die Grünen Terry Reintke (Grüne/EGP) und Bas Eickhout (GroenLinks/EGP) an, für die ID Anders Vistisen (DF/–), für die europäische Piratenpartei Marcel Kolaja (Piráti/PPEU). Das Spitzentrio der europäischen Liberalen besteht aus den zwei Europaabgeordneten Valérie Hayer (RE/–) und Sandro Gozi (IV/EDP) sowie der deutschen Bundestagsabgeordneten Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP/ALDE), die allerdings nach der Wahl ins Europäische Parlament wechseln wird. Regierungserfahrung hat unter ihnen nur Gozi, der früher italienischer Europa-Staatssekretär war.
  • Die übrigen Spitzenkandidat:innen wiederum haben derzeit keine relevanten Wahlämter inne: Für die Europäische Linke (Walter Baier, KPÖ/EL) und die Europäische Christliche Politische Bewegung (Valeriu Ghilețchi, –/ECPB) treten die jeweiligen Parteichefs an. Die regionalistische EFA nominierte Maylis Roßberg (SSW/EFA, Fraktionsmitarbeiterin im Schleswig-Holsteiner Landtag) und Raül Romeva (ERC/EFA, ehemaliger Europaabgeordneter und katalanischer Minister). Die zweite Spitzenkandidatin der europäischen Piratenpartei, Anja Hirschel (Piraten/PPEU), ist Stadträtin in Ulm. Gemeinsam ist ihnen allen, dass ihre Chancen, bei der Wahl einen Sitz zu gewinnen, sehr gering sind; Romeva kann aufgrund eines Gerichtsurteils wegen Aufruhrs und Veruntreuung überhaupt nicht gewählt werden. Spitzenkandidat:in zu sein ist für sie deshalb hauptsächlich eine Chance auf mediale Aufmerksamkeit.

Nationale Regierungspolitiker:innen gibt es unter den Spitzenkandidat:innen hingegen auch in diesem Jahr nicht. Insbesondere bei SPE und Liberalen winkten verschiedene prominente (Ex-)Regierungschef:innen ab – etwa Sanna Marin (SDP/SPE) aus Finnland, Pedro Sánchez (PSOE/SPE) aus Spanien und Kaja Kallas (RE/ALDE) aus Estland. Von den nationalen Hauptstädten in die Brüsseler Parteien ist offenbar noch immer ein allzu weiter Weg.

Erste weibliche Einzel-Spitzenkandidatin

Geschlechterverteilung der Spitzenkandidat:innen

Was die Ausgewogenheit der Geschlechter betrifft, zeigte sich bei den Spitzenkandidat:innen hingegen eine gewisse Entwicklung. 2014 und 2019 bewarben sich bei EVP und SPE jeweils nur Männer um die Kommissionspräsidentschaft. Und auch unter den kleineren Parteien gab es keine, die eine Frau allein nach vorne stellte: 2014 nominierten die Grünen und die Pirat:innen, 2019 die Grünen und die Linke jeweils eine gemischte Doppelspitze; die Liberalen traten 2019 mit einem Team aus fünf Frauen und zwei Männern an.

Diese männliche Dominanz wirkte sich 2019 durchaus zum Schaden der Spitzenkandidat:innen aus: Als der Europäische Rat von der Leyen als Gegenkandidatin nominierte, sahen verschiedene progressive Parteien das nicht nur als Affront gegen das Spitzenkandidatenprinzip, sondern auch als historische Chance zur Wahl der ersten weiblichen Kommissionspräsidentin.

2024 ist von der Leyen nun auch die erste weibliche Einzel-Spitzenkandidatin. Aber auch sonst hat sich die Frauenquote etwas erhöht: Mit Grünen, EFA und Piratenpartei treten diesmal gleich drei Parteien mit gemischter Doppelspitze an, zudem hat die RE-Fraktion diesmal ein Team aus zwei Frauen und einem Mann. Männliche Einzel-Spitzenkandidaten haben SPE, Linke, ECPB und ID.

Nationale Ungleichverteilung

Europakarte mit Herkunftsverteilung der Spitzenkandidat:innen

Während es beim Verhältnis der Geschlechter also langsam vorangeht, ist die Verteilung nach regionaler Herkunft weiterhin erschreckend unausgewogen. Besonders frappierend zeigt sich das bei EVP und SPE: Bereits zum dritten Mal in Folge stehen sich im Spitzenduell der beiden größten Parteien eine Kandidat:in aus Deutschland (Schulz, Weber, von der Leyen) und eine aus einem Benelux-Land (Juncker, Timmermans, Schmit) gegenüber.

Aber auch bei den kleineren Parteien zeigt sich ein ähnliches Muster. Insgesamt treten bei der Europawahl 2024 an:

  • fünf Spitzenkandidat:innen aus Deutschland (von der Leyen, Strack-Zimmermann, Reintke, Roßberg, Hirschel),
  • vier Spitzenkandidat:innen aus einem der fünf anderen EG-Gründerstaaten (Schmit, Hayer, Gozi, Eickhout),
  • drei Spitzenkandidat:innen aus einem der acht anderen „alten“, d. h. vor 2004 beigetretenen Mitgliedstaaten (Romeva, Baier, Vistisen)
  • zwei Spitzenkandidat:innen aus einem der dreizehn „neuen“, seit 2004 beigetretenen Mitgliedstaaten (Kolaja, Ghilețchi).

Dieses Verhältnis von 5:4:3:2 ist noch etwas unausgewogener als 2014 (2:3:3:0) und 2019 (3:5:3:4, ohne das liberale Team: 2:3:1:2). Die oft gehörte Behauptung, das europäische Spitzenkandidatenverfahren sei eine „deutsche Erfindung“, ist zwar offenkundig Unsinn – ähnliche Verfahren gibt es auf nationaler Ebene fast überall in Europa. Richtig ist aber, dass es unter den Kandidat:innen selbst ein nationales Ungleichgewicht gibt und Bewerber:innen aus Deutschland und anderen EG-Gründungsstaaten sehr viel öfter zum Zuge kommen als solche aus den ostmitteleuropäischen Ländern.

Größe ist wichtig, transnationale Vernetzung noch wichtiger

Diese Unausgewogenheit hat unterschiedliche Gründe. So gibt es bei der Europawahl in Deutschland natürlich besonders viele Sitze zu holen, sodass es den europäischen Parteien wichtig ist, dort sichtbar zu sein. Zugleich sind innerhalb der europäischen Parteien und Fraktionen die deutschen Delegationen regelmäßig besonders stark, was deutschen Bewerber:innen einen zusätzlichen Vorteil verschafft.

Der auffällige Erfolg von Benelux-Kandidat:innen zeigt allerdings, dass es nicht auf die Größe allein ankommt. Ein weiterer wichtiger Faktor dürfte sein, dass die Idee einer europäischen (Parteien-)Demokratie in den westeuropäischen Ländern eine längere Tradition hat. Zudem reagierte die Öffentlichkeit hier von Anfang an mit etwas höherem Interesse auf die Spitzenkandidat:innen: So fanden im deutschen Fernsehen zusätzlich zu den europaweiten Spitzenkandidatendebatten 2014 und 2019 noch eigene, deutschsprachige Duelle zwischen Juncker und Schulz bzw. Weber und Timmermans statt.

Infolgedessen scheint es in den alten Mitgliedstaaten auch unter Politiker:innen ein stärkeres Bewusstsein zu geben, wie man durch transnationale Parteipolitik die eigene Karriere fördern kann. Wie oben bereits angesprochen, hatten sowohl die europäischen Sozialdemokrat:innen als auch die Liberalen in den letzten Monaten einige Nöte, geeignete Kandidat:innen zu finden – bis am Ende wieder ein Luxemburger (Schmit) und eine Deutsche (Strack-Zimmermann) zugriffen. Beide waren vorher durchaus nicht als europapolitische Schwergewichte bekannt gewesen. Doch während andere potenzielle Bewerber:innen abwinkten, ergriffen sie die Chance, die sich ihnen mit der Spitzenkandidatur bot.

Es droht eine geografische Spaltung der EU

Dass diese geografische Unausgewogenheit auf die Dauer zu Problemen führt, liegt auf der Hand. Schon bei den letzten Europawahlen hat sich gezeigt, dass die EU-Spitzenkandidat:innen in ihrem jeweils eigenen Land den größten Einfluss auf die öffentliche Debatte (und das Wahlergebnis) hatten.

Im schlimmsten Fall droht sich die EU beim Umgang mit den europäischen Parteien und Spitzenkandidat:innen in zwei Sphären auseinanderzuentwickeln: mit einer Aufwärtsspirale aus größerem Engagement einzelner Politiker:innen, wachsender medialer Aufmerksamkeit und öffentlicher Legitimität der europäischen Parteien in Deutschland und den anderen „alten“ Mitgliedstaaten – und einer Abwärtsspirale aus ausbleibendem Interesse, fehlender Identifikation, einem Gefühl der Benachteiligung und einer Konzentration auf intergouvernementale Verfahren und vom Europäischen Rat zu vergebende Posten in den „neuen“ Ländern.

Für die Zukunft ist es deshalb dringend nötig, dass sich die europäischen Parteien stärker transnationalisieren und insbesondere ihre ostmitteleuropäischen Mitgliedsparteien besser einbinden – nicht zuletzt mit dem Ziel, dass sich Politiker:innen aus den „neuen“ Mitgliedstaaten auch selbst stärker einbringen und europäische Parteipolitik als Chance zur individuellen Profilierung erkennen.

Auf in den Wahlkampf!

Erst einmal aber gilt es für die nun nominierten Spitzenkandidat:innen, sich im Wahlkampf zu präsentieren, ihre unterschiedlichen Positionen darzulegen und der Öffentlichkeit zu zeigen, was bei dieser der Wahlentscheidung auf dem Spiel steht. Die Ausgangsbedingungen dafür sind besser als in der Vergangenheit: Umfragen in mehreren Ländern (siehe etwa hier, hier und hier) weisen auf ein erhöhtes öffentliches Interesse an der Europawahl hin.

Ein voller Erfolg für die europäische Demokratie wird der Wahlkampf jedoch nur, wenn es gelingt, dieses Interesse auch in Aufmerksamkeit für die europäischen Schlüsselthemen und Spitzenpolitiker:innen zu überführen. Am 29. April findet in Maastricht die erste Spitzenkandidatendebatte an, die europaweit auch im Webstream zu sehen sein wird.


Update, 8. April 2024: Nach Veröffentlichung dieses Artikels nominierte auch Volt Europa noch ein Spitzenkandidatenduo zur Europawahl: Damian Boeselager aus Deutschland und Sophie in ’t Veld aus den Niederlanden, beide derzeit Mitglieder des Europäischen Parlaments.


Bilder: Schmit und von der Leyen: EC Audiovisual Service 2022, photographer: Dati Bendo [Commission reuse policy], via European Commission; Grafiken: Manuel Müller, basierend auf: Mann/Frau-Icon: VectorPortal, Europakarte: d-maps.com [Lizenz].
Korrekturhinweis, 24.4.: In einer früheren Fassung dieses Beitrags hieß es, der ECPB-Spitzenkandidat Valeriu Ghilețchi habe nur die moldauische Staatsbürgerschaft. Tatsächlich ist Ghilețchi sowohl moldauischer als auch rumänischer Staatsbürger und hat damit auch die Unionsbürgerschaft. Der Fehler wurde im gesamten Beitrag korrigiert.

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